JudikaturJustizBsw58452/00

Bsw58452/00 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
10. Januar 2008

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer I, Beschwerdesache Lückhof und Spanner gegen Österreich, Urteil vom 10.1.2008, Bsw. 58452/00 und Bsw. 61920/00.

Spruch

Art. 6 EMRK, § 103 Abs. 2 KFG - Lenkerauskunft und Zwang zur Selbstbelastung.

Keine Verletzung von Art. 6 Abs 1 EMRK (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Die vorliegenden Beschwerden wurden von zwei deutschen Staatsbürgern

erhoben.

1. Zu den Umständen des Falles Lückhof:

Am 7.8.1998 wurde das Fahrzeug des ErstBf. mit einer Geschwindigkeitsübertretung von 17 km/h von einem Radargerät erfasst. Am 12.10.1998 wurde der ErstBf. von der BH Deutschlandsberg gemäß § 103 Abs. 2 Kraftfahrgesetz (KFG) aufgefordert, innerhalb von zwei Wochen den Namen und die Anschrift jener Person bekannt zu geben, welche das Fahrzeug am besagten Tag gelenkt hatte. Am 25.10.1998 antwortete der ErstBf., dass er am besagten Tag mit Freunden auf Urlaub gewesen sei und sich nicht erinnern könne, wer das Fahrzeug zur besagten Zeit gelenkt habe.

Mit Strafverfügung vom 9.11.1998 verhängte die BH eine Geldstrafe von ATS 1.500,–, da der ErstBf. seiner Auskunftspflicht nicht nachgekommen wäre. Den dagegen erhobenen Einspruch wies die BH ab und erließ am 29.12.1998 ein Straferkenntnis.

Der ErstBf. legte am 20.1.1999 Berufung ein, in der er unter anderem ausführte, die Verpflichtung zur Bekanntgabe der Identität des Lenkers verstoße gegen sein durch Art. 6 EMRK gewährtes Recht, sich nicht selbst zu bezichtigen. Am 1.3.1999 wies der UVS die Berufung ab. Nach Ansicht des UVS war der ErstBf. seiner Auskunftspflicht nicht nachgekommen. Zur behaupteten Verletzung des Rechts, sich nicht selbst bezichtigen zu müssen, verwies der UVS darauf, dass die relevante Bestimmung in Verfassungsrang stehe.

Am 8.6.1999 lehnte der VfGH die Behandlung der vom ErstBf. erhobenen Beschwerde wegen mangelnder Aussicht auf Erfolg ab. Am 5.8.1999 wies auch der VwGH die Behandlung der Beschwerde ab, da die Höhe der Strafe ATS 10.000,– nicht überstieg und die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung abhing.

2. Zu den Umständen des Falles Spanner:

Am 25.8.1998 wurde das Fahrzeug des ZweitBf. im 7. Wiener Gemeindebezirk widerrechtlich in einer Straße abgestellt. Am 3.11.1998 stellte die Magistratsabteilung der Stadt Wien eine Strafverfügung in Höhe von ATS 500,– nach dem Wiener Parkometergesetz aus. Der ZweitBf. erhob Einspruch gegen diese Entscheidung, wodurch die Strafverfügung gemäß § 49 Abs. 2 VStG gegenstandslos wurde. Das Verwaltungsstrafverfahren wegen unerlaubten Parkens blieb anhängig. Am 28.12.1998 forderte die Magistratsabteilung der Stadt Wien den ZweitBf. auf, innerhalb von zwei Wochen den vollen Namen und die Adresse jener Person anzugeben, welche das Fahrzeug am besagten Ort geparkt hatte.

Am 3.3.1999 erging eine Strafverfügung wegen Verletzung der Auskunftspflicht. Nachdem der ZweitBf. einen Einspruch erhoben hatte, erließ die Behörde ein Straferkenntnis. Am 6.7.1999 legte der ZweitBf. Berufung ein, mit der er eine Verletzung seines Rechts, sich nicht selbst zu bezichtigen, geltend machte. Am 6.9.1999 wies der UVS Wien seine Berufung ab.

Am 1.2.2000 informierte die Magistratsabteilung der Stadt Wien den ZweitBf., dass die strafrechtliche Verfolgung gegen ihn wegen unerlaubten Parkens eingestellt wurde. Am 6.3.2000 lehnte der VfGH die Behandlung der Beschwerde gegen das Erkenntnis des UVS mangels Aussicht auf Erfolg ab. Am 15.5.2000 lehnte der VwGH die Behandlung der Beschwerde ab, da die Höhe der Strafe ATS 10.000,– nicht überschritt und keine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung aufgeworfen wurde.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. behaupten eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (hier: Recht zu schweigen und sich nicht selbst zu bezichtigen).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK:

Die Bf. bringen vor, dass in Fällen, in denen der Zulassungsbesitzer der Lenker des Fahrzeugs gewesen sei, als das Verkehrsdelikt begangen wurde, § 103 Abs. 2 KFG ihn unter Androhung eines Bußgelds verpflichte, sich selbst zu belasten.

Der GH stellt fest, dass er erst kürzlich den Fall O'Halloran und Francis/GB geprüft hat, der ähnliche Fragen aufwarf. Wie der GH feststellt, steht die Anwendbarkeit des Art. 6 EMRK außer Streit. Der ZweitBf. war eindeutig einer Straftat „angeklagt" (charged), da ein Verwaltungsstrafverfahren wegen des Parkvergehens gegen ihn anhängig war, als er aufgefordert wurde, die Identität des Lenkers offenzulegen. Bezüglich des ErstBf. stellt der GH fest, dass ihn die Behörde am 12.10.1998 darüber informierte, dass eine Ordnungswidrigkeit mit seinem Auto begangen worden war und er in diesem Zusammenhang die Identität des Fahrzeuglenkers bekannt zu geben habe. Der GH sieht kaum Unterschiede zwischen seiner Situation und jener der Bf. im Fall O'Halloran und Francis/GB, die über die beabsichtigte Strafverfolgung des Lenkers informiert wurden, als sie zur Lenkerauskunft aufgefordert wurden. Der ErstBf. war daher wesentlich betroffen von der Aufforderung zur Lenkerauskunft und wurde somit „angeklagt" (charged) im Sinne der autonomen Bedeutung dieses Begriffs in Art. 6 EMRK.

Im Übrigen gleicht der vorliegende Fall insofern jenem des Herrn Francis, als beide Bf. den Namen und die Adresse des Fahrers nicht bekannt gaben und daher wegen der Verletzung ihrer Auskunftspflicht verurteilt wurden.

Der GH verweist auf den Fall O'Halloran und Francis/GB, wo er feststellte, dass die bloße Verpflichtung zur Angabe, wer das Fahrzeug gelenkt habe, noch keine Selbstbezichtigung darstellte. Er betonte, dass die Beurteilung der Frage, ob ein faires Verfahren iSd. Art. 6 EMRK vorliegt oder nicht, von den Umständen des Einzelfalls abhängt. In diesem Fall akzeptierte der GH, dass der dort ausgeübte Zwang direkter Natur war, er verneinte jedoch eine Verletzung des Art. 6 EMRK.

Der GH wird prüfen, ob dieselben Erwägungen in den vorliegenden Fällen anzuwenden sind. Er wird die im Fall O'Halloran und Francis/GB aufgestellten Kriterien unter den Umständen des vorliegenden Falles und bezüglich der Vorschriften des österreichischen Rechts anwenden. Die maßgeblichen Kriterien sind die Art und das Ausmaß des Zwangs, der angewendet wurde, um Beweise zu erlangen, die Existenz von irgendwelchen Schutzvorrichtungen im Verfahren und die Verwendung des auf diese Weise beschafften Materials.

Zur Natur des Zwangs, der ausgeübt wurde, um diese Informationen zu erhalten, stellt der GH fest, dass dem ErstBf. klar sein musste, dass die Missachtung der Verpflichtung zu Konsequenzen führen würde, wie etwa zur Auferlegung einer Geldstrafe. Der GH akzeptiert, dass in beiden Fällen der Zwang direkter Natur war. Die Bf. waren unter Androhung einer Geldstrafe verpflichtet, den Namen und die Adresse der Person, welche das Fahrzeug gelenkt hatte, bekannt zu geben. In Bezug auf den Grad des Zwangs bemerkt der GH, dass die maximale Geldstrafe, welche die Bf. riskierten, ATS 30.000,– im Fall des ErstBf. und ATS 3.000,– im Fall des ZweitBf. betrug. Die tatsächlich verhängten Strafen betrugen ATS 1.500,– bzw. ATS 500,–. Im Vergleich dazu wurden im Fall O'Halloran und Francis/GB wesentlich höhere Strafen angedroht und auch tatsächlich verhängt. Dieser Unterschied bezüglich der Strafen ist jedoch nicht ausschlaggebend. Die Tatsache, dass im österreichischen Verwaltungsstrafrecht Geldstrafen einhergehen mit Ersatzfreiheitsstrafen, ändert nichts an der Beurteilung.

Eine weitere Ähnlichkeit mit dem Fall O'Halloran und Francis/GB ist die begrenzte Art des Auskunftsersuchens, das von § 103 Abs. 2 KFG und § 1a des Wiener ParkometerG erlaubt wird. Aufgrund der beiden Bestimmungen sind die Behörden nur dazu berechtigt, Auskunft über den Namen und die Adresse der Person, welche das Fahrzeug zur besagten Zeit gelenkt hat, zu verlangen. In diesem Zusammenhang wiederholt der GH, dass er im Fall Weh/A bereits festgestellt hat, dass das Erfordernis, eine einfache Tatsache bekannt zu geben, nämlich wer der Fahrer des Fahrzeugs war, nicht als solche belastend sei. Ähnlich wie im Fall O'Halloran und Francis/GB gab es auch im vorliegenden Fall gewisse Schutzmaßnahmen. Erstens besagt § 103 Abs. 2 KFG, dass die Behörden dazu verpflichtet sind, die Information nachzuprüfen, wenn es die Umstände verlangen. Zweitens unterliegt der Zulassungsinhaber nicht einer Strafe für die Weigerung, Auskunft zu erteilen, wenn diese Unterlassung nicht zumindest auf seiner Fahrlässigkeit beruht.

Zuletzt ist festzuhalten, dass keiner der Bf. die von den Behörden begehrten Auskünfte erteilte. Es liegt daher kein Problem bezüglich des Gebrauchs ihrer Angaben in den zugrunde liegenden Strafverfahren vor. Die Verfahren wegen der Geschwindigkeitsübertretung bzw. des Falschparkens wurden nicht fortgesetzt.

Daher sieht der GH keinen Grund, im vorliegenden Fall zu einer anderen Entscheidung zu gelangen als im Fall O'Halloran und Francis/GB, nämlich, dass der Wesensgehalt des Rechts der Bf. zu schweigen und sich selbst nicht zu bezichtigen, nicht berührt wurde. Daher liegt keine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK vor (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Weh/A v. 8.4.2004; NL 2004, 85.

O'Halloran und Francis/GB v. 29.6.2007 (GK); NL 2007, 150.

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 10.1.2008, Bsw. 58452/00 und Bsw. 61920/00, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2008, 8) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/08_1/Luckhof.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rechtssätze
3