JudikaturJustizBsw76718/01

Bsw76718/01 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
02. September 2004

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer I, Beschwerdesache Wilhelm Zuckerstätter und Christian Reschenhofer gegen Österreich, Zulässigkeitsentscheidung vom 2.9.2004, Bsw. 76718/01.

Spruch

Art. 6 EMRK, Art. 2 7. ZP EMRK, § 5 Abs. 2 StVO, § 99 Abs. 1 lit. b StVO - Fairness und Dauer eines Verwaltungsstrafverfahrens. Zurückweisung der Beschwerde (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

1.) Am 22.3.1995 erließ die BH Braunau gegen den ErstBf. wegen Verweigerung eines Alkoholtests ein Straferkenntnis nach § 5 (2) iVm.

§ 99 (1) (b) StVO. Der UVS Oberösterreich, der über ein Rechtsmittel gegen dieses Straferkenntnis zu entscheiden hatte, hob es am 9.5.1995 auf, da für den ErstBf. keine Verpflichtung zum Alkoholtest bestanden habe. Das Verfahren wurde eingestellt.

Am 7.5.1996 erhob der Bundesminister für Wissenschaft, Verkehr und Kunst gegen diese Entscheidung des UVS nach Art. 131 (1) Z.2 B-VG Amtsbeschwerde an den VwGH, der die Entscheidung des UVS am 26.1.2001 aufhob und die Sache zur neuerlichen Entscheidung zurückverwies. Der VwGH stützte sich vor allem darauf, dass ein Auto bereits mit dem Starten des Motors in Betrieb genommen werde. Aufgrund dessen hätten die Behörden feststellen müssen, dass eine Verwaltungsübertretung nach § 5 (2) iVm. § 99 (1) (b) StVO vorlag.

Am 13.3.2001 hob der UVS neuerlich das Straferkenntnis der BH Braunau auf und zwar mit der Begründung, dass die subjektiven Tatbestandselemente nicht erfüllt seien. Das Verfahren wurde eingestellt. Am 23.7.2001 erhob der Bundesminister für Verkehr, Innovation und Technologie Amtsbeschwerde gegen diese Entscheidung an den VwGH, welcher am 19.10.2001 die Bsw. als verspätet zurückwies. Diese Entscheidung wurde dem Anwalt des ErstBf. am 3.12.2001 zugestellt.

2.) Gegen den ZweitBf. erließ die BH Braunau am 24.3.1997 eine Strafverfügung wegen rücksichtslosen Fahrens. Nach einem Einspruch des ZweitBf. wurde das ordentliche Verfahren eingeleitet, in dem der ZweitBf. ua. ein Gutachten eines Sachverständigen beantragte. Die BH Braunau bestätigte am 30.6.1997 mit Straferkenntnis obige Strafverfügung. Nach einer vom ZweitBf. dagegen erhobenen Berufung hielt der UVS am 19.8.1997 eine öffentliche Verhandlung ab, in der auch zwei Zeugen gehört wurden. Am gleichen Tag wurde die Berufung des ZweitBf. abgewiesen. In seiner am 9.9.1997 an den VfGH erhobenen Bsw. führte der ZweitBf. ua. an, dass der UVS seinen Antrag auf einen Sachverständigen ohne Angabe von Gründen abgelehnt hatte. Am 27.11.1997 hob der VfGH die Entscheidung des UVS auf. Am 30.12.1997 wies der UVS ohne eine weitere Anhörung erneut den Einspruch des Bf. gegen das Straferkenntnis vom 30.6.1997 zurück. Dagegen brachte der ZweitBf. im Februar 1998 sowohl beim VfGH als auch beim VwGH Bsw. ein. Diese wurden jedoch wegen fehlender Erfolgsaussichten bzw. wegen Geringfügigkeit (§ 33a VwGG) im Dezember 1998 bzw. im August 2001 abgewiesen. Die Entscheidung des VwGH wurde dem Anwalt des ZweitBf. im September 2001 zugestellt.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Beide Bf. behaupten eine Verletzung von Art. 6 EMRK (hier: Recht auf angemessene Verfahrensdauer).

Der ErstBf. behauptet eine Verletzung von Art. 6 (1) EMRK (hier: Recht auf ein faires Verfahren), da erstens vor dem UVS und dem VwGH keine mündliche Verhandlung stattgefunden habe und die Entscheidungen nicht öffentlich verkündet worden seien. Zweitens beschwert er sich über die Möglichkeit des Ministers, ein Jahr nach der Entscheidung des UVS Amtsbeschwerde zu erheben.

Der ZweitBf. rügt, dass der UVS im zweiten Verfahrensgang ohne öffentliche Verhandlung entschieden und dass er die Bestellung eines Sachverständigen abgelehnt habe. Dies stelle eine Verletzung von Art. 6 EMRK (hier: Recht auf ein faires Verfahren) und Art. 6 (2) und (3) (d) EMRK (hier: Unschuldsvermutung und Recht auf Vernehmung von Entlastungszeugen) dar.

Der ZweitBf. behauptet außerdem eine Verletzung von Art. 2 7.ZP EMRK (Recht auf Überprüfung durch ein übergeordnetes Gericht).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 EMRK:

Bezüglich des ErstBf.: Zuerst hat der GH zu klären, ob Art. 6 EMRK überhaupt auf Verfahren über Amtsbeschwerden eines Ministers anwendbar ist. Da es in dem mit der Amtsbeschwerde zusammenhängenden Verfahren um „die Stichhaltigkeit der strafrechtlichen Anklage" ging, ist Art. 6 EMRK anwendbar.

Der GH stellt im Licht der anhand seiner st. Rspr. aufgestellten Kriterien bezüglich der angemessenen Verfahrensdauer fest, dass eine meritorische Prüfung der Bsw. notwendig ist. Dies trifft auch für die Bsw. des ZweitBf zu.

Zu den sonstigen behaupteten Verletzungen von Art. 6 (1) EMRK im Fall des ErstBf.:

Bezüglich des ersten Teils stellt der GH fest, dass der ErstBf. mit seinen Rechtsmitteln erfolgreich war und er daher keine Verletzung von Art. 6 (1) EMRK mehr behaupten kann. Die Beschwerde ist daher als offensichtlich unbegründet nach Art. 35 (3) und (4) EMRK zurückzuweisen.

Bezüglich der Erhebung der Amtsbeschwerde ein Jahr nach der Entscheidung des UVS stellt der GH fest, dass der ErstBf. diese mögliche Verletzung von Art. 6 (1) EMRK in seinen Ausführungen an den VwGH nicht vorgebracht hat. Die Bsw. ist daher nach Art. 35 (1) und

(4) EMRK wegen Nichterschöpfung des innerstaatlichen Instanzenzuges zurückzuweisen.

Zu den behaupteten Verletzungen von Art. 6 EMRK im Fall des ZweitBf.:

Bezüglich der fehlenden mündlichen Verhandlung stellt der GH fest, dass bei Durchführung einer solchen im ersten Verfahren ihr Fehlen in weiteren Verhandlungen durch die speziellen Umstände des Falles gerechtfertigt sein konnte. Im zweiten Verfahren vor dem UVS waren keine Tatsachen-, sondern nur Rechtsfragen zu lösen, die auch aus dem Verfahrensakt beantwortbar waren. Außerdem hatte der ZweitBf. für das zweite Verfahren vor dem UVS keine mündliche Verhandlung beantragt. Es liegen somit keine Anhaltspunkte für eine Verletzung von Art. 6 EMRK vor.

Bezüglich der Ablehnung des Sachverständigen stellt der GH fest, dass der ZweitBf. in der Verhandlung vor dem UVS seinen diesbezüglichen schriftlichen Antrag nicht wiederholt hat. Es bestehen daher Zweifel, ob er die innerstaatlichen Rechtsmittel ausgeschöpft hat. Der GH stellt auch fest, dass Art. 6 EMRK nicht das unbegrenzte Recht zur Benennung von Zeugen beinhaltet. Da im Verfahren vor dem UVS genügend Möglichkeiten zur Widerlegung der Anschuldigungen bestanden haben, war das Verfahren nicht unfair. Die Bsw. ist daher als offensichtlich unbegründet nach Art. 35 (3) und (4) EMRK zurückzuweisen.

Zur behaupteten Verletzung von Art. 2 7.ZP EMRK:

Der GH stellt fest, dass diese Bsw. verspätet eingebracht wurde und daher nach Art. 35 (1) und (4) EKMR zurückzuweisen ist.

Vom GH zitierte Judikatur:

Jan-Ake Anderson/S v. 29.10.1991, A/212-B (= NL 1992/1, 13 = EuGRZ

1991, 419 = ÖJZ 1992, 307):

Bulut/A v. 22.2.1996 (= NL 1996, 44 = ÖJZ 1996, 430).

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über die Zulässigkeitsentscheidung des EGMR vom 2.9.2004, Bsw. 76718/01, entstammt der Zeitschrift „ÖIM-Newsletter" (NL 2004, 221) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Die Zulässigkeitsentscheidung im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/04_5/Zuckerstaetter.pdf

Das Original der Zulässigkeitsentscheidung ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rechtssätze
3
  • RS0108489OGH; AUSL EGMR Rechtssatz

    17. Januar 2018·3 Entscheidungen

    Die in der Äußerung des Angeklagten zur Stellungnahme der Generalprokuratur mit dem Hinweis auf ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in einem Verwaltungsverfahren (Fall Zumtobel gegen Österreich), in dem in der Regel keine öffentliche Verhandlung stattfindet, erhobene Forderung auf Anberaumung eines Gerichtstages ist nicht zielführend. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat wiederholt - insbesondere im Zusammenhang mit dem Nichtigkeitsverfahren vor dem österreichischen Obersten Gerichtshof - ausgesprochen, daß eine Verhandlung vor dem Rechtsmittelgericht nicht erforderlich ist, wenn in erster Instanz eine öffentliche Verhandlung stattgefunden hat und die Beweiswürdigung des Erstgerichtes nach innerstaatlichen Bestimmungen durch das Rechtsmittelgericht nicht zu prüfen ist (Urteil vom 22.Februar 1996, Nr 59/1994/506/588 = ÖJZ 1996, 430; Urteil vom 19.Februar 1996, Nr 50/1994/497/579 = ÖJZ 1996, 675; jeweils mit Zitaten von Vorjudikatur; Frowein/Peukert MRK-Komm2 Art 6 RN 95,118). Dem aus Art 6 MRK abgeleiteten Prinzip der Waffengleichheit wird dadurch genüge getan, daß - wie vorliegend - der Verteidiger Gelegenheit hatte, sich (als letzter vor der Entscheidung des Obersten Gerichtshofes) zur Stellungnahme der Generalprokuratur zu äußern (vgl Fall Bulut gegen Österreich = ÖJZ 1996,430).