JudikaturJustizBsw67175/01

Bsw67175/01 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
15. November 2005

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer IV, Beschwerdesache Reinprecht gegen Österreich, Urteil vom 15.11.2005, Bsw. 67175/01.

Spruch

Art. 5 Abs. 4 EMRK, Art. 6 EMRK, § 182 StPO - Mangelnde Öffentlichkeit von Haftverhandlungen.

Keine Verletzung von Art. 5 Abs. 4 EMRK (einstimmig). Keine gesonderte Prüfung der behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Das LG für Strafsachen Graz verhängte am 6.5.2000 wegen Tatbegehungsgefahr die Untersuchungshaft über den der geschlechtlichen Nötigung verdächtigen Bf.

Am 19.5. bzw. 19.7.2000 ordnete das LG Graz nach der Durchführung von – gemäß § 182 StPO nicht öffentlichen – Haftverhandlungen in Anwesenheit des Bf., seines Verteidigers und des Staatsanwalts jeweils die Fortsetzung der Untersuchungshaft an. Die dagegen erhobenen Beschwerden wurden vom OLG Graz in nichtöffentlicher Sitzung abgewiesen.

Nach Erhebung der Anklage am 26.7.2000 ordnete das LG am 2.8.2000 erneut in nichtöffentlicher Sitzung die Fortsetzung der Untersuchungshaft an. Auch die gegen diesen Beschluss erhobene Beschwerde wurde am 17.8.2000 vom OLG Graz abgewiesen.

Die am 18.9.2000 erhobene Grundrechtsbeschwerde des Bf. wurde vom OGH am 16.10.2000 in nichtöffentlicher Sitzung abgewiesen. Das LG Graz verurteilte den Bf. am 24.10.2000 wegen geschlechtlicher Nötigung zu einer zweijährigen Freiheitsstrafe. Die dagegen erhobene Nichtigkeitsbeschwerde wurde vom OGH zurückgewiesen. Das OLG Graz gab einer Berufung des Staatsanwalts am 8.5.2001 statt und erhöhte die Freiheitsstrafe auf zwei Jahre und sechs Monate.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. behauptet eine Verletzung von Art. 5 Abs. 4 EMRK (Recht auf richterliche Haftkontrolle) und Art. 6 Abs. 1 EMRK (hier: Recht auf eine öffentliche mündliche Verhandlung).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 5 Abs. 4 EMRK:

Der Bf. rügt, dass die Verhandlungen über die Fortsetzung seiner

Untersuchungshaft nicht öffentlich waren.

Da es nicht Aufgabe des GH ist, die Rechtslage in abstracto zu beurteilen, wird er sich nicht zur generellen Vereinbarkeit der relevanten Bestimmungen der österreichischen StPO mit der Konvention äußern. Der GH hat zu prüfen, ob das Verfahren im Fall des Bf. den Anforderungen des Art. 5 Abs. 4 EMRK entsprach.

Der GH stellt fest, dass Haftverhandlungen den Vorgaben des österreichischen Rechts entsprechend in kurzen Intervallen stattfanden. Der Bf. bestritt nicht, dass es sich um ein kontradiktorisches Verfahren handelte, das dem Grundsatz der Waffengleichheit entsprach. Er behauptet jedoch, die mangelnde Öffentlichkeit des Verfahrens habe Art. 5 Abs. 4 EMRK verletzt. Die bisherige Rechtsprechung des GH bietet keine Grundlage für die Behauptung des Bf., Verhandlungen über die Rechtmäßigkeit der Untersuchungshaft müssten öffentlich sein.

Auf dem Gebiet der strafrechtlichen Anklagen besteht ein enger Zusammenhang zwischen Art. 5 Abs. 4 und Art. 6 Abs. 1 EMRK. Die teilweise Anwendbarkeit von Art. 6 EMRK im Vorverfahren – in dem die Prüfung der Rechtmäßigkeit der Untersuchungshaft nach Art. 5 Abs. 4 EMRK üblicherweise stattfindet – wurde vom GH bereits wiederholt anerkannt. Diese Anwendbarkeit beschränkt sich jedoch auf einzelne Aspekte. Sie ergibt sich aus der autonomen Bedeutung des Begriffs strafrechtliche Anklage und betrifft Verfahrensgarantien, die im Falle ihrer Missachtung im Vorverfahren die Fairness des gesamten Verfahrens beeinträchtigen würden. Dies ist etwa der Fall, wenn einer inhaftierten Person während der ersten polizeilichen Vernehmung der Zugang zu einem Anwalt verweigert wird. Nichts weist jedoch darauf hin, dass die nicht öffentliche Art der Haftverhandlungen die Fairness des Verfahrens als ganzes in ähnlicher Weise beeinträchtigen könnte.

Auch wenn einige der auf Verfahren nach Art. 5 Abs. 4 EMRK anwendbaren Rechte sich mit den Garantien des Art. 6 EMRK überschneiden mögen, rechtfertigt der Zusammenhang zwischen den beiden Bestimmungen in strafrechtlichen Angelegenheiten nicht die Schlussfolgerung, Art. 5 Abs. 4 EMRK verlange die Öffentlichkeit von Verhandlungen über die Rechtmäßigkeit der Untersuchungshaft. Überdies ist zu bedenken, dass Art. 5 Abs. 4 und Art. 6 EMRK verschiedene Zwecke verfolgen. Art. 5 Abs. 4 EMRK zielt auf den Schutz vor willkürlicher Freiheitsentziehung, indem er eine rasche Prüfung der Rechtmäßigkeit jeder Haft garantiert. In Fällen einer in den Anwendungsbereich des Art. 5 Abs. 1 lit. c EMRK fallenden Untersuchungshaft muss diese Prüfung unter anderem ergeben, dass ein begründeter Verdacht gegen den Inhaftierten besteht. Art. 6 EMRK behandelt die Stichhaltigkeit einer strafrechtlichen Anklage und zielt darauf ab zu gewährleisten, dass über die Frage, ob der Angeklagte der ihm vorgeworfenen Taten schuldig ist, in einem fairen Verfahren öffentlich verhandelt wird.

Diese unterschiedlichen Ziele erklären, warum Art. 5 Abs. 4 EMRK flexiblere verfahrensrechtliche Garantien enthält als Art. 6 EMRK, hingegen sehr viel strengere Anforderungen an die Zügigkeit des Verfahrens stellt.

Zudem ist dem Argument der Regierung zuzustimmen, das Erfordernis öffentlicher Verhandlungen könnte sich nachteilig auf die Schnelligkeit auswirken. Haftverhandlungen werden häufig in Untersuchungsgefängnissen abgehalten. Der Öffentlichkeit Zugang zu Verhandlungen in Gefängnissen zu gewähren oder Häftlinge für Verhandlungen in Gerichtsgebäude zu überstellen, könnte in der Tat Vorkehrungen erforderlich machen, die dem Erfordernis der Schnelligkeit zuwiderlaufen würden. Dies gilt umsomehr in Fällen, in denen wie im vorliegenden wiederholte Haftprüfungen in kurzen Intervallen erforderlich sind.

Der GH gelangt zu der Schlussfolgerung, dass Art. 5 Abs. 4 EMRK zwar eine Verhandlung zur Prüfung der Rechtmäßigkeit der Untersuchungshaft erfordert, jedoch nicht als allgemeine Regel deren Öffentlichkeit verlangt. Der GH schließt nicht aus, dass eine öffentliche Verhandlung unter besonderen Umständen erforderlich sein kann. Solche Umstände wurden im vorliegenden Fall jedoch nicht nachgewiesen. Da auch keine anderen Versäumnisse bei der Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Untersuchungshaft des Bf. festgestellt wurden, liegt keine Verletzung von Art. 5 Abs. 4 EMRK vor (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK:

Die Frage, ob Art. 6 EMRK auf Verfahren über Anträge auf Entlassung aus der Untersuchungshaft anwendbar ist, wurde vom GH im Fall Neumeister/A verneint. Rechtsmittel gegen die Untersuchungshaft würden zwar zweifellos in den Bereich des Strafrechts fallen, doch beschränke Art. 6 EMRK das Erfordernis des fairen Verfahrens ausdrücklich auf Entscheidungen über eine strafrechtliche Anklage. Dieser Ansatz wurde in der nachfolgenden Rechtsprechung nicht in Frage gestellt. Tatsächlich würde die Anwendung von Art. 6 EMRK auf Verfahren zur Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Untersuchungshaft seinem Wortlaut widersprechen, da ihr Gegenstand nicht die Entscheidung über strafrechtliche Anklagen ist. Es gibt somit keinen Grund für die Annahme, Art. 6 EMRK sei unter seinem strafrechtlichen Aspekt auf Verfahren zur Überprüfung der Rechtmäßigkeit einer Freiheitsentziehung anwendbar, die in den Anwendungsbereich von Art. 5 Abs. 4 EMRK fallen.

Es bleibt zu prüfen, ob das vorliegende Verfahren unter den zivilrechtlichen Aspekt von Art. 6 EMRK fällt.

Im Bereich von Strafverfahren sieht die Konvention in Art. 5 und Art. 6 EMRK ein gründliches Schutzsystem vor. Im vorliegenden Fall geht es um das Verhältnis zwischen Art. 5 Abs. 4 und Art. 6 EMRK. Ein Konflikt besteht insofern, als Art. 5 Abs. 4 EMRK nicht generell die Öffentlichkeit einer Verhandlung über die Rechtmäßigkeit der Untersuchungshaft verlangt, während Art. 6 EMRK in seinem eigenen Anwendungsbereich öffentliche Verhandlungen erfordert. In diesem Zusammenhang ruft der GH in Erinnerung, dass die Bestimmungen der Konvention in Einklang miteinander auszulegen sind. Was die Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Untersuchungshaft betrifft, würde es diesem Grundsatz der harmonischen Interpretation widersprechen, aus dem zivilrechtlichen Aspekt von Art. 6 EMRK strengere Anforderungen abzuleiten, als jene, die in Beziehung auf Strafverfahren durch das gründliche Schutzsystem von Art. 5 Abs. 4 und Art. 6 EMRK unter seinem strafrechtlichen Aspekt auferlegt werden.

Aus diesen Überlegungen folgt, dass Art. 5 Abs. 4 EMRK in Bezug auf Freiheitsentziehungen spezielle Verfahrensgarantien vorsieht, die sich von jenen des Art. 6 EMRK unterscheiden. Art. 5 Abs. 4 EMRK ist daher im Verhältnis zu Art. 6 EMRK die lex specialis. Eine gesondert unter Art. 6 Abs. 1 EMRK zu prüfende Angelegenheit liegt daher nicht vor (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Neumeister/A v. 27.6.1968, A/8, EuGRZ 1974, 393.

Lamy/B v. 30.3.1989, A/151, ÖJZ 1989, 763.

Aerts/B v. 30.7.1998, NL 1998, 140.

Lanz/A v. 31.1.2002, NL 2002, 19; ÖJZ 2002, 433.

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 15.11.2005, Bsw. 67175/01, entstammt der Zeitschrift „Newsletter Menschenrechte" (NL 2005,291) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/05_6/Reinprecht.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rechtssätze
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