JudikaturJustizBsw7215/10

Bsw7215/10 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
03. März 2016

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer V, Beschwerdesache Prade gg. Deutschland, Urteil vom 3.3.2016, Bsw. 7215/10.

Spruch

Art. 6 Abs. 1 EMRK - Verwendung rechtswidrig erlangter Beweismittel im Strafverfahren.

Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig).

Keine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Im September 2004 ordnete das Amtsgericht München auf Antrag der Staatsanwaltschaft einen Durchsuchungsbefehl hinsichtlich der Wohnung des Bf. an. Er stand unter dem Verdacht, Copyright-Piraterie betrieben zu haben, indem er gefälschte Waren wie Uhren und Computerprogramme verkauft habe. Im Dezember 2004 wurde die Wohnung des Bf. durchsucht. Dabei fand die Polizei keinen der gesuchten Gegenstände, jedoch entdeckte sie durch Zufall eine große Menge (463,732 Gramm) Haschisch, die für mehr als 2.600 Konsumeinheiten ausreichte. Anschließend wurde das Verfahren wegen der Copyright-Piraterie eingestellt und ein neues Verfahren auf Grund des Verdachts des Besitzes und Handelns mit einer beträchtlichen Menge an Drogen gegen den Bf. eröffnet.

Der Bf. legte Beschwerde gegen den Hausdurchsuchungsbefehl ein, welche vom Amtsgericht und Landgericht abgewiesen wurde. Anschließend reichte er beim BVerfG eine Beschwerde ein, das am 13.11.2005 feststellte, dass die Durchsuchung rechtswidrig war und den Durchsuchungsbefehl sowie die Entscheidungen der Vorinstanzen aufhob. Nachdem die wenigen Hinweise, die den Verdacht unterstützten, dass der Bf. Copyright-Piraterie begangen haben könnte, dem massiven Eingriff in sein Grundrecht auf Achtung seiner Wohnung gegenüberstanden, hielt das BVerfG fest, dass der Durchsuchungsbefehl und die darauffolgende Hausdurchsuchung nicht verhältnismäßig gewesen wären.

Im Januar 2006 verurteilte das Amtsgericht Hamburg den Bf. wegen Besitzes einer erheblichen Menge an Drogen in einem minderschweren Fall zu zehn Monaten Haft auf Bewährung. Die Verurteilung beruhte ausschließlich auf dem Haschisch-Fund bei der Hausdurchsuchung im Dezember 2004. Der Bf. erhob gegen diese Entscheidung Berufung und stützte sich darauf, dass die Beweismittel aus der Hausdurchsuchung aufgrund des Urteils des BVerfG vom November 2005 nicht zugelassen hätten werden dürfen, und dass die Beschlagnahme des Haschisch nicht von dem rechtswidrigen Durchsuchungsbefehl gedeckt sein konnte.

Das Berufungsgericht hob das Urteil des Amtsgerichts auf und verwies den Fall zurück an dieses, feststellend, dass das Amtsgericht nicht ausreichend geprüft habe, ob das in der Wohnung des Bf. gefundene Haschisch auch ihm gehörte, insbesondere unter den Umständen, dass der Bf. die Wohnung mit anderen teilte. Allerdings könne das gefundene Haschisch als Beweis gegen den Bf. verwendet werden. In der Folge gab der Bf. eine Erklärung ab, wonach der Raum, in dem das Haschisch gefunden wurde, ausschließlich von ihm genutzt wurde.

Im April 2007 wurde der Bf. vom Amtsgericht Hamburg freigesprochen, das entschied, dass das gefundene Haschisch nicht als Beweismittel gegen ihn benutzt werden durfte, da die Ausstellung eines Durchsuchungsbefehls nicht gerechtfertigt gewesen wäre. Der Freispruch wurde anschließend vom Landgericht Hamburg aufgehoben, welches ihn wiederum für schuldig erklärte und zu sechs Monaten Haft verurteilte. Das OLG Hamburg bestätigte die Verurteilung im Hinblick auf die Schwere der Straftat und das öffentliche Interesse, die das persönliche Interesse des Bf. an der Achtung seines Rechts auf Wohnung überwiegen würden. Die Hausdurchsuchung sei zudem nicht willkürlich gewesen und die Menge des gefundenen Haschisch hätte theoretisch eine Hausdurchsuchung gerechtfertigt.

Am 2.7.2009 wies das BVerfG die vom Bf. eingereichte Verfassungsbeschwerde ab.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. rügte, dass die Verwendung der Beweismittel, die durch die Vollstreckung eines rechtswidrigen Durchsuchungsbefehls erlangt wurden, seine Rechte aus der EMRK verletzen. Er behauptet eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren) und von Art. 8 EMRK (hier: Recht auf Achtung des Privatlebens und der Wohnung).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 EMRK

Zur Zulässigkeit

(29) Der GH stellt fest, dass diese Beschwerde nicht offensichtlich unbegründet iSv. Art. 35 Abs. 3 lit. a EMRK und nicht aus anderen Gründen unzulässig ist. Sie ist daher für zulässig zu erklären (einstimmig).

Entscheidung in der Sache

(32) Der GH erinnert daran, dass Art. 6 EMRK das Recht auf ein faires Verfahren garantiert, jedoch nicht die Zulässigkeit von Beweismitteln als solche regelt, was in erster Linie in den Zuständigkeitsbereich nationaler Regelungen fällt.

(33) Es ist angesichts dessen nicht die Aufgabe des GH, grundsätzlich zu bestimmen, ob bestimmte Arten von Beweismitteln – wie zum Beispiel Beweise, die rechtswidrig im Sinne innerstaatlichen Rechts erlangt wurden – zulässig sein können, oder sogar, ob der Bf. schuldig war oder nicht. Die Frage, welche beantwortet werden muss, ist, ob das Verfahren als Ganzes fair war, einschließlich der Art und Weise der Beweiserlangung. Dies beinhaltet die Untersuchung der in Frage stehenden Rechtswidrigkeit und die Art der vorliegenden Verletzung, wo die Verletzung eines anderen Konventionsrechts betroffen ist.

(34) Bei der Bestimmung, ob das Verfahren als Ganzes fair war, muss auch berücksichtigt werden, ob die Verteidigungsrechte ausreichend respektiert wurden. Es muss insbesondere festgestellt werden, ob der Bf. die Möglichkeiten hatte, die Echtheit der Beweise anzufechten und ihrer Verwendung zu widersprechen. Darüber hinaus muss die Qualität des Beweises berücksichtigt werden, einschließlich dessen, ob die Umstände unter denen er erlangt wurde, Zweifel an seiner Zuverlässigkeit und Genauigkeit aufwerfen. Während ein Problem mit der Fairness nicht zwangsläufig entsteht, wenn der erlangte Beweis nicht durch andere Materialien gestützt wurde, sei darauf hingewiesen, dass dort, wo der Beweis sehr stark ist und kein Risiko der Unzuverlässigkeit besteht, die Notwendigkeit weiterer Beweise entsprechend schwächer ist.

(35) Des Weiteren kann bei der Beurteilung, ob das Verfahren als Ganzes fair war, das Gewicht des öffentlichen Interesses an der Untersuchung und Bestrafung der jeweiligen Straftat herangezogen werden und gegen die Interessen des Einzelnen, dass die Beweise gegen ihn rechtmäßig gesammelt worden sind, abgewogen werden.

(36) Bei der Beurteilung, ob das Verfahren des Bf. im Lichte der obigen Prinzipien fair gewesen ist, hat der GH zunächst die »Rechtswidrigkeit« der Erhebung der Beweise im Fall des Bf. zu überprüfen.

(37) Der GH stellt zunächst fest, dass die im Zusammenhang mit einem anderen strafrechtlichen Verfahren gegen den Bf. durchgeführte Hausdurchsuchung, die zur Entdeckung der Drogen führte, nicht im Einklang mit dem nationalen Recht war. Das BVerfG hob den Durchsuchungsbefehl auf, weil er auf zu wenige Indizien gegründet war, um den Verdacht zu bestärken, der Bf. habe Copyright-Piraterie begangen [...]. Allerdings erlangten die Behörden, wie von Art. 13 GG vorgeschrieben, vor der Durchsuchung eine richterliche Genehmigung. Nichts weist im vorliegenden Fall darauf hin, dass die Polizei bösgläubig handelte oder vorsätzlich die formalen Regeln verletzte, als sie den Durchsuchungsbefehl erlangte und vollstreckte.

(38) Der GH stellt fest, dass der Bf. die effektive Möglichkeit hatte, gegen die Verwendung des Beweises durch die Vollstreckung des rechtswidrigen Durchsuchungsbefehls vorzugehen. Er legte gegen die Verwendung in allen drei Instanzen Widerspruch ein, mit dem Argument, dass das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung nicht sein Recht auf Schutz seiner Wohnung überwiegen könne. In allen Instanzen wurden seine Argumente durch die Gerichte gebührend berücksichtigt.

(39) Anschließend muss der GH die Qualität der in Frage stehenden Beweise untersuchen. Hinsichtlich der Intensität der Aufdringlichkeit hält der GH fest, dass sich der Fall deutlich von dem Fall Jalloh/D unterscheidet. In Jalloh/D setzten die Behörden den Antragsteller gegen seinen Willen einem besonders schweren Eingriff in seine körperliche und geistige Unversehrtheit aus, weshalb die Beweise durch eine Maßnahme erlangt wurden, die Art. 3 EMRK verletzte – eines der Kernrechte, die durch die EMRK garantiert werden –, während der Beweis im vorliegenden Fall durch eine Maßnahme in Verletzung nationalen Rechts erlangt wurde, die Art. 3 EMRK nicht verletzte. Hinsichtlich der Frage, ob die Umstände, unter denen der Beweis erlangt wurde, Zweifel an seiner Zuverlässigkeit oder Genauigkeit aufwirft, stellt der GH fest, dass zwischen den Parteien unstrittig ist, dass der Beweis in einem Raum der Wohnung gefunden wurde, den ausschließlich der Bf. nutzte. Darüber hinaus wurden die Menge und die Qualität des Haschisch durch einen Sachverständigen festgestellt und diese Ergebnisse wurden vom Bf. in keinem Stadium des Verfahrens in Frage gezogen. Demnach wirft nichts einen Zweifel an der Zuverlässigkeit oder Genauigkeit des Beweises auf.

(40) Hinsichtlich der Bedeutung des umstrittenen Beweises für die strafrechtliche Verurteilung des Bf. stellt der GH fest, dass nach den Feststellungen des BVerfG das angefochtene Material im vorliegenden Fall tatsächlich das einzige Beweismittel gegen den Bf. war. Ferner stellt er fest, dass das Landgericht sich auf die schriftliche Erklärung des Bf. bezog, wonach dieser im Besitz der Drogen war. Der GH erinnert daran, dass die Bedeutung der Existenz von Beweismitteln neben dem angefochtenen Beweismittel von den Umständen des Falls abhängt. Unter den gegebenen Umständen, wo die in der Wohnung des Bf. gefundenen Substanzen einen starken Beweis darstellten und kein Risiko bestand, dass die Beweise unzuverlässig waren, war die Notwendigkeit weiterer Beweise entsprechend schwächer.

(41) Schließlich kann das Gewicht des öffentlichen Interesses an der in Frage stehenden Untersuchung und Bestrafung der speziellen Straftat bei der Bestimmung, ob das Verfahren als Ganzes fair war, berücksichtigt und gegen das Interesse des Individuums abgewogen werden, dass der Beweis gegen ihn rechtmäßig erhoben wurde. Der GH stellt fest, dass die nationalen Gerichte die Argumente des Bf. hinsichtlich des Gebrauchs des Beweises im Einzelnen berücksichtigt haben und sorgfältig begründeten, warum sie der Meinung waren, dass der Beweis, auch wenn er durch eine rechtswidrige Hausdurchsuchung erhoben wurde, als Beweis im betreffenden Strafverfahren verwendet werden konnte. Sie wogen das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung aufgrund des Drogenbesitzes des Bf. gegen die Interessen des Bf. hinsichtlich des Schutzes seines Heimes ab. Anders als im Fall Jalloh/D, bei dem die innerstaatlichen Behörden die Zulassung von Beweismitteln, die durch die gewaltsame Verabreichung von Brechmitteln erlangt wurden, als durch das nationale Recht gedeckt ansahen, waren sich die nationalen Gerichte im vorliegenden Fall ihres Ermessens bewusst, den unrechtmäßig erhaltenen Beweis auszuschließen, als sie den vorliegenden Beweis prüften. Unter diesen Umständen und nachdem die erhebliche Menge von Haschisch, die entdeckt worden war (im Gegensatz zum Fall Jalloh/D, bei dem nur eine kleine Menge Kokain gefunden wurde), von den nationalen Gerichten berücksichtigt wurde, ist ihre Schlussfolgerung, dass das öffentliche Interesse die Grundrechte des Bf. überwog, sorgfältig und eingehend begründet und offenbart keinen Anschein von Willkür oder Unverhältnismäßigkeit.

(42) Nachdem die Sicherheitsmaßnahmen, die die Bewertung der Zulässigkeit und Zuverlässigkeit des betroffenen Beweises umgaben, die Art und der Grad der Rechtswidrigkeit und der Gebrauch der durch die beanstandete Durchsuchung erhobenen Materialien untersucht wurden, stellt der GH fest, dass das Verfahren im Fall des Bf. insgesamt nicht den Anforderungen eines fairen Verfahrens widersprach.

(43) Daraus folgt, dass keine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK vorliegt (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK

(44) Der Bf. rügte zudem, dass der Durchsuchungsbefehl und die Hausdurchsuchung sein Recht auf Achtung seines Privatlebens und seiner Wohnung nach Art. 8 EMRK verletzten.

(45) Der GH stellt in diesem Zusammenhang fest, dass die sechsmonatige Frist nach Art. 35 Abs. 1 EMRK ab dem Zeitpunkt der »endgültigen Entscheidung« zu laufen begann. Hinsichtlich des Durchsuchungsbefehls und der Hausdurchsuchung ist dies die erste Entscheidung des BVerfG vom 13.11.2005. Der GH kommt zu dem Schluss, dass die vorliegende Beschwerde, die am 2.2.2010 eingereicht wurde, in diesem Zusammenhang nach der Sechs-Monats-Frist erhoben wurde. Daraus folgt, dass dieser Teil der Beschwerde als unzulässig gemäß Art. 35 Abs. 1 und 4 EMRK zurückgewiesen werden muss (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Jalloh/D v. 11.7.2006 (GK) = NL 2006, 188 = EuGRZ 2007, 150

Bykov/RUS v. 10.3.2009 (GK) = NL 2009, 77

Kaletsch/D v. 23.6.2009 (ZE)

Lee Davies/B v. 28.7.2009 = NL 2009, 225

Lisica/HR v. 25.2.2010

Szilagyi/RO v. 17.12.2013 (ZE)

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 3.3.2016, Bsw. 7215/10, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2016, 126) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/16_2/Prade.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rechtssätze
3