3Ob84/25m – OGH Entscheidung
Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Hon. Prof. Dr. Brenn als Vorsitzenden sowie die Hofrätinnen Dr. Weixelbraun Mohr und Dr. Kodek und die Hofräte Dr. Stefula und Mag. Schober als weitere Richter in der Pflegschaftssache des mj *, geboren * 2018, wohnhaft bei der Mutter: *, vertreten durch Mag. Julia Karall, Rechtsanwältin in Wiener Neustadt, Vater: *, vertreten durch Mag. Marawan Mansour, Rechtsanwalt in Wien, wegen Obsorge und Kontaktrechts, über den Revisionsrekurs der Mutter gegen den Beschluss des Landesgerichts Wiener Neustadt als Rekursgericht vom 31. März 2025, GZ 16 R 81/25p 77, mit dem der Beschluss des Bezirksgerichts Wiener Neustadt vom 17. Jänner 2025, GZ 1 Ps 102/22k 66, bestätigt wurde, den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Dem Revisionsrekurs wird teilweise Folge gegeben.
Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, dass der Beschluss auf Entziehung der Obsorge der Mutter im Teilbereich „schulische Angelegenheiten“ ersatzlos behoben wird.
Im Übrigen wird der angefochtene Beschluss bestätigt.
Text
Begründung:
[1] Beide Elternteile vereinbarten nach der am 7. 4. 2022 erfolgten Scheidung ihrer Ehe am 29. 9. 2022 vor dem Pflegschaftsgericht, für ihr am 1. 9. 2018 geborenes Kind weiterhin jeweils obsorgeberechtigt zu sein, und dass sich dessen hauptsächlicher Aufenthalt bei der Mutter befindet. Gleichzeitig wurde eine später wiederholt modifizierte Kontaktrechtsregelung getroffen, nach der der Vater bisher das Kind grundsätzlich jede zweite Woche am Wochenende sowie über mehrere Wochen im Sommer bei sich hatte .
[2] Soweit für das Revisionsrekursverfahren von Relevanz, beantragte die Mutter am 30. 4. 2024 und neuerlich am 4. 10. 2024, dem Vater nur mehr ein begleitetes Kontaktrecht zu gewähren, was sie damit begründete, das Kind habe im Zuge der Kontaktrechtsausübung Gewalt erfahren; die neue Frau des Vaters habe dieses wiederholt geschlagen.
[3] Der Vater nahm dazu vor Gericht dahin Stellung, dass er die Vorwürfe ernst nehme und um Aufklärung bemüht sei.
[4] Das Erstgericht wies den Antrag der Mutter ab (Spruchpunkt 2), fasste unter einem den Beschluss, ihr von Amts wegen die Obsorge im Teilbereich „schulische Angelegenheiten“ zu entziehen (Spruchpunkt 1), und wies (in Rechtskraft erwachsen) Anträge des Vaters auf Verhängung von Beugestrafen gegen die Mutter ab (Spruchpunkt 3). Es nahm folgenden Sachverhalt als erwiesen an:
„ In einem Gespräch mit einer Psychotherapeutin im Kinderschutzzentrum 'Möwe' zeigte der Minderjährige vor, dass er von der Lebensgefährtin des Kindesvaters zwei Schläge ins Gesicht bekommen haben soll. Diese Aussage tätigte es aber erst, nachdem es die Mutter zum Vorzeigen aufgefordert hatte. Ohne Aufforderung durch die Kindesmutter sprach es nicht von körperlichen Übergriffen durch die Stiefmutter.
Die Gewaltvorwürfe betreffen den Zeitraum Herbst/Winter 2023. Die Kontakte des Kindes mit dem Kindesvater fanden danach und finden auch bis dato unbegleitet statt und ersuchte die Kindesmutter den Kindesvater auch bereits mehrfach, zusätzlich zur bestehenden Kontaktrechtsregelung Zeit mit dem Kind zu verbringen. Im Sommer 2024 verbrachte das Kind mehrere Wochen alleine mit dem Kindesvater.
Das mj Kind leidet seit 2021 an einem Gehirntumor. Der Tumor löst starke Einschränkungen in der Fein und Grobmotorik und im Gleichgewichtssinn aus. Ferner hört das Kind auf einem Ohr nicht und ist die Sehkraft deutlich reduziert. Aufgrund des Gesundheitszustandes ihres Kindes kamen die Eltern überein, das Kind eine Vorschule besuchen zu lassen. Zudem wurde ihnen auch empfohlen, das Kind ein Jahr länger im Kindergarten zu belassen. Trotz der Übereinkunft der Kindeseltern hinsichtlich der Vorschule brachte die Kindesmutter einen Widerspruch gegen die Entscheidung der Schule, das Kind in die Vorschule einzustufen, ein. Nach Stattgabe des Widerspruchs wurde das Kind in die Regelschulklasse eingestuft. Über den Widerspruch informierte die Kindesmutter den Kindesvater nicht. Außerdem erteilte die Kindesmutter der Schule keine Informationen über die körperlichen Einschränkungen des Kindes. Sie sprach lediglich von einer Operation, die der Schulreife nicht entgegenstehe.
Der Schulalltag in der Regelschulklasse ist für den Minderjährigen überfordernd: Er ist oft bereits am Vormittag sehr erschöpft und legt sich dann während des Unterrichts auf den Boden, um sich zu erholen. Nach dem Unterricht schlief er bereits mehrmals auf dem Gang ein. Ferner kann er nicht selbstständig Stiegensteigen und benötigt dabei Hilfe. Aufgrund dieser Umstände wurde in einem Elterngespräch entschieden, das Kind in die Vorschule zurückzustufen. “
[5] Rechtlich vertrat das Erstgericht die Ansicht, aus dem Sachverhalt ergebe sich, dass die M utter nicht in der Lage sei , ihr Kind in schulischen Angelegenheiten angemessen und seinen Bedürfnissen entsprechend zu vertreten. Sie habe wider besseren Wissens der amtlich festgestellten mangelnden Schulreife des Minderjährigen widersprochen, wodurch dieser in einer Regelschule eingeschult worden sei , welche ihn massiv überfordert und gravierende negative Auswirkungen auf ihn gehabt habe. Darin liege eine eklatante Kindeswohlgefährdung begründet. Aufgrund der widersprüchlichen Aussagen zu den schulischen Entscheidungen während der Parteieneinvernahme und ihresambivalenten Gesamtverhaltens sei nicht anzunehmen, dass die Mutter iSd § 24 Abs 2 ABGB die notwendige Entscheidungsfähigkeit aufweise. Ihre geminderte Entscheidungsfähigkeit habe zu einer noch andauernden Kindeswohlgefährdung geführt. Im Ergebnis seidaher die Entziehung der gesetzlichen Vertretung in schulischen Angelegenheiten nach §§ 181 iVm 158 Abs 2 ABGB gerechtfertigt.
[6] Zur Abweisung des Antrags der Mutter, dem Vater nur begleitete Kontakte zu gewähren, führte das Erstgericht aus, n ach der festgestellten Tatsachengrundlage bestehe bei der unbegleiteten Ausübung des Kontaktrechts durch den V ater keine konkrete Gefährdung des Kindeswohls, und es lägen, weil die angeblichen Gewalthandlungen bereits über ein Jahr zurücklägen und in der Zwischenzeit nicht nur unbegleitete Kontakte stattgefunden, sondern die Eltern auch ein unbegleitetes Kontaktrecht vereinbart hätten , keine Umstände vor, die zur Antragstellung berechtigten.
[7] Das Rekursgericht bestätigte die von der Mutter mit Rekurs angefochtenen Spruchpunkte 1 und 2 des erstgerichtlichen Beschlusses.
[8] Gegen diese Entscheidung richtet sich der wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung erhobene Revisionsrekurs der Mutter mit dem Antrag auf ersatzlose Behebung des von Amts wegen gefassten Spruchpunkts 1 des erstgerichtlichen Beschlusses und auf Abänderung des Spruchpunkts 2 dahin, dass dem Vater nur mehr ein begleitetes Kontaktrecht eingeräumt werde.
[9] Der Vater beantragt in der ihm vom Obersten Gerichtshof freigestellten Revisionsrekursbeantwortung , das Rechtsmittel zurückzuweisen, hilfsweise diesem den Erfolg zu versagen.
Rechtliche Beurteilung
[10]Der Revisionsrekurs ist gemäß § 62 Abs 1 AußStrG zulässig, weil die Beurteilung der Vorinstanzen, dass die Voraussetzungen für einen Eingriff nach § 181 ABGB vorlägen, korrekturbedürftig ist, und teilweise berechtigt .
[11]1. Gemäß § 181 Abs 1 ABGB hat dann, wenn die Eltern durch ihr Verhalten das Wohl des minderjährigen Kindes gefährden, das Gericht, von wem immer es angerufen wird, die zur Sicherung des Wohles des Kindes nötigen Verfügungen zu treffen. Insbesondere darf das Gericht die Obsorge für das Kind ganz oder teilweise entziehen. Gemäß § 182 ABGB darf durch eine Verfügung nach § 181 ABGB das Gericht die Obsorge nur so weit beschränken, als dies zur Sicherung des Wohles des Kindes nötig ist.
[12]2. Gründe für den Entzug der Obsorge im Bereich der Erziehung sind etwa der Verlust der Erziehungsfähigkeit zufolge einer psychischen Erkrankung (1 Ob 4/12p; 8 Ob 7/14h; 5 Ob 183/17y) oder aufgrund von Alkoholmissbrauch (3 Ob 2157/96v; 9 Ob 21/03h; 4 Ob 201/19s). Solches liegt bei der Mutter nicht vor.
[13] 3. Die Vorinstanzen begründen den Entzug der Obsorge im Bereich der Erziehung mit dem Widerspruch der Mutter gegen die Einstufung des Kindes als nicht schulreif.
[14] 3.1. Gemäß § 6 Abs 2b Schulpflichtgesetz 1985 ist ein Kind s chulreif, „wenn 1. es die Unterrichtssprache so weit beherrscht, dass es dem Unterricht in der ersten Schulstufe ohne besondere Sprachförderung zu folgen vermag, und 2. angenommen werden kann, dass es dem Unterricht in der ersten Schulstufe zu folgen vermag, ohne körperlich oder geistig überfordert zu werden“. Die Feststellung der Schulreife erfolgt über standardisierte Verfahren (§ 6 Abs 2c Schulpflichtgesetz 1985 iVm § 4 Abs 2a Schulunterrichtsgesetz). Gegen die Entscheidung über die Schulreife ist ein Widerspruch an die zuständige Schulbehörde zulässig (§ 27 Abs 1 Satz 2 Schulpflichtgesetz 1985).
[15]3.2. Die Mutter erhob hier – wie aus der unstrittig echten und damit vom Obersten Gerichtshof verwertbaren Beilage ./H ersichtlich (vgl RS0121557 [T3]; zum Außerstreitverfahren: 2 Ob 134/21a [Rz 14]; 7 Ob 194/21m [Rz 2]; 1 Ob 3/22f [Rz 8]) – folgenden Widerspruch:
„ Ich möchte ein Einspruch gegen dass mein Kin * nicht schulreif ist machen . Ich bin der Meinung das er vieles für Schule schafft zb Vorschulübungen ect . Er beherrscht auch die Deutsche Sprache . Ich denke Sie haben mich bei der Sache dass er eine Op hatte falsch verstanden . Dieses hat keinen Einfluss auf dass er in die Schule kommt . Ich denke dass er sich in der Vorachule sehr langweilen würde und ich möchte dass mein Kind altersgemäß gefördert wird und nicht langeweile bekommt . Ich sehe sehr das seine Interresse beim Lernen da ist . Liebe Grüße “
[16] 3.3. Aus dem Sachverhalt lässt sich nicht ableiten, dass die Mutter den Widerspruch „wider besseres Wissen“ über die – damals wohl nicht gegebene – Schulreife des Kindes erhoben hat. In ihrem Widerspruch brachte sie letztlich nur zum Ausdruck, dass sie an einer alters und kindgerechten schulischen Förderung ihres Kindes interessiert ist und dieses die deutsche Sprache beherrscht und auch lernen will. Entgegen der Beurteilung des Erstgerichts wurde das Kind auch nicht „durch“ den Widerspruch der Mutter in einer Regelschulklasse eingeschult, zumal der Widerspruch nur dazu führte, dass die Schulbehörde die Schulreife des Kindes zu überprüfen und darüber pflichtgemäß zu entscheiden hatte. Aus der Entscheidung der Schulbehörde ergibt sich aber gerade nicht, dass der Widerspruch der Mutter auch nur unvertretbar gewesen wäre.
[17] Im Übrigen ist es vollkommen verständlich, dass der Elternteil auch eines Kindes mit Einschränkungen bestrebt ist, für dieses die nach den Gegebenheiten bestmögliche schulische Ausbildung zu erhalten und dieses nach Möglichkeit im Regelschulbetrieb unterzubringen. Die Einstufung des Kindes als schulreif durch die Schulbehörde mag hier ex post betrachtet zu Unrecht erfolgt sein. Daraus kann aber jedenfalls nicht abgeleitet werden, dass die Mutter aufgrund ihres Widerspruchs nicht erziehungsfähig sei.
[18] 4. Obder vom Erstgericht weiters herangezogene Umstand, die Mutter hätte bei ihrer Parteienvernehmung widersprüchliche Aussagen gemacht und ein „ambivalentes Gesamtverhalten“ gezeigt, zutrifft, kann dahingestellt bleiben, weil auch derartige Vorwürfe keine Entziehung der Obsorge im Bereich der Erziehung rechtfertigen könnten. Im Übrigen ist nicht ersichtlich, dass die in Rede stehende Maßnahme des Erstgerichts iSd § 182 ABGB „zur Sicherung des Wohles des Kindes nötig ist“.
[19] Spruchpunkt 1 des erstgerichtlichen Beschlusses hat daher ersatzlos zu entfallen.
[20] 5. Beizupflichten ist demgegenüber der Beurteilung der Vorinstanzen, der gegen die neue Frau des Vaters bestehende Verdacht der Ausübung physischer Gewalt gegen das Kind rechtfertige nicht, dem Vater nur ein begleitetes Kontaktrecht zu gewähren. Zum einen liegt der Zeitraum der vermeintlichen Taten bereits eineinhalb Jahre zurück und zum anderen fehlt jeglicher Hinweis darauf, dass der Vater die Gewaltausübung befürwortete. Vielmehr hat er – aus Sicht des Erstgerichts offensichtlich glaubwürdig – versichert, der Sache nachzugehen und somit eine (vermeintlich) neuerliche Gewaltausübung durch seine neue Frau zu unterbinden. Insoweit erweist sich der Revisionsrekurs als nicht berechtigt.