Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pelant, die Hofräte Dr. Mayr, Dr. Schwarz und Mag. Berger sowie Hofrätin MMag. Ginthör als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. a Thaler, über die Revision 1. der M D (protokolliert zu hg. Ra 2020/22/0174), und 2. der S D (protokolliert zu hg. Ra 2020/22/0175), beide vertreten durch Urbanek Rudolph Rechtsanwälte in 3100 St. Pölten, Europaplatz 7, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 16. Juli 2020, Zlen. 1. W232 1435236 2/5E und 2. W232 2232374 1/5E, betreffend Aufenthaltstitel nach § 55 AsylG 2005 sowie Rückkehrentscheidung samt Nebenaussprüchen (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat der Erstrevisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
1 Die Erstrevisionswerberin, Mutter der Zweitrevisionswerberin (beide sind Staatsangehörige der Russischen Föderation), stellte am 14. Mai 2012 einen Antrag auf internationalen Schutz. Mit rechtskräftigem Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (belangte Behörde) vom 31. August 2015 wurde dieser Antrag abgewiesen. Unter einem wurde ausgesprochen, dass die Erlassung einer Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig sei, und der Erstrevisionswerberin wurde ein Aufenthaltstitel gemäß § 55 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) zuerkannt. In der Folge wurde der Erstrevisionswerberin zunächst eine Niederlassungsbewilligung nach dem Niederlassungs und Aufenthaltsgesetz (NAG) und sodann ein Aufenthaltstitel „Rot Weiß Rot Karte plus“ mit einer Gültigkeit bis zum 13. April 2018 erteilt.
2 Im Jänner 2018 reiste die Erstrevisionswerberin aus dem Bundesgebiet aus und in weiterer Folge im Dezember 2019 wieder nach Österreich ein.
3 Die Erstrevisionswerberin stellte für sich am 18. Dezember 2019 und nach der Geburt ihrer Tochter (der Zweitrevisionswerberin) am 10. Februar 2020 für die Zweitrevisionswerberin am 11. März 2020 die gegenständlichen Anträge auf Erteilung von Aufenthaltstiteln aus Gründen des Art. 8 EMRK gemäß § 55 AsylG 2005.
4 Die belangte Behörde wies diese Anträge mit Bescheiden vom 25. März 2020 und 26. März 2020 ab, erließ gegen die Revisionswerberinnen gemäß § 10 Abs. 3 AsylG 2005 in Verbindung mit § 9 BFA Verfahrensgesetz (BFA VG) Rückkehrentscheidungen nach § 52 Abs. 3 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG), stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass „Ihre Abschiebung gemäß § 46 FPG nach zulässig“ sei, und legte gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG eine Frist für die freiwillige Ausreise von 14 Tagen fest.
5 Mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 16. Juli 2020 wies das Bundesverwaltungsgericht die dagegen erhobenen Beschwerden der Revisionswerberinnen ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab und sprach aus, dass die ordentliche Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG unzulässig sei.
6 Das Verwaltungsgericht stellte im Wesentlichen fest, die Erstrevisionswerberin habe während ihres Aufenthaltes in der Russischen Föderation von Jänner 2018 bis Dezember 2019 einen russischen Staatsangehörigen geheiratet und mit diesem ein Familienleben begründet. Zu dem (nunmehr) in Polen aufhältigen Ehemann der Erstrevisionswerberin und Vater der Zweitrevisionswerberin bestehe derzeit kein Kontakt. Im Herkunftsland der Revisionswerberinnen lebten nach wie vor die Großmutter, der Vater und weitere Verwandte der Erstrevisionswerberin. Die Erstrevisionswerberin habe bis zu ihrer Ausreise in Russland die Schule besucht und anschließend die Hauptschule in Österreich abgeschlossen. Sie spreche Deutsch und lebe gemeinsam mit der Zweitrevisionswerberin bei ihrer Mutter. Drei Geschwister der Erstrevisionswerberin hielten sich ebenfalls im Bundesgebiet auf. Ob das von der Erstrevisionswerberin erstattete Vorbringen, wonach sie von ihrem Vater in Tschetschenien festgehalten worden sei, den Tatsachen entspreche, könne dahingestellt bleiben.
7 Im Rahmen seiner rechtlichen Beurteilung führte das Verwaltungsgericht aus, die Revisionswerberinnen lebten zwar (wie die Erstrevisionswerberin bereits vor ihrer Ausreise im Jahr 2018) im gemeinsamen Haushalt mit der Mutter der Erstrevisionswerberin und erhielten von dieser auch finanzielle Unterstützung. Die Erstrevisionswerberin sei jedoch im Jahr 2018 freiwillig in ihr Herkunftsland gereist und habe sich dadurch von ihrer in Österreich lebenden Familie getrennt. Dabei habe sie wieder starke Bindungen zu ihrem Herkunftsstaat und ein Familienleben in Tschetschenien aufgebaut. Da die Erstrevisionswerberin auch über Verwandte in der Russischen Föderation verfüge, relativiere sich ihr Abhängigkeitsverhältnis bzw. ein besonderes Naheverhältnis zu ihrer Mutter und ihren Geschwistern. Der gemeinsame Wohnsitz bestehe erst seit einigen Monaten wieder und sei zudem im Bewusstsein ihres unsicheren Aufenthaltsstatus begründet worden. Die Erstrevisionswerberin beherrsche die deutsche Sprache und habe in Österreich den Hauptschulabschluss gemacht. Sie sei zwar bis zu ihrer Ausreise in die Russische Föderation etwa fünf Jahre im Bundesgebiet aufhältig gewesen, seit ihrer neuerlichen Einreise aber erst sieben Monate lang unrechtmäßig in Österreich. Während dieses siebenmonatigen Aufenthalts sei sie nicht erwerbstätig gewesen und verfüge über wenige soziale Kontakte. Die Zweitrevisionswerberin sei zwar in Österreich geboren, eine Ansiedlung in der Russischen Föderation widerspreche aber aufgrund ihres anpassungsfähigen Alters und des weiteren Zusammenlebens mit ihrer Mutter nicht dem Kindeswohl. Im Ergebnis würden die für die aufenthaltsbeendenden Maßnahmen sprechenden öffentlichen Interessen schwerer wiegen als die privaten Interessen der Revisionswerberinnen, sodass die Erlassung einer Rückkehrentscheidung keine Verletzung des Art. 8 EMRK darstelle.
8 Eine mündliche Verhandlung habe unterbleiben können, weil aus dem Inhalt der Verfahrensakten die Grundlage der bekämpften Bescheide unzweifelhaft nachvollziehbar sei. Zudem seien die sachverhaltsbezogenen Beschwerdeausführungen der Entscheidung „(hypothetisch)“ zugrunde gelegt worden. Auch bei einem positiven Eindruck von der Erstrevisionswerberin in einer mündlichen Verhandlung wäre keine andere Entscheidung denkbar gewesen. Der maßgebliche Sachverhalt sei daher im Sinn des § 21 Abs. 7 BFA VG aus der Aktenlage als geklärt anzusehen.
9 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision.
10 Eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
11 Zur Zulässigkeit bringen die Revisionswerberinnen ua. vor, das Verwaltungsgericht habe in Abweichung von näher zitierter Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung abgesehen, obwohl eine mündliche Verhandlung beantragt worden sei. Die Revision ist im Hinblick auf dieses Vorbringen zulässig und auch berechtigt.
12 Gemäß § 21 Abs. 7 BFA VG kann eine mündliche Verhandlung unterbleiben, wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint oder sich aus den bisherigen Ermittlungen zweifelsfrei ergibt, dass das Vorbringen nicht den Tatsachen entspricht (vgl. zu den Kriterien für die Abstandnahme von der Durchführung einer Verhandlung grundlegend VwGH 28.5.2014, Ra 2014/20/0017 und 0018).
13 Der Verwaltungsgerichtshof betont in seiner ständigen Rechtsprechung im Zusammenhang mit den Voraussetzungen für ein Absehen von einer mündlichen Verhandlung nach § 21 Abs. 7 BFA VG, dass die Frage der Intensität der privaten und familiären Bindungen in Österreich nicht auf die bloße Beurteilung von Rechtsfragen reduziert werden kann, sondern der Verschaffung eines persönlichen Eindrucks in Bezug auf die für die Abwägung nach Art. 8 EMRK relevanten Umstände besondere Bedeutung zukommt (vgl. VwGH 17.6.2019, Ra 2018/22/0195, Rn. 9, mwN). Nur in eindeutigen Fällen, in denen bei Berücksichtigung aller zugunsten des Fremden sprechenden Fakten auch dann für ihn kein günstigeres Ergebnis zu erwarten ist, wenn sich das Verwaltungsgericht von ihm einen (positiven) persönlichen Eindruck verschafft, kann eine Verhandlung unterbleiben (vgl. VwGH 24.10.2019, Ra 2019/21/0267, Rn. 7, mwN).
14 Ob außerhalb des Bereiches des insbesondere zwischen Ehegatten und ihren minderjährigen Kindern ipso iure zu bejahenden Familienlebens im Sinn des Art. 8 EMRK ein Familienleben vorliegt, hängt nach der Rechtsprechung des EGMR jeweils von den konkreten Umständen ab, wobei für die Prüfung einer hinreichend stark ausgeprägten persönlichen Nahebeziehung gegebenenfalls auch die Intensität und Dauer des Zusammenlebens von Bedeutung sind. Familiäre Beziehungen unter Erwachsenen fallen dann unter den Schutz des Art. 8 Abs. 1 EMRK, wenn zusätzliche Merkmale der Abhängigkeit hinzutreten, die über die üblichen Bindungen hinausgehen (vgl. VwGH 7.6.2021, Ra 2020/18/0391, Rn. 23, mwN).
15 Die Erstrevisionswerberin verwies in ihrer Beschwerde auf eine Abhängigkeit von ihrer Mutter, von der sie finanziell und bei der Betreuung der Zweitrevisionswerberin unterstützt werde, und beantragte in diesem Zusammenhang auch die Einvernahme ihrer Mutter als Zeugin. Das Verwaltungsgericht erachtete das (offenbar dem Grunde nach als bestehend angesehene) Abhängigkeitsverhältnis bzw. ein besonderes Naheverhältnis zwischen der Erstrevisionswerberin und ihrer Mutter dadurch als relativiert, dass sich die Erstrevisionswerberin von ihren in Österreich aufhältigen Familienangehörigen im Jänner 2018 freiwillig getrennt, wieder starke Bindungen zu ihrem Herkunftsstaat aufgebaut, dort einen russischen Staatsangehörigen geheiratet und ein Familienleben begründet habe. Das Verwaltungsgericht ging aber nicht auf das in der Beschwerde erstattete Vorbringen der Erstrevisionswerberin ein, wonach sie von ihrer Großmutter unter Vortäuschung einer schweren Erkrankung ihres Vaters nach Tschetschenien gelockt und in der Folge dort von ihrem Vater festgehalten worden sei, weshalb sie erst im Dezember 2019 (nach ihrer Heirat sowie mehreren auf Grund einer Fehlgeburt notwendigen Krankenhausaufenthalten) wieder nach Österreich habe einreisen können (womit die Freiwilligkeit der langen Trennung der Erstrevisionswerberin von ihren in Österreich aufhältigen Familienangehörigen bestritten wurde). Jedenfalls ausgehend davon hätte es aber der Klärung der tatsächlichen Verhältnisse im Rahmen einer mündlichen Verhandlung bedurft (vgl. ebenfalls im Zusammenhang mit der Beziehung zwischen erwachsenen Familienangehörigen VwGH 20.12.2018, Ra 2018/21/0033, Rn. 21). Es ist für den Verwaltungsgerichtshof auch nicht nachvollziehbar, wenn das Verwaltungsgericht festhält, es habe die sachverhaltsbezogenen Beschwerdeausführungen der Entscheidung zugrunde gelegt. Schließlich findet sich im angefochtenen Erkenntnis auch keine Begründung für die unterbliebene Einvernahme der Mutter der Erstrevisionswerberin.
16 Darüber hinaus hätte sich das Verwaltungsgericht nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung auch näher mit dem Beschwerdevorbringen der Revisionswerberinnen auseinandersetzen müssen, wonach die Gefahr bestehe, dass der Erstrevisionswerberin im Fall ihrer Rückkehr in die Russische Föderation die Zweitrevisionswerberin von der Familie des Vaters der Zweitrevisionswerberin weggenommen werde. Das bloße Abstellen auf die Anpassungsfähigkeit der Zweitrevisionswerberin aufgrund ihres Alters wird diesem Vorbringen nicht gerecht.
17 Das Verwaltungsgericht hätte daher nicht von einem geklärten Sachverhalt im Sinn des § 21 Abs. 7 BFA VG bzw. von einem eindeutigen Fall im Sinn der oben zitierten hg. Rechtsprechung ausgehen dürfen, der es dem Verwaltungsgericht ausnahmsweise erlaubt hätte, ohne Verschaffung eines persönlichen Eindrucks von der Durchführung der in der Beschwerde ausdrücklich beantragten mündlichen Verhandlung abzusehen.
18 Das angefochtene Erkenntnis war daher zur Gänze (die weiteren Aussprüche betreffend die Abschiebung wobei das Verwaltungsgericht eine Ergänzung des insoweit unvollständigen Spruches der Bescheide der belangten Behörde unterlassen hatte und die Frist für die freiwillige Ausreise können allein keinen Bestand haben) gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
19 Die Entscheidung über den Aufwandersatz beruht auf den §§ 47 ff, insbesondere § 53 Abs. 1 VwGG in Verbindung mit der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 9. September 2021