JudikaturJustizBsw69169/01

Bsw69169/01 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
01. April 2004

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer III, Beschwerdesache Florian Reinmüller gegen Österreich, Zulässigkeitsentscheidung vom 1.4.2004, Bsw. 69169/01.

Spruch

Art. 6 Abs. 2 EMRK, § 2 Abs. 1 lit. b StEG - Unschuldsvermutung und Entschädigung für Untersuchungshaft.

Zulässigkeit der Beschwerde bezüglich der behaupteten Verletzung der Unschuldsvermutung (einstimmig).

Zurückweisung der Beschwerde bezüglich der Höhe des Ersatzes für die Untersuchungshaft (einstimmig).

Zurückweisung der Beschwerde bezüglich der Verweigerung der Einvernahme weiterer Zeugen (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Der Bf. befand sich von 2.5.1999 bis 23.12.1999 und von 27.12.1999 bis 22.5.2000 wegen des Verdachts des Drogenhandels und weiterer Suchtgiftdelikte in Untersuchungshaft. Am 3.7.2000 wurde er vom LG Innsbruck nach dem Grundsatz in dubio pro reo freigesprochen. Das Gericht stellte fest, dass zwar einige Aspekte gegen den Angeklagten sprechen, die vorliegenden Beweise jedoch aufgrund der Unglaubwürdigkeit der Belastungszeugen nicht für eine Verurteilung ausreichen würden. Der Antrag des Bf. auf Einvernahme weiterer Zeugen wurde abgewiesen, weil nach Ansicht des LG Innsbruck die Unglaubwürdigkeit der Belastungszeugen auch ohne weitere Beweise feststand.

Das LG Innsbruck wies noch in derselben Verhandlung unmittelbar nach der Urteilsverkündung einen Antrag des Bf. auf Feststellung eines Entschädigungsanspruches für durch die Haft erlittene vermögensrechtliche Nachteile ab. Das Gericht stellte fest, dass die Voraussetzungen für einen Ersatzanspruch gemäß § 2 (1) lit. b Strafrechtliches Entschädigungsgesetz (StEG) nicht erfüllt wären, da der Verdacht gegen den Bf. durch den bloß aufgrund des Grundsatzes in dubio pro reo erfolgten Freispruch nicht entkräftet worden sei. Die gegen diesen Beschluss erhobene Beschwerde an das OLG Innsbruck wurde am 19.9.2000 abgewiesen. Auf das Urteil des EGMR im Fall Sekanina/A Bezug nehmend, führte das OLG aus, dass die Unschuldsvermutung nur durch eine Entscheidung verletzt werden könne, in der nach dem Freispruch des Angeklagten die Ansicht vertreten werde, der Freigesprochene wäre schuldig. Das LG Innsbruck habe jedoch keine weiteren Feststellungen über den Verdacht gegen den Bf. getroffen. Außerdem stellte das OLG fest, dass der Verdacht gegen den Bf. angesichts der Aussage eines Belastungszeugen weiter bestünde. Der Bf. hatte inzwischen einen Antrag auf Erstattung eines Beitrags zu den Kosten der Verteidigung nach § 393a StPO gestellt. Das LG Innsbruck sprach ihm in teilweiser Stattgebung seines Antrags ATS 20.000,-- (EUR 1.454,--) zu. Der dagegen erhobenen Bsw. gab das OLG Innsbruck statt und sprach dem Bf. den gesetzlichen Höchstbetrag von ATS 30.000,-- (EUR 2.181,--) zu.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. behauptet eine Verletzung von Art. 6 (2) EMRK (Unschuldsvermutung) durch die Verweigerung einer Haftentschädigung und durch die Erstattung von nur ATS 30.000,--, obwohl die Kosten seiner Verteidigung ATS 340.000,-- betragen hätten. Außerdem behauptet er eine Verletzung von Art. 6 (3) (d) EMRK (hier: Recht auf Vernehmung von Entlastungszeugen) durch die Weigerung des LG Innsbruck, weitere Zeugen zu vernehmen.

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 (2) EMRK:

Der Bf. bringt vor, die Begründungen der gerichtlichen Beschlüsse missachteten die Unschuldsvermutung, da sie zum Ausdruck brachten, dass der Verdacht gegen ihn nicht entkräftet sei.

Die Reg. entgegnet, dass der vorliegende Fall vom Urteil Sekanina/A unterschieden werden müsse. Dort sei entscheidend gewesen, dass das Gericht die Frage, ob der Verdacht gegen den Angeklagten entkräftet worden sei, selbst auf der Grundlage der Akten untersuchte und damit die Beweiswürdigung der Geschworenen durch seine eigene ersetzte. Im vorliegenden Fall hingegen habe dasselbe Schöffengericht, das den Freispruch fällte, auch über die Haftentschädigung entschieden und dabei nicht mehr getan, als den Wahrspruch der Schöffen – wonach der Freispruch nur in dubio erfolgte – und die Urteilsbegründung zu wiederholen, ohne dabei gesonderte Feststellungen über die Schuld des Bf. zu treffen. Dasselbe gelte für das OLG Innsbruck. Der GH stellt fest, dass der Fall komplexe Sach- und Rechtsfragen aufwirft und erklärt die Bsw. gemäß Art. 35 (3) EMRK für zulässig (einstimmig).

Was das Vorbringen des Bf. bezüglich der Höhe des Kostenersatzes betrifft, stellt der GH fest, dass weder Art. 6 (2) EMRK noch sonst eine Bestimmung der Konvention einer Person, die einer Straftat angeklagt war, ein Recht auf Kostenersatz oder auf Entschädigung für rechtmäßige Untersuchungshaft gibt, wenn das Verfahren eingestellt wurde. Dieser Teil der Bsw. ist daher als ratione materiae unvereinbar mit der Konvention gemäß Art. 35 (3) und (4) EMRK zurückzuweisen (einstimmig).

Soweit sich das Beschwerdevorbringen auf die Weigerung des LG Innsbruck bezieht, weitere Zeugen anzuhören, ist festzustellen, dass der Bf. freigesprochen wurde und daher nicht länger behaupten kann, Opfer iSv. Art. 34 EMRK zu sein. Auch dieser Teil der Bsw. ist daher gemäß Art. 35 (3) und (4) EMRK zurückzuweisen (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Sekanina/A v. 25.8.1993, A/266-A (= NL 1993/5, 20 = ÖJZ 1993, 816).

Asan Rushiti/A v. 21.3.2000 (= NL 2000, 55 = ÖJZ 2001, 155).

Lamanna/A v. 10.7.2001 (= NL 2001, 147 = ÖJZ 2001, 910).

Vostic/A v. 17.10.2002 (= NL 2002, 219 = ÖJZ 2003, 196).

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über die Zulässigkeitsentscheidung des EGMR vom 1.4.2004, Bsw. 69169/01, entstammt der Zeitschrift „ÖIM-Newsletter" (NL 2004, 66) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Die Zulässigkeitsentscheidung im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/04_2/Reinmueller_A_ZE.pdf

Das Original der Zulässigkeitsentscheidung ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.