JudikaturJustizBsw5556/10

Bsw5556/10 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
14. Februar 2019

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer I, Beschwerdesache SA-Capital Oy gg. Finnland, Urteil vom 14.2.2019, Bsw. 5556/10.

Spruch

Art. 6 Abs. 1 EMRK, Art. 6 Abs. 2 EMRK - Verwendung von Beweisen vom Hörensagen in einem Kartellverfahren.

Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich der behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig).

Unzulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich der behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 iVm. Abs. 2 EMRK (einstimmig).

Keine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Das bf. Unternehmen war bis Februar 2000 im Asphaltsektor tätig. Am 31.3.2004 erhob die Wettbewerbsbehörde im Zusammenhang mit einem Verdacht, dass das bf. gemeinsam mit anderen Unternehmen an einem landesweiten Kartell in diesem Bereich beteiligt gewesen war, eine Beschwerde an das Handelsgericht (markkinaoikeus, marknadsdomstolen).

Das letztgenannte Gericht stellte am 19.12.2007 fest, dass das bf. Unternehmen an einem Kartell betreffend von Behörden der Zentralregierung in Auftrag gegebenen Asphaltierungen beteiligt gewesen war. Es sei nämlich in die territoriale Aufteilung von Märkten und Beschränkungen der Lieferung von Asphaltmasse sowie in einem kleineren Ausmaß auch in Preisabsprachen involviert gewesen. Das Handelsgericht verhängte gegen das bf. Unternehmen eine Strafzahlung von € 75.000,–. Bezüglich der territorialen Aufteilung der Märkte für Asphaltierungsaufträge der Lokalverwaltungen und im privaten Sektor und diesbezüglichen Preisabsprachen sah das Handelsgericht eine Beteiligung des bf. Unternehmens nicht als erwiesen.

Nachdem sowohl das bf. Unternehmen als auch die Wettbewerbsbehörde gegen das Urteil des Handelsgerichts berufen hatten, hob das Oberste Verwaltungsgericht dieses am 29.9.2009 auf. Es folgte der Wettbewerbsbehörde in ihren Behauptungen, es habe ein einziges landesweites Kartell für den gesamten Markt für Asphaltierungsaufträge des Staates, der Lokalverwaltungen und im privaten Sektor gegeben, an dem auch das bf. Unternehmen beteiligt gewesen sei. Das Gericht verurteilte Letzteres daher zu einer Strafzahlung von € 500.000,–. In seinem Urteil äußerte sich das Gericht auch eingehend zur Beweiswürdigung in Wettbewerbsverfahren und zur Schwierigkeit der Erlangung von Beweisen betreffend wettbewerbsbeschränkende Praktiken, die in der Regel auf der Basis von geheimen Absprachen und ohne Spuren zu hinterlassen erfolgen würden. Es sei in diesem Kontext daher nötig, auf Schlussfolgerungen aus Indizien zurückzugreifen. Dabei wären die Gerichte nicht gehindert, auch Beweise vom Hörensagen in die Gesamtschau miteinzubeziehen.

In Folge des Urteils des Obersten Verwaltungsgerichts brachten der finnische Staat und mehrere Gemeinden zivilrechtliche Entschädigungsklagen gegen die am Kartell beteiligten Firmen ein, darunter auch das bf. Unternehmen. Letzteres wurde im Zuge dieser Verfahren zur Zahlung eines Schadenersatzes in Höhe von insgesamt circa € 1.700.000,– verpflichtet.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Das bf. Unternehmen behauptete eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren), da das Oberste Verwaltungsgericht sich auf Beweise vom Hörensagen aus nicht identifizierten Quellen gestützt hätte, welche das bf. Unternehmen nicht prüfen (lassen) habe können. Die Verlagerung der Beweislast auf das bf. Unternehmen hätte zudem eine Verletzung von Art. 6 Abs. 2 EMRK (Unschuldsvermutung) bewirkt.

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK

(58) Der GH hält fest, dass diese Beschwerde nicht offensichtlich unbegründet [...] und auch aus keinem anderen Grund unzulässig und daher für zulässig zu erklären ist (einstimmig).

Zur Anwendbarkeit des strafrechtlichen Zweiges von Art. 6 EMRK

(65) [...] Es ist unstrittig, dass die gegenständliche Angelegenheit unter den strafrechtlichen Zweig von Art. 6 EMRK fällt.

Allgemeine Grundsätze

(71) Der GH hat nicht zuletzt angesichts des Umstands, dass die Bandbreite an Verfahren ausgeweitet wurde, die unter den strafrechtlichen Zweig von Art. 6 EMRK fallen, [...] anerkannt, dass es »strafrechtliche Anklagen« von unterschiedlichem Gewicht gibt und dass es – während die Anforderungen an ein faires Verfahren im Hinblick auf den harten Kern des Strafrechts sehr streng sind – Fälle gibt, in denen die Verfahrensgarantien nicht notwendigerweise mit ihrer ganzen Strenge Anwendung finden, obwohl diese Fälle unter den strafrechtlichen Zweig fallen. Der diesbezüglich differenzierte Ansatz spiegelt den [...] allgemeinen Fokus des GH wider, primär die Fairness des Verfahrens insgesamt zu betrachten, mit Blick auf die Sicherstellung der Rechte der Verteidigung unter gleichzeitiger Beibehaltung der Aufmerksamkeit für die Interessen der Öffentlichkeit und der Opfer an der korrekten Vollziehung der fraglichen Gesetze.

(73) Was Beweisfragen in Strafverfahren betrifft, erinnert der GH zunächst daran, dass Art. 6 EMRK nach seiner gefestigten Rechtsprechung keine Regeln über die Zulässigkeit von Beweisen als solches festlegt. Diese Angelegenheit unterliegt primär der Regelung durch das nationale Recht. Der GH hat auch durchwegs festgehalten, dass es als allgemeine Regel Sache der innerstaatlichen Gerichte ist, die ihnen vorliegenden Beweise zu beurteilen. Daher wird der GH grundsätzlich nicht in Fragen betreffend die Beweiswürdigung oder die Tatsachenfeststellung und auch nicht in die Auslegung des innerstaatlichen Rechts eingreifen, solange die von den innerstaatlichen Gerichten getroffenen Entscheidungen nicht willkürlich oder offensichtlich unvernünftig erscheinen und unter der Voraussetzung, dass das Verfahren insgesamt fair war [...].

(75) Eine Beurteilung der Fairness des Verfahrens kann [...] unter anderem davon abhängen, ob der Beschuldigte eine Gelegenheit erhielt, die Beweiskraft der Beweise anzufechten und ihrer Verwendung zu widersprechen. In diesem Zusammenhang muss die Qualität der Beweise berücksichtigt werden, ebenso wie die Umstände, unter denen sie erlangt wurden und ob diese Umstände Zweifel an ihrer Zuverlässigkeit oder Richtigkeit schüren.

Anwendung der allgemeinen Grundsätze auf den vorliegenden Fall

Vorüberlegungen

(78) Der GH betont, dass die Fairness des Verfahrens im Gesamten beurteilt werden muss [...]. Die Frage, ob insbesondere die Verteidigungsrechte auf eine Weise sichergestellt wurden, die im Einklang mit Art. 6 EMRK steht, muss vor dem Hintergrund aller relevanten Elemente des Falles geprüft werden. In diesem Zusammenhang anerkennt der GH, dass Fälle von Wettbewerbsbeschränkungen typischerweise komplexe und oft weit reichende wirtschaftliche Themen und damit verbundene tatsächliche Fragen betreffen. Das bedeutet, dass die relevanten Beweiselemente ebenfalls vielschichtig sein werden. Der GH ist sich auch des starken öffentlichen Interesses bewusst, das mit der wirksamen Vollziehung des Wettbewerbsrechts einhergeht. Außerdem berücksichtigt er den Umstand, dass die in diesem Bereich anwendbaren Geldbußen in der Regel nicht gegen natürliche Personen verhängt werden, sondern gegen Unternehmen, und auf der Basis der nachteiligen Auswirkungen des wettbewerbsschädigenden Verhaltens sowie unter Berücksichtigung des Umsatzes der Wirtschaftssubjekte bemessen werden, von denen festgestellt wurde, dass sie gegen Wettbewerbsregeln verstoßen haben.

(79) Im vorliegenden Kontext erachtet es der GH für angemessen, zunächst die Gründe für den Umfang zu untersuchen, in dem Aussagen von Zeugen geprüft wurden; zweitens die Bedeutung des ungeprüften indirekten Beweises für die Tatsachenfeststellung; und drittens die Fairness des Verfahrens insgesamt unter besonderer Betonung der Verteidigungsrechte.

Die Gründe für den Umfang, in dem Aussagen von Zeugen geprüft wurden

(80) Der GH bemerkt, dass von der Wettbewerbsbehörde und den Beschuldigten in erster Instanz eine große Menge an Beweisen beigebracht wurden, die vor dem Handelsgericht in einem kontradiktorischen Verfahren geprüft wurden. Gemäß dem Gerichtsprotokoll hatte die Wettbewerbsbehörde ihrer Beschwerde 68 schriftliche Beweisstücke beigeschlossen und während der Verhandlung weitere schriftliche Beweise vorgelegt. Zudem hatte sie fünfzehn Zeugen benannt, von denen die Hälfte Personen waren, die im Management oder als Angestellte einiger der betroffenen Firmen gearbeitet hatten, während es sich beim Rest um Personen handelte, die in Organisationen im öffentlichen Sektor gearbeitet hatten und in Arbeiten im Asphaltbereich involviert waren. Die beschuldigten Unternehmen hatten ihrerseits über dreißig Zeugen benannt und schriftliche Beweise beigebracht.

(81) Zweitens bemerkt der GH, dass das Handelsgericht in seinem Urteil zum Schluss kam, dass sich die beschuldigten Unternehmen [...] am Betrieb eines landesweiten Kartells im Markt für Aufträge der Zentralregierung im Asphaltsektor beteiligt hatten, auch wenn die Beteiligung des bf. Unternehmens im Hinblick auf die Preisabsprache beschränkt gewesen wäre. Demgegenüber führte das Handelsgericht im Hinblick auf den [...] Bereich der Lokalverwaltungen und den privaten Sektor eine separate Analyse der Beweise betreffend die Existenz eines Kartells [...] durch und stellte fest, dass ausreichende Beweise für ein Kartell in diesem Segment nur im Hinblick auf gewisse Regionen gegeben waren, von denen keine zu den Gegenden gehörten, wo das bf. Unternehmen seinen Geschäften nachging [...]. Folglich stellte das Handelsgericht zwar fest, dass das bf. Unternehmen wegen der Beteiligung an dem landesweiten Kartell für Aufträge der Zentralregierung gegen Wettbewerbsvorschriften verstoßen hatte, gelangte aber zu keiner vergleichbaren Feststellung im Hinblick auf das behauptete Kartell für Aufträge der Lokalverwaltung und im privaten Sektor.

(82) In diesem Zusammenhang beobachtet der GH ferner, dass die Wettbewerbsbehörde in ihrer Berufung an das Oberste Verwaltungsgericht insbesondere die Auslegung des Handelsgerichts im Hinblick auf den Umfang des Kartells in Frage stellte. Sie brachte vor, dass es keinen Hinweis darauf gebe, dass die Gebietsaufteilung von Märkten nicht Aufträge in allen oben erwähnten Segmenten des Asphaltmarktes umfasste, und machte darauf aufmerksam, dass der Ausschluss von Lieferungen von Asphaltmasse außerhalb der Kartellunternehmen den Wettbewerb im gesamten Sektor betraf. Deshalb war die Hauptfrage, die von der Berufung der Wettbewerbsbehörde aufgeworfen wurde und im Hinblick auf die dem bf. Unternehmen eine Verschlechterung drohte, nicht bloß eine Tatsachenfrage oder eine Frage der Beweise im Hinblick auf gewisse Tatsachen, sondern schloss weitere Fragen betreffend den relevanten Markt und dessen Funktion sowie die Natur und Auswirkungen der angeblich einschränkenden Praktiken mit ein. Mit anderen Worten kann nicht gesagt werden, dass die Hauptfrage vor dem Obersten Verwaltungsgericht aus Sicht des bf. Unternehmens allein auf die Beweiswürdigung beschränkt war. Vielmehr betrafen die Probleme im Berufungsverfahren eine komplexe Reihe von Fragen, die eine Beurteilung mehrerer Elemente verlangten und ein Spektrum an wirtschaftlichen, tatsächlichen und rechtlichen Überlegungen einschlossen.

(83) Drittens beobachtet der GH, dass das bf. Unternehmen vor dem Obersten Verwaltungsgericht die Gelegenheit hatte, den Umfang zu beeinflussen, zu dem im Berufungsverfahren Beweise beigebracht und geprüft wurden. Vor der Verhandlung des Falles in Berufung wurde vom Obersten Verwaltungsgericht eine vorbereitende Sitzung abgehalten, um den Parteien die Gelegenheit zu geben, diesbezüglich Eingaben zu tätigen. Das bf. Unternehmen hatte unter Berücksichtigung aller Fragen und Argumente, die in der Berufung der Wettbewerbsbehörde aufgeworfen wurden, die Möglichkeit, im Vorhinein die Notwendigkeit und Verfügbarkeit von zusätzlichen Beweisen mit Blick auf eine Untermauerung seiner Position in der Berufungsinstanz abzuwägen. Es beantragte abgesehen von den sechs Personen, die vor das Oberste Verwaltungsgericht geladen worden waren, keine Anhörung weiterer Zeugen, obwohl ihm in diesem Stadium das Urteil des Handelsgerichts, der Inhalt des Berufungsvorbringens der Wettbewerbsbehörde sowie der Umstand bewusst waren, dass die Entscheidung des Handelsgerichts vor dem Obersten Verwaltungsgericht zu seinen Ungunsten abgeändert werden konnte.

(84) Zudem berücksichtigt der GH auch den Umstand, dass angesichts der Natur und des Zwecks des Wettbewerbsrechts Verfahren zu seiner Vollziehung von einer Vielzahl an Beweisen abhängen, die gemeinsam geprüft und beurteilt werden müssen. Dabei kann die Rolle von Zeugenbeweisen variieren. Nachdem es nicht die Aufgabe des GH ist, in die Beweiswürdigung einzutreten, muss seine Prüfung, ob die Verteidigungsrechte der Beschuldigten im Hinblick auf Zeugenbeweise angemessen garantiert wurden, auch den Umstand berücksichtigen, dass solche Beweise nur ein Teil der Beweisführung sind, auf dem die Beurteilung dieser Arten von Fällen beruht.

(85) Angesichts dieser Überlegungen kommt der GH zum Schluss, dass Art und Umfang der Prüfung der Zeugenbeweise durch das Oberste Verwaltungsgericht nicht ungerechtfertigt waren.

Bedeutung des ungeprüften indirekten Beweises

(86) Der GH bemerkt, dass das Oberste Verwaltungsgericht einige allgemeine Aussagen zur Beweiswürdigung in Wettbewerbsverfahren tätigte und zunächst betonte, dass sich die innerstaatliche Gesetzgebung diesbezüglich auf den Grundsatz der freien Beweiswürdigung stütze. Dieses Gericht sprach ferner die besonderen Beweisschwierigkeiten im Zusammenhang mit Praktiken an, die darauf abzielen, den Wettbewerb einzuschränken. [...] Das Oberste Verwaltungsgericht betonte, dass Beweise in einem Wettbewerbsfall nicht denselben Anforderungen unterliegen könnten wie Beweise in Strafsachen, unter anderem weil das innerstaatliche Wettbewerbsrecht Teil des Wettbewerbsrechts der EU wäre. Daher wäre es auch möglich, sich auf Indizien und Schlussfolgerungen zu stützen, um bei Fehlen einer alternativen vernünftigen Erklärung verbotene Kooperationen festzustellen. Beim Ziehen solcher Schlüsse wäre das Gericht nicht daran gehindert, Beweise vom Hörensagen zu verwenden. Es wäre wesentlich, im Hinblick auf die vorgelegten Beweise einen ganzheitlichen Ansatz anzulegen. Deshalb akzeptiert der GH zunächst, dass das innerstaatliche Gericht die Grundsätze sorgfältig prüfte und erklärte, die seiner Ansicht nach [...] die Beweiswürdigung in dieser Art von Fällen bestimmen mussten.

(87) Der GH beobachtet weiters, dass das Oberste Verwaltungsgericht in diesem Fall als Zeugen für die Wettbewerbsbehörde drei Personen anhörte, die zur betreffenden Zeit Posten im Management oder als Angestellte einiger der beschuldigten Unternehmen innehatten [...]. Aus dem Urteil des Gerichts geht hervor, dass einer dieser Zeugen, ein früherer Eigentümer einer der betroffenen Firmen, direkt angab, das bf. Unternehmen sei an dem Kartell beteiligt gewesen. Zusätzlich stützte sich das Oberste Verwaltungsgericht auf die Protokolle von Aussagen weiterer Zeugen vor dem Handelsgericht, einschließlich eines Angestellten eines der betroffenen Unternehmen sowie eines früheren Managers und eines früheren Angestellten des bf. Unternehmens selbst, deren Aussagen die Beweise untermauerten, die das bf. Unternehmen belasteten. Die Zeugen und die Hauptpunkte ihrer Aussagen wurden im Urteil des Obersten Verwaltungsgerichts angegeben.

(88) [...] In seiner Analyse kam [Letzteres] zu einem anderen Ergebnis als das Handelsgericht und befand, dass der Asphaltsektor im Hinblick auf die wettbewerbsbeschränkenden Praktiken als ein Ganzes angesehen werden musste und dass es ein einziges Kartell gab, das alle Segmente der Asphaltierungsaufträge umfasste.

(89) In seinem Urteil hielt das Oberste Verwaltungsgericht im Hinblick auf das bf. Unternehmen fest, dass dieses sich an dem Kartell insbesondere in den Regionen von Lappland und Nordkarelien beteiligt hatte. Das Gericht stellte fest, dass Nordfinnland dem bf. Unternehmen zugewiesen worden war, was bedeutete, dass es anderen Kartellunternehmen nicht erlaubt war, dort Arbeiten durchzuführen. Das Gericht bezog sich auch auf nachgewiesene wettbewerbsbeschränkenden Praktiken bei der Angebotsabgabe für und der Lieferung von Asphaltmasse im Zusammenhang mit Aufträgen der Zentralregierung und hielt fest, dass solche Praktiken unvermeidbar landesweite Auswirkungen hatten.

(90) Das Urteil des Obersten Verwaltungsgerichts zeigt, dass seine Feststellung, wonach sich das bf. Unternehmen an dem Kartell beteiligt hätte, auf der Basis von schriftlichen Beweisen und den Aussagen von Zeugen erlangt wurde, die entweder vor dem Gericht selbst oder vor dem Handelsgericht angehört worden waren und die als Insider in den betroffenen Unternehmen den Gerichten von ihren eigenen Erfahrungen im Zusammenhang mit den strittigen wettbewerbsbeschränkenden Praktiken berichtet hatten. Die betreffenden Zeugen wurden benannt und die Hauptpunkte aus ihren Aussagen zitiert, ohne dass es einen Hinweis darauf gab, dass sich das Gericht zu einem bedeutenden Maß auf Aussagen vom Hörensagen gestützt hätte. Soweit die Aussagen ebenfalls Verweise auf Informationen aus zweiter Hand [...] einschlossen, stützt die Wiedergabe aller Beweise im Urteil des Obersten Verwaltungsgerichts, auf Basis derer es seine Schlussfolgerungen traf, die Behauptung nicht, dass seine Feststellungen von solchen Elementen in den Aussagen abhingen. Obwohl die Belastungszeugen, bei denen es sich um Insider des Kartells handelte, sich auch auf Informationen vom Hörensagen gestützt haben mögen, ist der GH nicht überzeugt davon, dass solche Elemente im Urteil des Obersten Verwaltungsgerichts eine entscheidende Rolle spielten.

(91) Der GH kommt daher zum Schluss, dass die indirekten Beweise für den Ausgang des strittigen Verfahrens nicht entscheiden waren.

Die Fairness des Verfahrens insgesamt

(92) Der GH erinnert daran, dass die Fairness des Verfahrens eine ganzheitliche Beurteilung desselben verlangt. Es ist trotz seiner Feststellung, das Urteil des innerstaatlichen Gerichts sei nicht entscheidend auf nicht geprüfte indirekte Beweise gestützt worden, immer noch notwendig zu entscheiden, ob das beschuldigte Unternehmen in den Genuss ausreichender Faktoren kam, um die Hindernisse kompensieren zu können, die eine Stützung auf solche Beweise für die Verteidigung mit sich gebracht haben mag. [...] Der GH wiederholt, dass die Beurteilung der Verteidigungsrechte eine relative ist und von der Bedeutung der nicht geprüften Beweise sowie von der Gelegenheit abhängt, die der Verteidigung geboten wird, sich [...] zu solchen Beweisen zu äußern.

(93) Im vorliegenden Fall hält der GH zuallererst fest, dass das Oberste Verwaltungsgericht in seinem Urteil die Grundsätze sorgfältig prüfte und erklärte, die nach dem innerstaatlichen und EU-Recht die Beurteilung von Tatsachenfragen und Beweisen in Wettbewerbsverfahren regelten. Es berücksichtigte auch die Anwendbarkeit von Art. 6 EMRK auf solche Verfahren. Die vom bf. Unternehmen aufgeworfenen Fragen wurden daher vom innerstaatlichen Gericht nicht übersehen. Dieses befand, dass die von der Wettbewerbsbehörde beigebrachten Beweise umfassend und schlüssig wären und dass die Beschuldigten nicht in der Lage gewesen wären, die Glaubwürdigkeit oder Zuverlässigkeit dieser Beweise in Frage zu stellen. Es stellte auch fest, dass die vorgelegten Beweise die Möglichkeit einer alternativen Erklärung gestützt auf ein zufälliges gleichlaufendes Geschäftsverhalten der betroffenen Unternehmen ausschlossen. Was die Feststellungen des Obersten Verwaltungsgerichts betreffend die Beteiligung des bf. Unternehmens an dem Kartell angeht, wurde der verwendete Zeugenbeweis identifiziert und zitiert und als von Zeugen stammend angegeben, die vor den innerstaatlichen Gerichten angehört worden waren.

(94) Wie der GH oben bereits festgehalten hat, stützte sich das Urteil des Obersten Verwaltungsgerichts grundsätzlich auf Schlussfolgerungen, die aus schriftlichen Beweisen und Zeugenaussagen gezogen wurden, die im Laufe des Verfahrens einer Anfechtung durch das bf. Unternehmen, auch in einem Kreuzverhör, offen standen. Der GH beobachtet weiter, dass das Recht des bf. Unternehmens, Beweise vorzulegen, um die von der Wettbewerbsbehörde präsentierten Beweise zu entkräften und ausführlich seine eigene Beurteilung der vom innerstaatlichen Gericht akzeptierten Beweise zu erklären, vollkommen respektiert wurde.

(95) Der GH kommt zum Schluss, dass das bf. Unternehmen im schriftlichen und mündlichen Verfahren vor dem Obersten Verwaltungsgericht die Möglichkeit hatte, Verteidigungsrechte auszuüben, die angemessene Garantien auch im Hinblick auf die Beweise boten, auf Basis derer das innerstaatliche Gericht im Fall zu seinem Urteil gelangte.

Ergebnis

(96) Vor dem Hintergrund seiner obigen Feststellungen kommt der GH zum Schluss, dass der Umfang, zu dem das Oberste Verwaltungsgericht sich auf die nicht geprüften indirekten Beweise stützte, unter den Umständen des Falles nicht ungerechtfertigt war.

(97) Demgemäß erfolgte keine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig; im Ergebnis übereinstimmende Sondervoten von Richterin Koskelo und Richter Wojtyczek).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 iVm. Abs. 2 EMRK

(106) Der GH wiederholt, dass es allgemein den nationalen Gerichten obliegt, die ihnen vorliegenden Beweise zu beurteilen, den entsprechenden Beweisstandard anzuwenden und einzuschätzen, ob die zugelassenen Beweise für eine Verurteilung ausreichen. [...]

(107) [...] Art. 6 Abs. 2 EMRK verlangt unter anderem, dass die Mitglieder eines Gerichts, wenn sie ihre Aufgaben wahrnehmen, nicht mit der vorgefassten Meinung beginnen dürfen, dass der Beschuldigte die zur Last gelegte Tat begangen hat. Die Beweislast liegt auf Seiten der Anklage und es muss sich jeder Zweifel zugunsten des Beschuldigten auswirken. Daher wird die Unschuldsvermutung verletzt, wenn die Beweislast von der Anklage auf die Verteidigung verlagert wird.

(109) Im vorliegenden Fall bemerkt der GH, dass das Oberste Verwaltungsgericht in seinem Urteil die Fragen betreffend die Beweislast und den anwendbaren Beweisstandard diskutierte. Nach Prüfung aller vorgebrachten Beweise kam das Gericht zum Schluss, dass die Wettbewerbsbehörde umfassende Beweise zur Existenz eines Kartells beigebracht hatte, während die Beschuldigten nicht in der Lage gewesen wären, die Glaubwürdigkeit oder Zuverlässigkeit dieser Beweise oder die Schlussfolgerungen zu widerlegen, welche die Wettbewerbsbehörde daraus gezogen hatte. Im Lichte des Urteils des Obersten Verwaltungsgerichts erkennt der GH keinen Hinweis darauf, dass die dort übernommenen Grundsätze oder deren Anwendung den aus Art. 6 Abs. 2 EMRK erfließenden Anforderungen widersprochen hätten. Auch gibt es kein Indiz dafür, dass das Oberste Verwaltungsgericht eine vorgefasste Meinung gehabt hätte, dass das bf. Unternehmen die Wettbewerbsregeln verletzte. Unter diesen Umständen kann nicht gesagt werden, dass das Oberste Verwaltungsgericht die Beweislast auf das bf. Unternehmen verlagerte. Auch gibt es in der Akte keinen Hinweis darauf, dass der vom Gericht verwendete Beweisstandard irgendwie willkürlich war.

(110) Daraus folgt, dass diese Rügen offensichtlich unbegründet sind und deshalb [...] für unzulässig erklärt werden müssen (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Barberà, Messegué and Jabardo/E v. 6.12.1988

Telfner/A v. 20.3.2001 = NL 2001, 57 = ÖJZ 2001, 613

Hedström Axelsson/S v. 6.9.2005 (ZE)

Jussila/FIN v. 23.11.2006 (GK) = NL 2006, 303

Grande Stevens u.a./I v. 4.3.2014 = NLMR 2014, 117

Simon Price/GB v. 15.9.2016

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 14.2.2019, Bsw. 5556/10, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2019, 51) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

www.menschenrechte.ac.at/orig/19_1/Petrenco.pdf

Das Original des Urteils ist auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

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