Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr. in Sporrer als Richterin sowie die Hofräte Mag. Nedwed und Mag. Tolar als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Wuketich, über die Revision des S S, vertreten durch Mag. Clemens Lahner, Rechtsanwalt in 1070 Wien, Burggasse 116, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 21. Oktober 2020, W138 2181082 1/17E, betreffend eine Asylangelegenheit (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
1 Der Revisionswerber, ein afghanischer Staatsangehöriger aus der Provinz Kunduz, stellte am 5. Februar 2016 einen Antrag auf internationalen Schutz, den er im Wesentlichen damit begründete, von den Taliban bedroht worden zu sein bzw. bedroht zu werden, weil seine beiden Schwestern mit „afghanischen Polizisten“ verheiratet seien.
2 Mit Bescheid vom 4. Dezember 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) diesen Antrag des Revisionswerbers zur Gänze ab, erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel gemäß § 57 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005), erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei, und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest.
3 Die dagegen erhobene Beschwerde des Revisionswerbers wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit dem angefochtenen Erkenntnis als unbegründet ab und erklärte die Revision für nicht zulässig.
4 Begründend hielt das BVwG zusammengefasst fest, dass es dem Revisionswerber aus näher dargelegten Gründen nicht gelungen sei, eine bereits erfolgte Bedrohung seiner Person wegen seines Schwagers, einem afghanischen Polizisten, glaubhaft zu machen. Dem Einflussbereich der Taliban könne er sich durch einen Umzug in eine größere Stadt wie etwa Kabul, Herat oder Mazar e Sharif entziehen. Zur Nichtgewährung subsidiären Schutzes erwog das BVwG, dass dem Revisionswerber eine ungefährdete Rückkehr in seine Herkunftsprovinz Kunduz aufgrund der dort herrschenden Sicherheitslage nicht möglich sei, ihm jedoch die Inanspruchnahme einer zumutbaren innerstaatlichen Fluchtalternative in den genannten afghanischen Städten offenstehe.
5 Dagegen wendet sich die vorliegende außerordentliche Revision, die zur Zulässigkeit und in der Sache unter anderem geltend macht, das BVwG habe dem Revisionswerber zumindest geglaubt, dass sein Schwager Polizist sei. Damit gehöre der Revisionswerber zu der in den einschlägigen UNHCR Richtlinien zu Afghanistan angeführten Risikogruppe von Familienangehörigen von Personen, die tatsächlich oder vermeintlich mit der Regierung verbunden seien. Insbesondere mit diesem Risikoprofil habe sich das BVwG nicht auseinandergesetzt. Darüber hinaus habe das BVwG in Abweichung von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes eine innerstaatliche Fluchtalternative in der afghanischen Hauptstadt Kabul angenommen (Hinweis auf die einschlägigen UNHCR-Richtlinien) und es habe sich mit den Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf die Rückkehrsituation des Revisionswerbers nicht genügend beschäftigt (Hinweis auf VwGH 15.9.2020, Ra 2020/18/0152, und VwGH 21.10.2020, Ra 2020/18/0284). Das BVwG habe zwar Feststellungen zur Versorgungs-, Wohnungs- und Arbeitsmarktsituation in den in Rede stehenden Städten getroffen. Die dafür verwendeten Informationen stammten jedoch aus der ersten Hälfte des Jahres 2019 (oder älter). Auch die Feststellungen zur Bewegungsfreiheit und Infrastruktur beruhten auf Berichten aus den Jahren 2018 und Anfang 2019. Zur COVID 19 Pandemie beschränke sich das BVwG auf Feststellungen zur Anzahl der aktuell in Afghanistan am Virus Erkrankten und stelle lediglich fest, dass der Revisionswerber keiner medizinischen Risikogruppe angehöre. Es habe aber unterlassen, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, welche Auswirkungen die Pandemie auf die Versorgungs-, Wohnungs- und Arbeitsmarktsituation in den afghanischen Städten gehabt habe. In diesem Zusammenhang verweist die Revision insbesondere auf näher genannte Länderberichte, die „katastrophale Auswirkungen auf die Lebensgrundlage“ in den relevanten städtischen Gebieten beschreiben würden und der Annahme, dem Revisionswerber stehe dort eine innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung, entgegenstünden.
6 Das BFA erstattete zu dieser Revision keine Revisionsbeantwortung.
7 Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
8 Die Revision ist zulässig und begründet.
9 Das BVwG schenkte zwar dem Fluchtvorbringen des Revisionswerbers, in der Vergangenheit von den Taliban bedroht worden zu sein, keinen Glauben. Es stellte aber fest, dass (zumindest) eine Schwester des Revisionswerbers mit einem afghanischen Polizisten verheiratet sei. Eine Gefährdung des Revisionswerbers wegen dieser familiären Nähe zu einer Person, die mit den afghanischen Sicherheitsbehörden verbunden ist (vgl. dazu etwa das Risikoprofil in den Richtlinien des UNHCR zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30. August 2018, S. 54), verneinte das BVwG unter Hinweis darauf, dass dem Revisionswerber ein Umzug in die afghanischen Städte Kabul, Herat oder Mazar e Sharif zur Verfügung stehe, um sich dem Einflussbereich der Taliban zu entziehen. Auch die Zuerkennung von subsidiärem Schutz lehnte das BVwG ausschließlich deshalb ab, weil es die genannten Städte als innerstaatliche Fluchtalternative in Betracht zog. Damit kommt der Frage, ob die Städte Kabul, Herat oder Mazar e Sharif als innerstaatliche Fluchtalternative im Sinne des § 11 Abs. 1 AsylG 2005 anzusehen sind, sowohl für die Gewährung von Asyl als auch für die Zuerkennung des subsidiären Schutzes maßgebliche Bedeutung zu.
10 Der Verwaltungsgerichtshof hat in ständiger Rechtsprechung ausgesprochen, dass das BVwG seinem Erkenntnis die zum Entscheidungszeitpunkt aktuellen Länderberichte zugrunde zu legen sowie im Rahmen der Beurteilung der Zumutbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative auf die allgemeinen Gegebenheiten im Herkunftsstaat und die persönlichen Umstände des Asylwerbers Bedacht zu nehmen hat. Dabei hat es sich auch mit der zum Entscheidungszeitpunkt vorherrschenden Situation aufgrund der COVID 19 Pandemie in Afghanistan auseinanderzusetzen (vgl. in diesem Sinne VwGH 15.9.2020, Ra 2020/18/0152, auf dessen Entscheidungsgründe gemäß § 43 Abs. 2 VwGG verwiesen wird; zur Notwendigkeit der Berücksichtigung der COVID 19 Pandemie bei der Prüfung der Zumutbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative vgl. etwa auch VwGH 21.10.2020, Ra 2020/18/0284; VwGH 21.10.2020, Ra 2020/18/0305).
11 Die Revision weist zutreffend darauf hin, dass sich dem angefochtenen Erkenntnis keine ausreichenden Feststellungen zur Rückkehrsituation aufgrund der aktuell vorherrschenden COVID 19 Pandemie oder Erwägungen zu deren Auswirkungen auf die Möglichkeit der Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative für den Revisionswerber in den genannten Städten entnehmen lassen. Die diesbezüglichen Ausführungen des BVwG beschränken sich auf die Wiedergabe der Zahl der infizierten Personen und der pandemiebedingten Todesfälle in Afghanistan und den Umstand, dass der Revisionswerber keiner medizinischen Risikogruppe angehört. Dabei übersieht das BVwG, dass nicht nur auf die Gefahr einer schweren Erkrankung des Revisionswerbers Bedacht zu nehmen ist, sondern auch die sonstigen Auswirkungen der Pandemie auf die Rückkehrsituation (Versorgungslage, Unterkunft, Arbeitsmarkt) Berücksichtigung finden müssen. Die diesbezüglichen Länderfeststellungen erweisen sich, wie die Revision zutreffend ausführt, im Lichte dessen als veraltet.
12 Dass dieser Verfahrensmangel relevant sein kann, legt die Revision näher dar. Schon deshalb entzieht sich die Annahme des BVwG, dem Revisionswerber stehe eine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung, einer nachprüfenden Kontrolle.
13 Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
14 Von der beantragten mündlichen Verhandlung konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 3 VwGG abgesehen werden.
15 Der Kostenzuspruch gründet sich auf §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 6. April 2021