9Rs38/25m – OLG Wien Entscheidung
Kopf
Das Oberlandesgericht Wien hat als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Mag. Pöhlmann als Vorsitzenden, die Richterin Mag. Dr. Vogler und den Richter Mag. Falmbigl sowie die fachkundige Laienrichterin Dr. Barbara Holzer und den fachkundigen Laienrichter Gottfried Wolfgang Sommer in der Sozialrechtssache der klagenden Partei A* , geboren am **, **, vertreten durch Mag. Heinz Templ, LL.M., Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt , **, wegen Pflegegeld über die Berufung der klagenden Partei gegen das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichts Wien vom 17.12.2024, **-13, in nicht öffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:
Spruch
Der Berufung wird nicht Folge gegeben.
Die klagende Partei hat die Kosten ihres erfolglosen Rechtsmittels selbst zu tragen.
Die ordentliche Revision ist nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
Mit Bescheid vom 12.6.2024 lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin vom 23.2.2024 auf Erhöhung des laufend mit Stufe 4 gewährten Pflegegelds ab.
Dagegen richtet sich die (erkennbar) auf Gewährung eines die Stufe 4 übersteigenden Pflegegeldes gerichtete Klage mit dem wesentlichen Vorbringen, die gesetzliche Mindesteinstufung in Folge Blindheit und der mit einer Beinamputation einhergehende drastisch erhöhte Pflegebedarf seien von der Beklagten unrichtig ermittelt worden.
Die Beklagte entgegnete, dass kein höherer Pflegeaufwand vorliege, als dem bekämpften Bescheid zugrunde gelegt worden sei.
Mit dem angefochtenen Urteil wies das Erstgericht das Klagebegehren ab und erkannte die Beklagte schuldig, der Klägerin weiterhin Pflegegeld der Stufe 4 zu bezahlen.
Es legte dieser Entscheidung folgende Feststellungen zugrunde, wobei die vom Kläger im Rahmen seiner Beweisrüge bekämpften durch Unterstreichung hervorgehoben sind:
„ Die am ** geborene Klägerin bewohnt alleine eine 60 m² große Wohnung im 2. Stock (mit Lift), die mit Zentralheizung geheizt wird. Im Wohnungsverband sind eine Dusche und ein Duschsessel vorhanden.
2x/Tag kommen Putzfrau und Heimhilfe, die Schwester und Bekannte 1x/Woche. Infrastruktur befindet sich in Gehweite, ist für die Patientin [Klägerin] alleine aber nicht erreichbar.
Im Wesentlichen besteht bei der Klägerin eine Blindheit seit der Geburt und ein Zustand nach einer Amputation des linken Beins. Sie ist ständig auf den Rollstuhl angewiesen. Hinsichtlich der weiteren und genaueren Diagnosen wird auf die medizinischen Sachverständigengutachten verwiesen.
Die Klägerin ist rollstuhlmobil, ist damit im Wohnbereich mobil. Der Faustschluss ist bds. komplett, der Nackengriff ist beidseits möglich, kein Tremor. Die oberen Extremitäten sind passiv frei beweglich. Als Hilfsmittel nutzt die Klägerin mittlerweile neben ihren Blindenbehelfen für Ihre Mobilitätseinschränkung je einen Außen- und Innenrollstuhl, sowie eine fixierte Duschbank und Haltegriffen.
Die Klägerin ist örtlich, zeitlich und situativ orientiert. Kurz- und Langzeitgedächtnis sind intakt. Die Konzentrationsfähigkeit ist erhalten, eine gezielte Kommunikation ist möglich. Die Stimmungslage ist depressiv.
Hilfe wird benötigt:
Bei der täglichen Körperpflege
Bei der Zubereitung der Mahlzeiten
Beim An- und Auskleiden
Bei der Einnahme der Medikamente
Bei der Herbeischaffung der Nahrungsmittel und der Medikamente
Bei der Reinigung der Wohnung
Bei der Pflege der Leib- und Bettwäsche
Mobilitätshilfe im weiteren Sinn ist notwendig.
Mobilitätshilfe im engeren Sinn ist notwendig.
Es besteht eine wechselseitige Leidensbeeinflussung. Durch die Amputation des linken Beines kam zur Blindheit eine Immobilität hinzu, die zuvor nicht bestanden hatte. So war zuvor z.B. die Orientierung auf der Straße mittels Blindenstocks möglich, dies ist nun durch die Notwendigkeit eines Rollstuhles keinesfalls mehr möglich. Dieser Zustand besteht seit der Antragstellung. Eine wesentliche Verbesserung dieses Kalküls ist nicht zu erwarten. “
In rechtlicher Hinsichtgelangte das Erstgericht zum Ergebnis, dass bei der Klägerin ausgehend vom festgestellten Sachverhalt ein Pflegebedarf von 133 Stunden pro Monat vorliege. Bei blinden Personen sei nach § 4a Abs 5 BPGG mindestens ein Pflegebedarf der Stufe 4 anzunehmen. Pflegegeld der Stufe 5 würde einen durchschnittlichen monatlichen Pflegebedarf von mehr als 180 Stunden und zusätzlich einen außergewöhnlichen Pflegeaufwand erfordern. Der Klägerin gebühre weiterhin ein Pflegegeld der Stufe 4.
Dagegen richtet sich die Berufung der Klägerin wegen Aktenwidrigkeit, unrichtiger Tatsachenfeststellung aufgrund unrichtiger Beweiswürdigung sowie unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, das angefochtene Urteil dahin abzuändern, dass Pflegegeld der Stufe 5 oder höher zugesprochen werde; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
Die Beklagte hat sich am Berufungsverfahren nicht beteiligt.
Rechtliche Beurteilung
Die Berufung ist nicht berechtigt .
1. Aus Gründen der Zweckmäßigkeit ist zunächst die Rechtsrüge zu behandeln.
1.1.Nach Ansicht der Berufung habe die Klägerin nach § 4a Abs 5 BPGG als blinde Person Anspruch auf Pflegegeld zumindest der Stufe 4. Der Pflegebedarf von (mindestens) 133 Stunden pro Monat resultiere aus Einschränkungen, die über die Blindheit hinausgingen. Unter Berücksichtigung des sockelhaft garantierten Pflegebedarfs (Stufe 4 wegen Blindheit) und des weiteren Pflegebedarfs infolge der Amputation liege der Gesamtbedarf deutlich über 180 Stunden pro Monat. Nach dem klar erkennbaren Zweck des Gesetzes – nämlich Blinden wenigstens einen bestimmten Sockel an Pflegebedarf zu garantieren und zusätzliche Pflegebedürfnisse auch zusätzlich zu erfassen – sei im konkreten Fall der durch die Blindheit gesicherte Umfang (mindestens Stufe 4) um den weiteren Pflegebedarf infolge Beinamputation zu erhöhen.
1.2.Diese Rechtsansicht wird nicht geteilt: Neben der funktionsbezogenen Beurteilung des Pflegebedarfes sieht § 4a BPGG für bestimmte Behindertengruppen mit weitgehend gleichartigem Pflegebedarf auch diagnosebezogene Mindesteinstufungen vor. Bei diesen Gruppen handelt es sich um die schwerbehinderten Menschen, die zur selbstständigen Lebensführung auf den aktiven Gebrauch eines Rollstuhls (Abs 1 bis 3) angewiesen sind, die hochgradig Sehbehinderten (Abs 4), die Blinden (Abs 5) und die Taubblinden (Abs 6). Dadurch soll auch bei Personen, die nicht pflegebedürftig im klassischen Sinn sind, an Hand einer medizinisch eindeutigen Diagnose und den damit verbundenen Funktionsausfällen ohne eine konkrete Prüfung des individuellen (funktionsbezogenen) Pflegeaufwands der weitgehend gleichartige Pflegebedarf dieser Personen in Form einer Mindesteinstufung berücksichtigt werden. Da es sich bei der funktionsbezogenen Einstufung und der diagnosebezogenen Mindesteinstufung um zwei unterschiedliche Einstufungsvarianten handelt, ist eine Addition der bei der funktionellen Betrachtung ermittelten Stundenwerte mit den der Mindesteinstufung zugrundeliegenden Zeitwerten nicht zulässig (10 ObS 7/06m, RS0113680, RS0111678 [T3]). Die funktionsbezogene und die diagnosebezogene Einstufung sind streng zu trennen, eine Vermengung der Anspruchsvoraussetzungen im Sinn eines Mischsystems kommt nicht in Frage ( Greifeneder/Liebhart , Pflegegeld 5 Rz 5.5).
Für den Fall der Klägerin bedeutet dies, dass bei funktionsbezogener Einstufung aufgrund des regelmäßigen Pflegebedarfs von insgesamt (unstrittig) 133 Stunden pro Monat ein Anspruch auf Pflegegeld der Stufe 3, nicht aber der Stufe 4 (mehr als 160 Stunden) bestehen würde. Aufgrund der diagnostizierten Blindheit hat die Klägerin bei diagnosebezogener Einstufunggemäß § 4a Abs 5 BPGG Anspruch auf Pflegegeld der Stufe 4. Eine Addition oder Mischung der Systeme kommt – wie dargelegt – nicht in Betracht, sodass das Erstgericht rechtlich zutreffend keine über Pflegegeld der Stufe 4 hinausgehenden Anspruch zuerkannt hat.
2. Ausgehend von dieser Rechtslage kommt auch den weiteren Berufungsausführungen kein Erfolg zu:
2.1. Unter den Berufungsgründen der Aktenwidrigkeit und der „ unrichtigen Beweiswürdigung “ wendet sich die Berufung gegen die oben hervorgehobene Feststellung. Die Schlussfolgerung, dass sich aus der Kombination von Blindheit und Amputation nur der zusätzliche Pflegebedarf für Mobilitätshilfe im engeren und im weiteren Sinn ergebe sei fehlerhaft. Tatsächlich habe die Klägerin vor der Beinamputation noch zahlreiche Verrichtung selbst vornehmen können. Richtigerweise hätte das Erstgericht daher feststellen müssen:
„ Es besteht eine wechselseitige Leidenspotenzierung. Durch die Amputation des linken Beines kam zur Blindheit die Notwendigkeit der Hilfe in den Bereichen
- tägliche Körperpflege
- Zubereitung der Mahlzeiten
- An- und Auskleiden
- Einnahme der Medikamente
- Herbeischaffung der Nahrungsmittel und Medikamente
- Reinigung der Wohnung
- Pflege der Leib- und Bettwäsche
- Mobilitätshilfe im weiteren Sinn
- Mobilitätshilfe im engeren Sinn
hinzu, die zuvor nicht bestanden hatte. “
Durch die begehrte Ersatzfeststellung würde „das Ausmaß der zusätzlichen Behinderung infolge der Amputation“ vollständig abgebildet, was rechtlich zur Klärung der Frage der Mindesteinstufung wegen Blindheit und darauf basierend der erhöhten Einstufung wegen Blindheit und Zusatzbehinderung (Beinamputation und daraus resultierender Hilfsbedürftigkeit) beitrage.
2.2. Ausgehend von der dargelegten Rechtslage (oben 1.2.) kommt dem Umstand, ob der funktionsbezogene Pflegebedarf von insgesamt – unstrittig – 133 Stunden auf die Blindheit oder auf die Beinamputation zurückzuführen ist, keine entscheidende Bedeutung zu. Selbst wenn der gesamte Pflegebedarf – was die Berufung offenbar anstrebt – nicht aus der Blindheit resultieren würde, sondern erst durch die Beinamputation hinzugekommen wäre, käme eine Berücksichtigung des funktionsbezogenen Pflegebedarfs zusätzlich zur diagnosebezogenen Mindesteinstufung wegen Blindheit nicht in Betracht.
Führen der vom Erstgericht festgestellte Sachverhalt und der davon abweichende, von der Beweisrüge angestrebte Sachverhalt zum gleichen rechtlichen Ergebnis, kann die Behandlung der Beweisrüge unterbleiben (vgl RS0042386; A. Kodekin Rechberger/Klicka, ZPO 5§ 498 Rz 1). Auch der behaupteten Aktenwidrigkeit käme nur bei rechtlicher Relevant Bedeutung zu (vgl RS0043265).
3. Der unberechtigten Berufung war somit nicht Folge zu geben.
Für einen Kostenzuspruch an die zur Gänze unterliegende Klägerin nach Billigkeit gemäß § 77 Abs 1 Z 2 lit b ASGG ergaben sich keine Anhaltspunkte.
Die ordentliche Revision war nicht zuzulassen, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer erheblichen Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO abhing. Das Berufungsgericht konnte sich an der ständigen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs orientieren.