JudikaturOLG Graz

7Rs14/25w – OLG Graz Entscheidung

Entscheidung
24. April 2025

Kopf

Das Oberlandesgericht Graz hat als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch die Senatspräsidentin Dr. Kraschowetz-Kandolf (Vorsitz), die Richter Mag. Russegger und Mag. Reautschnig sowie die fachkundigen Laienrichter:innen Mag a . Loh (aus dem Kreis der Arbeitgeber:innen) und Allmannsdorfer (aus dem Kreis der Arbeitnehmer:innen) als weitere Senatsmitglieder in der Sozialrechtssache der klagenden Partei A* , geboren am **, **, vertreten durch Mag. B*, Kammerreferent in **, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt , Landesstelle **, **, vertreten durch die Referatsleiterin Mag a . C*, ebendort, wegen Pflegegeld, über die Berufung der beklagten Partei gegen das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtsachen Graz als Arbeits- und Sozialgericht vom 3. Dezember 2024, GZ: **-13, in nicht-öffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Der Berufung wird Folge gegeben.

Das angefochtene Urteil wird abgeändert , es lautet:

„Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei ab dem 1. August 2024 ein Pflegegeld der Stufe 2 in der gesetzlichen Höhe (das sind für das Jahr 2024 EUR 354,00 und ab 2025 EUR 370,30) unter Anrechnung aller bisher erbrachten Leistungen zu bezahlen.

Das Klagebegehren auf Zahlung eines höheren Pflegegeldes wird abgewiesen.“

Die Revision ist nichtnach § 502 Abs 1 ZPO zulässig .

Text

Entscheidungsgründe:

Die Klägerin wohnt mit ihrer Mutter in einem Einfamilienhaus in ländlichem Wohngebiet. Zur Haustüre führen zwei Stufen mit Handlauf. Der Wohnbereich der Klägerin sind das Erdgeschoss und der 1. Stock, der über eine Holztreppe mit Handlauf zugänglich ist. Im ersten Stock befinden sich das Schlafzimmer, WC und Badezimmer mit Dusche und Badewanne. Das WC ist ohne Hilfsmittel ausgestattet. Die Dusche ist barrierefrei; ein Duschhocker wird verwendet. Die Heizung funktioniert mittels funktionierender Gas-Zentralheizung. Im Erdgeschoss befindet sich ein Kachelofen, der aus Kostengründen, zumal günstig Holz bezogen werden kann, primär zum Heizen benutzt wird. Zum Aufbereiten des Warmwassers muss die Gasheizung benutzt werden. Diese Heizsituation bestand bereits zum Gewährungszeitpunkt. Die derzeitige Betreuung erfolgt primär durch die Mutter wie auch durch den restlichen Familienverband. Öffentliche Verkehrsmittel sind für die Klägerin nicht nutzbar. Bei ihr ist ein Grad der Behinderung von 70 % vorliegend.

Zum derzeitigen medizinischen Zustand der Klägerin:

Die Klägerin wird im Wohnbereich unter Nutzung des 4-Punkt-Gehstocks angetroffen. Sie begrüßt die Sachverständige anlässlich der Untersuchung freundlich mit einem Händedruck und geleitet sie unter Nutzung ihrer Stockhilfe im Erdgeschoss zur Treppe. Beim Gang über die Treppe in den 1. Stock lässt sie den Stock unten stehen und hält sich am Handlauf an. Sie geht mit orthopädischen Schuhen und Anhalten ausreichend sicher die Treppe hinauf und auch wieder herunter. Der Gang als auch das Begehen der Treppe unter Nutzung des 4-Punkt-Gehstocks ist der Klägerin in orthopädischen Schuhen zum Zeitpunkt der Begutachtung ausreichend sicher möglich. Die Mutter muss beim Begehen der Treppe die Tochter nicht mehr begleiten. Die Klägerin befindet sich in einem gepflegten Allgemeinzustand und normalem Ernährungszustand. Sie ist allseits orientiert, gedankenklar und kann einer gezielten Kommunikation in Zimmerlautstärke gut folgen; die Antworten sind adäquat. Hinweise auf eine höhergradige Auffassungsstörung bestehen nicht; leichte Defizite in der Sprache sind objektivierbar. Das Sehvermögen imponiert unter Nutzung der Sehhilfe ausreichend. Ein Fingerzählen aus ca. 1,5 m Entfernung kann korrekt benannt werden. Die Stimmungslage imponiert ausgeglichen, der Antrieb wirkt intakt. Im 3 Wörtertest konnte die Klägerin zeitverzögert 2 von 3 Worten wiedergeben. Während der Begutachtung ließen sich leichte Anzeichen einer Nervosität objektivieren. Die Lagewechsel vom Sitzen, Liegen und Stehen gelingen der Klägerin alle ohne Fremdhilfe. Ein freier Stand für kurze Zeit ist der Klägerin ausreichend sicher möglich. Der Gang, unter Nutzung des 4-Punkt-Gehstocks, imponiert langsam, in orthopädischen Schuhen, ausreichend sicher. Das Ausziehen sowohl der Überkopfbekleidung als auch Jogginghose mit Bund gelingt der Klägerin selbstständig im Sitzen auf der Couch. Ebenso ist sie im Sitzen in der Lage, ihre orthopädischen Schuhe mit Klettverschluss zügig ohne Fremdhilfe an- und auszuziehen. Beim Anziehen über Kopf und der Beinkleidung ist ihr die Mutter behilflich. Der Fingerbodenabstand im Sitzen ist bis zu den Zehen durchführbar; der Fingerbodenabstand im Stehen wurde wegen Standunsicherheit mit Fallneigung nicht durchgeführt. Die oberen Extremitäten können von der Klägerin zügig an die Horizontale gehoben werden, eine Elevation gelingt beidseits bis ca. 170°; der Nacken-Schürzengriff ist durchführbar, die grobe Kraft beidseits verringert, der Faustschluss vollständig, der Pinzettengriff durchführbar. Die Koordination beim Öffnen und Schließen der Finger ist eingeschränkt. Im Zuge der Begutachtung ist keine Spastik objektivierbar. Eine Einlagenversorgung bei Menstruationsblutung besteht. Bei den unteren Extremitäten sind die Viererzeichen beidseits negativ, es besteht eine blande Narbe nach Umstellungsosteotomie beidseits; die Kniegelenke sind aktiv und passiv frei, keine Überwärmung, keine Schwellung. An Hilfsmitteln verfügt die Klägerin über den 4-Punkt-Gehstock, einen 1 Punkt-Gehstock, einen Rollator (für draußen bzw weitere Wege), orthopädische Schuhe mit Klettverschluss, Duschhocker und Brille. Im Haus befinden sich an beiden Enden der Treppe Gehhilfen, die die Klägerin dann in den jeweiligen Wohnebenen nutzt.

Zum Zeitpunkt der Untersuchung durch die Sachverständige Dr. D* im Oktober 2024 finden sich folgende antragsrelevanten Diagnosen :

- Spastische diplegische Zerebralparese seit Geburt mit Störungen der Bewegung und Körperhaltung, Einschränkung der Fingermotorik und Mobilität, leichte kognitive Einschränkungen

- Gangerschwernis bei Zustand nach mehrfachen Knieoperationen (Umstellungsosteotomie beidseits, links einmalig ohne Komplikationen, rechts mehrmalig bei Komplikationen, Zustand nach Plattenentfernung rechts 03/22)

- Schuppenflechte im Bereich der Kopfhaut

Die Klägerin leidet pflegerelevant an motorischen Einschränkungen der vier Extremitäten bedingt durch eine seit Geburt bestehende spastische diplegische Zerebralparese mit leichten kognitiven und sprachlichen Beeinträchtigungen. Sie befindet sich täglich in der Betreuungseinrichtung „E*“, wo sie an kreativen Tätigkeiten, am Essen sowie auch an Spaziergängen teilnimmt. Dort werden auch Bewegungsübungen und Physiotherapien zur Verbesserung der Mobilität durchgeführt. Die Feinmotorik der Finger ist durch die Zerebralparese beeinträchtigt, das Gangbild imponiert nach Umstellungsosteotomie und Zustand nach Metallentfernung rechts bei Zerebralparese, unter Nutzung des Gehstocks, ausreichend sicher.

Im Zuge der letzten neurologischen Rehabilitation in ** im August 2024 hat die Klägerin an der Kraft und Ausdauer gearbeitet und so das Gangbild wie die Feinmotorik an den Händen verbessern können. Mittlerweile benötigt sie nur mehr bei langen Wegen bzw. Wegen außer Haus den Rollator und im Haus den Gehstock. Das Begehen der Treppe erfolgt selbstständig mit Anhalten. Aufgrund der eingeschränkten Feinmotorik und wiederkehrenden Spastiken der Finger hat die Klägerin Schwierigkeiten beim Öffnen und Schließen von Knöpfen wie auch beim Ankleiden von Socken bzw. Strümpfen. Die orthopädischen Schuhe mit Klettverschluss kann die Klägerin im Sitzen ohne Fremdhilfe zügig an- und ausziehen. Hinsichtlich der Schuppenflechte im Kopfbereich erfolgen regelmäßige Behandlungen der Kopfhaut durch die Mutter, da dies der Klägerin selbst durch die Feinmotorikstörung der Finger nicht möglich ist. Das Auftragen einer Tinktur zweimal wöchentlich wäre einem ansonst gesunden Menschen möglich. Bei der Klägerin ist es so, dass sie sich die Schuppenflechtenläsionen am Kopf aufkratzt und sie dadurch blutig ist. Das Auftragen des Schaumes oder auch der Behandlung mit dem Öl ist der Klägerin selbst nicht zumutbar. Das Auftragen des Öles erfolgte anfänglich täglich und in weiterer Folge einmal wöchentlich. Dies ist im Zuge der täglichen Körperpflege zu berücksichtigen. Das Auftragen des Öles einmal in der Woche ist vergleichbar dem Auftragen eines Shampoos. Dies kann die Klägerin selbst nicht. Das Öl gehört nach einer halben Stunde wieder ausgewaschen, was die Klägerin auch nicht selbst kann. Diese Verrichtung (Ölwaschung) ist im Zuge der täglichen Körperpflege von der Mutter durchzuführen. Das Auftragen des Schaumes bei Juckreiz, wobei es sich dabei um einen kortisonhältigen Schaum handelt, ist der Klägerin nicht möglich und wird ebenfalls von der Mutter durchgeführt. Es handelt sich dabei um einen regelmäßigen Pflegebedarf. Das Auftragen des Kortisonschaumes auf die Schuppenflechtenläsionen ist jeden zweiten Tag notwendig und dauert maximal zwei Minuten.

Zum Zeitpunkt der Erstellung des Gewährungsgutachtens (10.05.2022) bestanden bei der Klägerin nachstehende Diagnosen :

Spastische diplegische Zerebralparese sowie Gangerschwernis nach mehrfachen Knieoperationen.

Die Klägerin benötigte damals Hilfe bei allen aufschiebbaren Hilfsverrichtungen, die den sachlichen Lebensbereich betreffen. Weiters benötigte die Klägerin eine vollständige Hilfe bei der Zubereitung der Mahlzeiten, eine teilweise Hilfestellung bei der Mobilitätshilfe im engeren Sinn sowie eine teilweise Unterstützung beim An- und Auskleiden, ebenso wurde Hilfe bei der täglichen Körperpflege berücksichtigt. Ein ausreichend sicheres Begehen der Treppe war der Klägerin zum Zeitpunkt der Gewährung nicht möglich gewesen. Zum Zeitpunkt der Gewährung war die Mobilitätseinschränkung bei Zustand nach Umstellungsosteotomie beidseits mit Metallentfernung rechts (03/22), Schmerzen und die Notwendigkeit von Lymphdrainagen neben den motorischen Einschränkungen bei Zerebralparese im Vordergrund. Zum Gewährungszeitpunkt war die Klägerin aufgrund ihrer Schmerzen in den Beinen und der Mobilitätseinschränkung zu schwach, ohne Begleitung die Treppen ausreichend sicher zu begehen, weshalb damals der halbe Richtsatz der Mobilitätshilfe im engeren Sinne zu Recht gewährt wurde.

Im Vergleich zum Gewährungszeitpunkt hat sich die Mobilität und Schmerzsituation nach Umstellungsosteotomie und Metallentfernung rechts nunmehr gebessert. Eine Lymphdrainage wie auch regelmäßige Schmerzmedikation ist nicht mehr erforderlich. Auch die motorischen Einschränkungen seitens der Zerebralparese konnten nach Inanspruchnahme der Rehabilitation mit Kraftaufbau und Training verbessert werden, sodass die Klägerin im Wohnbereich keinen Rollator mehr benötigt und die Wege im Haus mit Stockhilfe zurücklegen kann. Auch ist sie nun durch die Bein- und Handkraft in der Lage, mit Anhalten die Treppe ohne Begleitung ausreichend sicher zu begehen. Somit ist es zwar in Teilbereichen zu einer Verbesserung gekommen, allerdings bestehen die pflegerelevanten Einschränkungen in der Feinmotorik der Finger bei Zerebralparese weiterhin.

Die Beheizung, nämlich eine funktionierende Gaszentralheizung, war zum Gewährungszeitpunkt als auch zum Entziehungszeitpunkt die gleiche. Der Kachelofen im Erdgeschoss wurde und wird primär aus Kostengründen zur Beheizung benutzt. Zum Zeitpunkt der Gewährung wurde hiefür irrtümlich ein Richtsatz von 10 Stunden zuerkannt.

Mit Bescheid vom 3. Juni 2024 hat die Beklagte das der Klägerin in Höhe der Stufe 3 gewährte Pflegegeld neu bemessen und auf ein Pflegegeld der Stufe 2 herabgesetzt. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass sich der Pflegebedarf vermindert habe. Dieser errechne sich mit durchschnittlich 105 Stunden im Monat.

Die Klägerin begehrt die Zahlung eines höheren Pflegegeldes als das der Stufe 2 und führt zur Begründung aus, ihr allgemeiner Zustand sei derartig herabgesetzt, dass sie sowohl der Betreuung als auch der Hilfe bedürfe. Es sei auch keine wesentliche Verbesserung ihres Gesundheitszustandes eingetreten. Somit sei es auch zu keiner Verringerung ihres Pflegebedarfes gekommen. Sie benötige volle Unterstützung bei der täglichen Körperpflege, bei der Zubereitung von Mahlzeiten, bei der Einnahme von Mahlzeiten, bei der Verrichtung der Notdurft, beim An- und Auskleiden sowie bei der Einnahme von Medikamenten und bei regelmäßigen Einsalbungen. Ebenso sei sie nicht in der Lage, Medikamente alleine herbei zu schaffen, ihre Wohnung und ihre persönlichen Gebrauchsgegenstände selbstständig zu reinigen sowie eine Pflege der Leib- und Bettwäsche vorzunehmen. Darüber hinaus benötige sie Hilfe bei der Mobilität im engeren und im weiteren Sinn sowie bei der Herbeischaffung von Heizmaterial und der Beheizung des Wohnraumes.

Die Beklagte bestreitet unter Aufrechterhaltung ihres im Bescheid eingenommenen Standpunkts.

Mit dem angefochtenen Urteil gibt das Erstgerichtdem Klagebegehren statt und spricht der Klägerin ein Pflegegeld der Stufe 3 auf der Grundlage des eingangs dargestellten, unstrittigen Sachverhalts zu. In rechtlicher Hinsicht folgert es, dass nach § 9 Abs 4 BPGG das Pflegegeld neu zu bemessen sei, wenn eine für die Höhe des Pflegegeldes wesentliche Veränderung eintrete. Ob eine solche vorliege, sei eine Rechtsfrage. Bereits jede – noch so kleine – Änderung im Pflegebedarf solle eine neue Einstufung bzw. den Entzug des Pflegegeldes rechtfertigen. Es genüge nicht, nur den körperlichen Zustand zum Zeitpunkt der Gewährung zu jenem im Zeitpunkt der Neubemessung des Pflegegeldes in Beziehung zu setzen. Auch die Änderungen im Pflegebedarf müssten zueinander in Beziehung gesetzt werden, um daraus ableiten zu können, ob eine wesentliche Änderung eingetreten sei. In den meisten Fällen sei eine Veränderung im Pflegebedarf durch eine Veränderung im Gesundheitszustand bedingt. Zum Gewährungszeitpunkt ergebe sich bei der Klägerin ein Pflegebedarf von 122,5 Stunden (tägliche Körperpflege 25 Stunden, Zubereitung der Mahlzeiten 30 Stunden, Teilhilfe beim An- und Auskleiden 10 Stunden, Mobilitätshilfe im engeren Sinn 7,5 Stunden, Herbeischaffung von Nahrungsmitteln 10 Stunden, Reinigung der Wohnung und der persönlichen Gebrauchsgegenstände 10 Stunden, Pflege der Leib- und Bettwäsche 10 Stunden, Mobilitätshilfe im weiteren Sinn 10 Stunden, Beheizung des Wohnraumes mit Kachelofen 10 Stunden trotz funktionierender Gaszentralheizung aus Kostengründen), zum Zeitpunkt der Herabsetzung ein Pflegebedarf von 111,5 Stunden (tägliche Körperpflege 25 Stunden, Zubereitung der Mahlzeiten 30 Stunden, Verrichtung der Notdurft – Reinigung nach der großen Notdurft 2,5 Stunden, Teilhilfe beim An- und Auskleiden 10 Stunden, sonstige Pflegemaßnahmen: Intimhygiene bei Regelblutung 3 Stunden, Auftragen des Cortisonschaums 1 Stunde; Herbeischaffung von Nahrungsmitteln 10 Stunden, Reinigung der Wohnung und der persönlichen Gebrauchsgegenstände 10 Stunden, Pflege der Leib- und Bettwäsche 10 Stunden, Mobilitätshilfe im weiteren Sinn 10 Stunden).

Zum Gewährungszeitpunkt sei der Klägerin irrtümlich ein Hilfsbedarf für die Beheizung im Ausmaß von 10 Stunden zuerkannt worden. Ein Bedarf an fremder Hilfe zur Beheizung des Wohnraumes einschließlich der Herbeischaffung von Heizmaterial sei zu verneinen, wenn eine (Zentral)Heizung vorhanden sei, sofern der pflegebedürftige Mensch diese zu bedienen imstande sei oder die Wartung und Steuerung nicht von der pflegebedürftigen Person vorgenommen werden müsse. Bei Vorhandensein einer wartungsfreien Heizung komme es nicht zu einer Berücksichtigung dieses Hilfsbedarfs, wenn diese bewusst aus Kostengründen, wie hier, auf niedriger Stufe gefahren werde und zusätzlich eine Ofen mit Holz beheizt werde.

Nunmehr sei es zwar zu einer geringfügigen Verbesserung bei der Mobilität im engeren Sinn gekommen; allerdings bestünden weitere pflegerelevante Einschränkungen bei der Klägerin. Auch die Grundlagen betreffend die Heizung hätten sich nicht geändert. Im Vergleich zum Gewährungsgutachten sei diesbezüglich keine Änderung eingetreten. Berücksichtige man den irrtümlich angenommenen Pflegebedarf für die Heizung ergäben sich weiterhin über 120 Pflegestunden (konkret 121,5), sodass im Vergleich zum Gewährungsgutachten (122,5) keine wesentliche Änderung eingetreten sei. Der Klägerin gebühre daher im Sinne des Grundsatzes Rechtskraft vor Rechtsrichtigkeit ein Pflegegeld der Stufe 3.

Gegen dieses Urteil richtet sich die Berufung der Beklagten aus dem Berufungsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag, das angefochtene Urteil im Sinne einer Klagsabweisung abzuändern; hilfsweise stellt sie einen Aufhebungsantrag.

Die Klägerin beantragt in ihrer Berufungsbeantwortung , der Berufung nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Berufung, über die gemäß § 480 Abs 1 ZPO in Verbindung mit § 2 Abs 1 ASGG in nicht-öffentlicher Sitzung entschieden werden konnte, erweist sich als berechtigt.

Die Berufungswerberin vertritt zusammengefasst die Auffassung, dass die Voraussetzungen für eine Herabsetzung des Pflegegeldes im Sinne des § 9 BPGG gegeben seien.

Das Gericht habe im sozialgerichtlichen Verfahren den durch die Klage geltend gemachten Anspruch selbstständig und unabhängig vom Versicherungsträger auf Basis der Sach- und Rechtslage zu prüfen. Es bedürfe der Feststellung der im Zuerkennungszeitpunkt wesentlichen Tatsachen; vom Gericht sei sodann der durch den gerichtlich bestellten Sachverständigen ermittelte Pflegebedarf zum Gewährungszeitpunkt mit dem Pflegebedarf zum Zeitpunkt der Neubemessung in Beziehung zu setzen, um daraus ableiten zu können, ob eine wesentliche Änderung im Pflegebedarf vorliege. Der Oberste Gerichtshof habe es bereits in seiner Entscheidung 10 ObS 78/17v für möglich erachtet, dass bei einer Änderung im Pflegebedarf insgesamt eine neue Entscheidung möglich sei und die im Verwaltungsverfahren angenommenen Stundensätze nicht dazu zu zählen seien. Aus dem vorliegenden Sachverständigengutachten ergebe sich ein monatlicher Hilfs- und Betreuungsbedarf von 112,5 Stunden. Zwar benötige die Klägerin zum Herabsetzungszeitpunkt zusätzlich der Hilfe bei der Intimhygiene bei der Regelblutung, bei der Reinigung nach Verrichtung der Notdurft sowie beim Auftragen des Cortisonschaums, jedoch hätten sich im Vergleich zum Gewährungszeitpunkt die Mobilität und Schmerzsituation nach einer Umstellungsosteotomie und Metallentfernung rechts soweit gebessert, dass keine Mobilitätshilfe im engeren Sinn mehr erforderlich sei, weshalb der Pflegebedarf zum Herabsetzungszeitpunkt 111,5 Stunden betrage. Da weder zum Gewährungs- noch zum Herabsetzungszeitpunkt ein Pflegebedarf für die Beheizung des Wohnraumes gegeben (gewesen) sei, dürfe das Erstgericht diesen auch nicht berücksichtigen. Für die Entziehung oder Neubemessung des Pflegegeldes seien jene Grundsätze heranzuziehen, die auch bei der Entziehung sonstiger Leistungsansprüche nach § 99 ASVG oder bei der Neufeststellung einer Versehrtenrente nach § 183 ASVG angewendet würden. Die in der Rechtsprechung herausgebildeten Grundsätze bei der Entziehung des Rehabilitationsgeldes seien auch beim Pflegegeld anzuwenden. Ein Versicherter, dem ursprünglich das Pflegegeld zu Unrecht gewährt worden sei, solle nicht bessergestellt sein als eine vergleichbare Person, der Pflegegeld rechtmäßig zuerkannt worden sei und die infolge der Verbesserung des Pflegebedarfes eine Entziehung des Pflegegeldes hinnehmen müsste. Voraussetzung für die Durchbrechung der materiellen Rechtskraft eines Gewährungsbescheids sei demnach eine – wenn auch nur geringfügige – Verbesserung des körperlichen oder geistigen Zustands der versicherten Person und, dass sich diese Verbesserung auf ursprünglich bestehende Beeinträchtigungen beziehe, die die (unrichtige) Einschätzung des Pflegebedarfs begründet hätten. Die Reduzierung des Pflegebedarfs durch die Verbesserung des Gesundheitszustands müsse daher für die Zuerkennung wesentliche Bereiche betreffen. Im vorliegenden Fall sei eine Verbesserung im Gesundheitszustand der Klägerin eingetreten, die sich auf ursprünglich bestehende Beeinträchtigungen beziehe, die die (unrichtige) Einschätzung des Pflegebedarfs mitbegründet hätten, zumal nur unter Hinzurechnung der Teilhilfe für Mobilitätshilfe im engeren Sinn der (unrichtige) Pflegebedarf von 122,5 Stunden monatlich erreicht würde. Die Herabsetzung des Pflegegeldes sei daher berechtigt gewesen.

Dazu ist Folgendes auszuführen:

Gemäß § 9 Abs 4 BPGG ist das Pflegegeld zu entziehen, wenn eine Voraussetzung für die Gewährung von Pflegegeld wegfällt; wenn eine für die Höhe des Pflegegeldes wesentliche Veränderung eintritt, ist das Pflegegeld neu zu bemessen. Für die Entziehung oder Neubemessung des Pflegegeldes sind jene Grundsätze heranzuziehen, die auch bei der Entziehung sonstiger Leistungsansprüche nach § 99 ASVG oder bei der Neufeststellung einer Versehrtenrente nach § 183 ASVG angewendet werden (RS0061709 [T4], 10 ObS 40/20k).

Der zentrale Gesichtspunkt bei der Auslegung der Voraussetzungen für eine Entziehung oder Herabsetzung des Pflegegeldes liegt in der Rechtskraft der Gewährungsentscheidung. Aus der formellen Rechtskraft eines Bescheids erwächst grundsätzlich auch seine materielle Rechtskraft. Dabei handelt es sich um die mit dem Bescheid verbundene Bindungswirkung für die Behörden und Parteien, und zwar nicht nur hinsichtlich der normativen Aussagen, sondern auch hinsichtlich der Unabänderlichkeit und Unwiederholbarkeit. Auch rechtswidrige Bescheide erwachsen in materielle Rechtskraft (10 ObS 40/20k). Demgemäß ist nach ständiger Rechtsprechung in Sozialrechtssachen ein Leistungsentzug (eine Leistungsherabsetzung) nicht gerechtfertigt, wenn sich nachträglich herausstellt, dass die Leistungsvoraussetzungen von vornherein gefehlt haben. Haben sich die objektiven Grundlagen für eine Leistungszuerkennung nicht wesentlich geändert, so steht die Rechtskraft der Gewährungsentscheidung der Entziehung der Leistung entgegen. Hier ist Rechtssicherheit vor Rechtmäßigkeit zu reihen (10 ObS 20/92; RS0083941 [T6]).

Im Anwendungsbereich des § 9 Abs 4 BPGG wurde der Grundsatz der Durchbrechung der Rechtskraftwirkung eines Bescheids, der aufgrund einer Fehleinschätzung zu Unrecht eine Leistung gewährte, im Fall der Entziehung eines ursprünglich zu Unrecht zuerkannten Pflegegeldes (es bestand kein Pflegebedarf von mehr als 65 Stunden) bejaht, weil sich der tatsächliche Pflegebedarf im Zeitpunkt der (ungerechtfertigten) Gewährung von 46 Stunden pro Monat auf 40,5 Stunden pro Monat in zwei Bereichen, die für die Zuerkennung des Pflegegeldes maßgeblich waren, reduziert hatte ( 10 ObS 78/17v ). Denn auch in diesem Fall soll die pflegebedürftige Person nicht bessergestellt sein als eine vergleichbare Person, die bei rechtmäßiger Zuerkennung von Pflegegeld bei einem Pflegebedarf von 70 Stunden im Fall der Reduktion des Pflegebedarfs um 5,5 Stunden pro Monat die Entziehung des Pflegegeldes hinnehmen müsste, weil der Pflegebedarf nur 64,5 Stunden betrüge (vgl auch 10 ObS 40/20k).

In einem weiteren Fall wurde irrtümlich ein Pflegegeld der Stufe 3 infolge Annahme einer hochgradigen Sehbehinderung gewährt (diagnosebezogene Mindesteinstufung), die nicht vorlag. Zum Entziehungszeitpunkt lag der funktionsbezogene Pflegebedarf, der zum Gewährungszeitpunkt gleich war, unter 65 Stunden. Auch in diesem Fall vertrat der Oberste Gerichtshof die Auffassung, dass die Klägerin, der Pflegegeld ursprünglich zu Unrecht zuerkannt worden sei, und deren Gesichtsfeld sich verbessert habe, nicht bessergestellt sein sollte als eine vergleichbare Person, der Pflegegeld rechtmäßig zuerkannt worden sei und infolge der Verbesserung des Gesichtsfelds mit der Folge, nicht mehr hochgradig sehbehindert zu sein, eine Entziehung des Pflegegeldes hinnehmen müsste (10 ObS 119/23g).

Nichts anderes kann hier gelten.

Vorweg ist allerdings darauf hinzuweisen, dass der Pflegebedarf zum Zeitpunkt der Gewährung nicht 122,5, sondern 112,5 Stunden betrug und überdies nicht gänzlich nachvollziehbar ist. Dies betrifft insbesondere den Pflegebedarf in Ansehung der Verrichtung der Notdurft (Reinigung nach der großen Notdurft) im Ausmaß von 2,5 Stunden sowie die Pflegemaßnahmen im Zusammenhang mit der Intimhygiene bei der Regelblutung im Ausmaß von 3 Stunden. Da die Gewährung des Pflegegeldes ursprünglich im Jahr 2022 erfolgte, ist nicht erkennbar, aus welchen Gründen dieser Pflegebedarf seinerzeit nicht bestanden haben soll (womit sich ein Pflegebedarf von 118 Stunden ergäbe). Ob zum Gewährungszeitpunkt bereits ein Pflegebedarf für das Auftragen des Cortisonschaums bestand, kann nicht gesagt werden. Es bedarf diesbezüglich aber keiner näheren Abklärung mehr, weil auch unter Hinzurechnung weiterer 6,5 Stunden zum Gewährungszeitpunkt kein Pflegebedarf im Ausmaß der Stufe 3 (ohne den Hilfsbedarf für das Heizen) zu erzielen wäre.

Ausgehend davon, dass der Klägerin zum Zeitpunkt der Gewährung zu Unrecht ein Pflegegeld der Stufe 3 zuerkannt wurde, es jedoch in einem maßgeblichen Punkt, nämlich beim Pflegebedarf der Mobilitätshilfe im engeren Sinn insofern zu einer Besserung gekommen ist, als dieser nunmehr wegfällt (Reduktion des gesamten Pflegebedarfs um 7,5 Stunden), war die Herabsetzung des Pflegegeldes auf die Stufe 2 im Sinne der dargestellten Judikatur gerechtfertigt, zumal der Pflegebedarf zum Herabsetzungszeitpunkt nur mehr 111,5 Stunden beträgt.

In Stattgebung der Berufung der Beklagten war das angefochtene Urteil daher abzuändern und der Klägerin ein Pflegegeld der Stufe 2 in Wiederholung des Bescheids zuzuerkennen, das Klagebegehren auf Zahlung eines höheren Pflegegeldes hingegen abzuweisen.

Eine Kostenentscheidung entfällt schon deshalb, weil Kosten nicht verzeichnet wurden.

Die Revision nach § 502 Abs 1 ZPO war nicht zuzulassen, weil sich das Berufungsgericht auf bereits bestehende, gesichert erscheinende Judikatur stützen konnte.