JudikaturJustizBsw51362/09

Bsw51362/09 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
30. Juni 2016

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer I, Beschwerdesache Taddeucci und McCall gg. Italien, Urteil vom 30.6.2016, Bsw. 51362/09.

Spruch

Art. 8 EMRK, Art. 14 EMRK iVm. Art. 8 EMRK - Keine Aufenthaltsgenehmigung für neuseeländischen Partner eines homosexuellen Italieners.

Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich der behaupteten Verletzung von Art. 14 EMRK iVm. Art. 8 EMRK (einstimmig).

Verletzung von Art. 14 EMRK iVm. Art. 8 EMRK (6:1 Stimmen).

Unzulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich der behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 20.000,– für immateriellen Schaden, € 18.924,58– für Kosten und Auslagen (6:1 Stimmen).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Herr Taddeucci (der ErstBf.) ist Italiener, Herr McCall (der ZweitBf.) Neuseeländer. Die beiden sind seit 1999 ein Paar. Sie lebten bis Dezember 2003 in Neuseeland, wo sie den Status eines nicht verheirateten Paares erlangten. Danach wollten sie sich in Italien niederlassen.

Der ZweitBf. verfügte zunächst über eine befristete Aufenthaltsgenehmigung für Studenten. In der Folge beantragte er eine Aufenthaltsgenehmigung aus familiären Gründen nach dem Gesetzesdekret Nr. 286 vom 25.7.1998. Dieser Antrag wurde allerdings vom Polizeichef von Livorno abgewiesen.

Dem Rechtsmittel der Bf. gegen diese Entscheidung wurde vom Zivilgericht Florenz am 4.7.2005 stattgegeben. Der Innenminister erhob gegen dieses Urteil jedoch erfolgreich Berufung an das Berufungsgericht Florenz. Letzteres befand insbesondere, dass ein Lebensgefährte nicht als »Familienmitglied« iSd. Gesetzesdekretes Nr. 286 angesehen werden könne, (Anm: Art. 29 erfasste als »Familienmitglieder« insbesondere Ehepartner sowie bestimmte Vorfahren oder Nachkommen.) weshalb dessen Bestimmungen über die Zuerkennung eines Aufenthaltstitels aus familiären Gründen nicht zur Anwendung kämen.

Die Bf. erhoben gegen diese Entscheidung eine Beschwerde an das Kassationsgericht, das diese mit Urteil vom 30.9.2008 abwies. Das Gericht hielt dabei insbesondere fest, dass der Ausschluss von unverheirateten Partnern von der Zuerkennung einer Aufenthaltsgenehmigung aus familiären Gründen gleich- und verschiedengeschlechtliche Paare gleichermaßen betreffe.

Nach dem Urteil des Kassationsgerichts verließen die Bf. Italien in Richtung Niederlande, wo sie am 8.5.2010 heirateten.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. behaupteten eine Verletzung von Art. 14 EMRK (Diskriminierungsverbot) iVm. Art. 8 EMRK (hier: Recht auf Achtung des Familienlebens) durch die Weigerung der Behörden, dem ZweitBf. eine Aufenthaltsgenehmigung aus familiären Gründen zu gewähren. Dies stelle eine Diskriminierung aufgrund ihrer sexuellen Orientierung dar. Sie rügen daneben eine Verletzung von Art. 8 EMRK alleine.

Zur behaupteten Verletzung von Art. 14 iVm. Art. 8 EMRK

Zulässigkeit

(37) Die Regierung beruft sich zunächst auf die Verspätetheit der Beschwerde. Die endgültige innerstaatliche Entscheidung sei das Urteil des Kassationsgerichts vom 30.9.2008, das am 17.3.2009 in der Gerichtskanzlei hinterlegt worden wäre. Nun hätten die Bf. den Gegenstand ihrer Beschwerde aber das erste Mal in einem Brief mit Datum vom 15.9.2009 dargelegt, der erst am 21.9.2009 in der Kanzlei des GH eingelangt sei, also nach Ablauf der sechsmonatigen Frist des Art. 35 Abs. 1 EMRK. [...]

(39) Der GH beobachtet, dass dem Brief vom 15.9.2009 ein Fax vom selben Tag vorangegangen war. Die erste Mitteilung der Bf., die den Gegenstand ihrer Beschwerde – wenn auch nur summarisch – darlegte, ist daher beim GH vor Ablauf der sechsmonatigen Frist des Art. 35 Abs. 1 EMRK eingelangt. Der GH hebt sodann hervor, dass die Kanzlei die Bf. mit Schreiben vom 1.10.2009 aufgefordert hatte, ihr Beschwerdeformular bis zum 26.11.2009 einzureichen [...]. Die Bf. haben diesem ein Fax vorangeschickt, das bei der Kanzlei am 26.11.2009 eingelangt ist. [...]

(40) Unter diesen Umständen kann die Einrede der Regierung wegen Verspätung der Beschwerde nicht aufrechterhalten werden.

(41) Da die Beschwerde nicht offensichtlich unbegründet [...] und auch aus keinem anderen Grund unzulässig ist, erklärt sie der GH für zulässig (einstimmig).

In der Sache

Zur Anwendbarkeit von Art. 14 iVm. Art. 8 EMRK

(53) Der GH erinnert daran, dass Art. 14 EMRK die anderen Bestimmungen der Konvention ergänzt [...], aber nicht zur Anwendung kommt, wenn die Umstände des Streits nicht in den Anwendungsbereich zumindest einer dieser Bestimmungen fallen.

(54) Im vorliegenden Fall rügen die Bf., die Zurückweisung des Antrags des ZweitBf. auf Erlangung eines Aufenthaltstitels aus familiären Gründen stehe ihrem Wunsch entgegen, weiterhin in Italien zusammenzuleben. Der GH muss daher entscheiden, ob dieser Sachverhalt in den Anwendungsbereich von Art. 8 EMRK fällt.

(55) Diesbezüglich erinnert der GH daran, dass die Staaten nach einem gefestigten Grundsatz des Völkerrechts – unbeschadet von für sie aus Verträgen erfließenden Verpflichtungen – die Einreise und den Aufenthalt von Nichtstaatsbürgern auf ihrem Gebiet bestimmen können. Die Konvention garantiert einem Ausländer kein Recht, in ein spezielles Land einzureisen oder dort zu wohnen. Konsequenz dieses Rechts der Staaten zur Kontrolle der Einwanderung ist, dass die Ausländer – und daher im vorliegenden Fall der ZweitBf. – die Verpflichtung haben, sich den Einwanderungskontrollen und -verfahren zu unterwerfen [...].

(56) Art. 8 EMRK kann nicht dahingehend ausgelegt werden, dass er eine allgemeine Verpflichtung einem Vertragsstaat gegenüber beinhaltet, die Wahl des gemeinsamen Wohnorts einer Familie zu respektieren und die Niederlassung von ausländischen Ehepartnern im Land zu akzeptieren oder auf seinem Gebiet die Familienzusammenführung zu genehmigen. Dennoch können die von den Staaten im Bereich der Einwanderung getroffenen Entscheidungen in bestimmten Fällen einen Eingriff in die Ausübung des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens gemäß Art. 8 EMRK begründen, insbesondere wenn die Betroffenen im Aufnahmestaat ausreichend starke persönliche oder familiäre Beziehungen haben, die Gefahr laufen, schwerwiegend geschädigt zu werden, sollte die fragliche Maßnahme angewendet werden.

(57) Im vorliegenden Fall lebten die Bf. [...] in Italien bereits seit ungefähr zehn Monaten zusammen, als der Polizeichef von Livorno sich am 18.10.2004 weigerte, dem ZweitBf. eine Aufenthaltsgenehmigung aus familiären Gründen zu gewähren.

(58) Der GH erinnert daran, dass er in seinem Urteil Schalk und Kopf/A befunden hat, dass es künstlich wäre, weiter der Ansicht zu sein, dass ein homosexuelles Paar im Gegensatz zu einem heterosexuellen Paar kein »Familienleben« iSd. Art. 8 EMRK hat. Er befand daher, dass die von den Herren Schalk und Kopf als einem de facto stabil zusammenlebenden homosexuellen Paar unterhaltene Beziehung ebenso unter den Begriff des »Familienlebens« fiel wie jene eines heterosexuellen Paares, das sich in derselben Situation befand. Er sieht keinen Grund, im Hinblick auf die Bf. des vorliegenden Falles zu einem anderen Schluss zu kommen.

(59) Der GH betont zudem, dass die Regierung nicht bestritten hat, dass die Weigerung, dem ZweitBf. einen Aufenthaltstitel zuzuerkennen [...], für diesen die rechtliche Verpflichtung mit sich brachte, Italien zu verlassen. Dieser Umstand hat die Betroffenen daher daran gehindert, weiterhin zusammen in diesem Land zu leben. Er stellte somit einen Eingriff in eines der wesentlichen Elemente ihres »Familienlebens« – so wie sie es organisieren wollten – dar und deshalb in ihr Recht auf Achtung desselben, wie es von Art. 8 EMRK garantiert wird.

(60) Was das Argument der Regierung angeht, wonach die Art. 8 und 14 EMRK nicht anzuwenden wären, weil es sowohl nach italienischem als auch nach EU-Recht an den rechtlichen Voraussetzungen fehlte, die für die Zuerkennung des Status des »Familienmitglieds« an den ZweitBf. nötig waren, beobachtet der GH, dass die etwaige Existenz einer rechtlichen Grundlage, die die Verweigerung der Zuerkennung der Aufenthaltsgenehmigung rechtfertigt, nicht zwangsläufig impliziert, dass kein Eingriff in das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens der Betroffenen erfolgte. Diese rechtliche Grundlage erlaubt es dem belangten Staat auch nicht, jede Verantwortung unter der Konvention abzulehnen.

(61) Im Hinblick auf die Dauer des strittigen Eingriffs betont der GH, dass er am 18.10.2004 begann, dem Datum der ersten Zurückweisung des Antrags auf Aufenthaltsgenehmigung, und spätestens im Juli 2009 endete, als die Bf. nach der Hinterlegung des endgültigen Urteils des Kassationsgerichts in der Kanzlei am 17.3.2009 [...] entschieden haben, Italien zu verlassen und sich in den Niederlanden niederzulassen. Dieser Eingriff dauerte daher etwa vier Jahre und neun Monate.

(63) Daraus folgt, dass die Umstände des Falles [...] unter Art. 8 EMRK fallen und Art. 14 EMRK iVm. dieser Bestimmung Anwendung findet.

Zur Einhaltung von Art. 14 iVm. Art. 8 EMRK

Unterschiedliche Behandlung von Personen in einer vergleichbaren Situation oder Gleichbehandlung von Personen in einer spürbar unterschiedlichen Situation?

(82) Im vorliegenden Fall scheint es in den Augen des GH nicht, dass die Bf. – ein nicht verheiratetes homosexuelles Paar – anders behandelt worden wären als ein nicht verheiratetes heterosexuelles Paar. Nachdem die Eigenschaft eines »Familienmitglieds« vom innerstaatlichen Recht nur dem »Ehepartner« und nicht dem Lebensgefährten zuerkannt wird, ist es vernünftig zu denken, dass auch einem heterosexuellen, nicht aus der EU stammenden Partner wie dem ZweitBf. in Italien eine Aufenthaltsgenehmigung aus familiären Gründen verweigert worden wäre. Tatsächlich betraf der Ausschluss von nicht verheirateten Partnern vom Recht, die fragliche Genehmigung zu erhalten, – wie vom Kassationsgericht betont – sowohl gleichgeschlechtliche als auch verschiedengeschlechtliche Paare. [...]

(83) Trotzdem kann die Situation der Bf. nicht als analog zu jener eines nicht verheirateten heterosexuellen Paares angesehen werden. Im Unterschied zu Letzterem haben die Betroffenen in Italien nicht die Möglichkeit zu heiraten. Sie können daher nach nationalem Recht nicht als »Ehepartner« eingestuft werden. Daher stellt eine einschränkende Auslegung des Begriffs des »Familienmitglieds« nur für homosexuelle Paare ein unüberwindbares Hindernis bei der Zuerkennung der Aufenthaltsgenehmigung aus familiären Gründen dar. Diese konnten auch keine andere Art der rechtlichen Anerkennung als die Ehe erlangen, da das italienische Rechtssystem zur Zeit der Ereignisse für homosexuelle oder heterosexuelle Paare in einer stabilen Beziehung keine Möglichkeit des Zugangs zu einer zivilen Lebensgemeinschaft oder eingetragenen Partnerschaft vorsah, die ihren Status bezeugte und ihnen bestimmte wesentliche Rechte garantierte. Im Übrigen erinnert der GH daran, dass er in seinem Urteil Oliari u.a./I darauf hingewiesen hat, dass die Situation gleichgeschlechtlicher Paare in Italien trotz der diesbezüglichen Entwicklungen in der innerstaatlichen Rechtsprechung in gewissen Bereichen unsicher blieb. Jedenfalls hat die Regierung nicht behauptet, dass die betreffenden Entwicklungen so weit gehen würden, für Mitglieder einer stabilen und dauerhaften homosexuellen Beziehung im Bereich der Einwanderung einen analogen Status zu jenem der »Ehepartner« anzuerkennen.

(84) Der GH bemerkt auch, dass die Bf. in Neuseeland den Status eines nicht verheirateten Paares erlangt hatten und entschieden zu heiraten, nachdem sie sich einmal in einem Staat niedergelassen hatten, der das Recht auf Ehe zwischen gleichgeschlechtlichen Personen anerkannte (die Niederlande). Deshalb konnte ihre Situation auch nicht mit jener eines heterosexuellen Paares verglichen werden, das aus persönlichen Gründen keine Ehe oder zivile Lebensgemeinschaft eingehen möchte.

(85) Die Gesamtheit der vorangegangenen Erwägungen führt den GH zum Schluss, dass die Bf., ein homosexuelles Paar, im Hinblick auf die Zuerkennung einer Aufenthaltsgenehmigung aus familiären Gründen gleich behandelt wurden wie Personen, die sich in einer spürbar unterschiedlichen Situation zu der ihrigen befanden – nämlich heterosexuelle Partner, die entschieden haben, ihre Partnerschaft nicht zu legalisieren.

Gab es eine objektive und angemessene Rechtfertigung?

(91) Der GH muss zunächst entscheiden, ob [die Ungleichbehandlung der Bf.] [...] im Rahmen des Verfahrens, das auf die Gewährung der Aufenthaltsgenehmigung aus familiären Gründen abzielte, ein legitimes Ziel verfolgte. Bejahendenfalls wird er prüfen, ob eine angemessene Verhältnismäßigkeit zwischen den eingesetzten Mitteln und dem angestrebten Ziel existierte.

(92) Die Regierung beruft sich zur Rechtfertigung der analogen Behandlung von nicht verheirateten homosexuellen und heterosexuellen Paaren im Bereich der Zuerkennung der Aufenthaltsgenehmigung aus familiären Gründen im Wesentlichen auf den Ermessensspielraum, den die Staaten genießen würden, um die traditionelle Familie zu schützen und zu entscheiden, ob die homosexuellen Paare Zugang zu zivilen Lebensgemeinschaften oder eingetragenen Partnerschaften haben müssen und welche exakte Natur der verliehene Status hat.

(93) Obwohl der Schutz der traditionellen Familie unter bestimmten Umständen ein legitimes Ziel im Hinblick auf Art. 14 EMRK darstellen kann, erwägt der GH, dass er im betroffenen Bereich, nämlich der Zuerkennung einer Aufenthaltsgenehmigung aus familiären Gründen für einen ausländischen homosexuellen Partner, keinen »besonders soliden und überzeugenden« Grund darstellen konnte, um unter den Umständen des vorliegenden Falles eine Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung zu rechtfertigen.

(94) Der GH betont, dass er im vorliegenden Fall nicht dazu aufgerufen ist, in abstracto zu untersuchen, ob der italienische Staat verpflichtet war, für gleichgeschlechtliche Paare zum Zeitpunkt, als dem ZweitBf. vom Polizeichef von Livorno die Aufenthaltsgenehmigung verweigert wurde (18.10.2004) oder als diese Entscheidung im Rahmen des folgenden gerichtlichen, mit Urteil des Kassationsgerichts abgeschlossenen Verfahrens bestätigt wurde, [...] eine Form der rechtlichen Anerkennung vorzusehen. Angesichts der Art und Weise, auf welche die Beschwerde der Bf. formuliert ist, beschränkt sich der GH darauf zu beurteilen, ob im speziellen Kontext der Verweigerung der Zuerkennung einer Aufenthaltsgenehmigung an den ZweitBf. die Entscheidungen der italienischen Behörden auf eine objektive und angemessene Rechtfertigung gestützt waren [...]. Es trifft zwar zu, dass das italienische Recht unverheiratete heterosexuelle Paare im Vergleich zu homosexuellen Paaren nicht anders behandelte, sondern den Begriff der »Familienmitglieder« auf heterosexuelle Ehegatten beschränkte. Doch unterwarf der Umstand der Anwendung der gleichen restriktiven Regel des Gesetzesdekrets Nr. 286 auf nicht legalisierte heterosexuelle und homosexuelle Paare mit dem alleinigen Ziel des Schutzes der traditionellen Familie die Bf. einer diskriminierenden Behandlung. Tatsächlich hat es der italienische Staat ohne objektive und angemessene Rechtfertigung unterlassen, sie anders als heterosexuelle Paare zu behandeln und die Möglichkeit Letzterer zu berücksichtigen, eine rechtliche Anerkennung ihrer Beziehung zu erhalten und somit den Anforderungen des innerstaatlichen Rechts im Hinblick auf die Zuerkennung einer Aufenthaltsgenehmigung für Familien zu genügen – eine Möglichkeit, in deren Genuss die Bf. nicht kamen.

(95) Der GH beobachtet im Übrigen, dass es genau das Fehlen dieser Möglichkeit für homosexuelle Paare ist, Zugang zu einer Form von rechtlicher Anerkennung zu haben, das die Bf. in eine von einem unverheirateten heterosexuellen Paar verschiedene Situation brachte. Selbst unter der Annahme, dass die Konvention die Regierung zur strittigen Zeit nicht dazu verpflichtete, für gleichgeschlechtliche Personen in einer stabilen und ernsthaften Beziehung die Möglichkeit vorzusehen, eine zivile Lebensgemeinschaft oder eine eingetragene Partnerschaft zu schließen, die ihren Status bezeugt und ihnen gewisse wesentliche Rechte garantiert, kann dies in keiner Weise die Feststellung beeinträchtigen, dass der ZweitBf. im Unterschied zu einem heterosexuellen Paar in Italien über kein rechtliches Mittel verfügte, um den Status als »Familienmitglied« des ErstBf. zuerkannt zu bekommen und somit in den Genuss eines Aufenthaltstitels aus familiären Gründen zu kommen.

(96) Der GH bemerkt, dass die Regierung keine anderen legitimen Ziele angegeben hat, die geeignet sind, die von den Bf. gerügte Diskriminierung zu rechtfertigen. Daher erwägt er, dass die Gleichbehandlung der Betroffenen mit unverheirateten heterosexuellen Paaren [...] keine objektive und angemessene Rechtfertigung hatte. Die restriktive Auslegung des Begriffs »Familienmitglied« hinsichtlich der ZweitBf. berücksichtigte nicht gebührend die persönliche Situation der Bf. und insbesondere die fehlende Möglichkeit für sie, in Italien eine Art von rechtlicher Anerkennung ihrer Beziehung zu erhalten.

(97) Der GH bemerkt auch, dass die Regierung die Behauptung der Internationalen Juristenkommission, der International Lesbian, Gay, Bisexual, Trans and Intersex Association (ILGA) Europe und des Network of European LGBT Families (NELFA) nicht bestritten hat, wonach es auf internationaler Ebene eine »bedeutende Tendenz« gebe, gleichgeschlechtliche Partner als »Familienmitglieder« zu behandeln und ihnen das Recht zuzuerkennen, zusammen zu leben. Ebenso ist sie der rechtsvergleichenden Analyse nicht entgegengetreten, welche die European Commission on Sexual Orientation Law (ECSOL) zum Schluss geführt hat, dass sich ein europäischer Konsens zeigt, der die Tendenz offenbart, dass Verbindungen zwischen gleichgeschlechtlichen Personen im Bereich der Einwanderung als »Familienleben« angesehen werden. Diesbezüglich unterstreicht er, dass aus den »einschlägigen europäischen Dokumenten« hervorgeht, dass sowohl das Europäische Parlament als auch die Parlamentarische Versammlung des Europarats eine restriktive Auslegung des Begriffs des »Familienmitglieds« durch die Mitgliedstaaten im Bereich der Einwanderung als problematisch beurteilt haben.

(98) Angesichts des Vorgesagten befindet der GH, dass der Staat zur strittigen Zeit durch die Entscheidung, homosexuelle Paare im Hinblick auf die Zuerkennung der Aufenthaltsgenehmigung aus familiären Gründen gleich zu behandeln wie heterosexuelle Paare, die ihre Situation nicht legalisiert haben, das Recht der Bf. verletzt hat, beim Genuss ihrer Rechte nach Art. 8 EMRK keine auf die sexuelle Orientierung gestützte Diskriminierung zu erleiden.

(99) Daraus folgt, dass es zu einer Verletzung von Art. 14 iVm. Art. 8 EMRK gekommen ist (6:1 Stimmen; im Ergebnis übereinstimmendes Sondervotum des Richters Spano, gefolgt von Richter Bianku; abweichendes Sondervotum von Richter Sicilianos).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK

(100) In einem Schreiben vom 26.8.2015 verlangten die Bf. vom GH, auch eine Verletzung von Art. 8 EMRK alleine festzustellen, da es in Italien an speziellen rechtlichen Bestimmungen zur Anerkennung und zum Schutz von Verbindungen zwischen gleichgeschlechtlichen Personen fehle. [...]

(102) [...] Diese Rüge ist verspätet und muss [...] [als unzulässig] zurückgewiesen werden (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK

€ 20.000,– für immateriellen Schaden; € 18.924,58 für Kosten und Auslagen (6:1 Stimmen; abweichendes Sondervotum von Richter Sicilianos).

Vom GH zitierte Judikatur:

Thlimmenos/GR v. 6.4.2000 (GK) = NL 2000, 63

Schalk und Kopf/A v. 24.6.2010 = NLMR 2010, 185 = EuGRZ 2010, 445 = ÖJZ 2010, 1089

X. u.a./A v. 19.2.2013 (GK) = NLMR 2013, 46 = ÖJZ 2013, 476

Vallianatos u.a./GR v. 7.11.2013 (GK) = NLMR 2013, 399

Oliari u.a./I v. 21.7.2015 = NLMR 2015, 338

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 30.6.2016, Bsw. 51362/09, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2016, 347) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im französischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/16_4/Taddeucci.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

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