JudikaturJustizBsw48144/09

Bsw48144/09 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
15. Januar 2015

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer V, Beschwerdesache Cleve gg. Deutschland, Urteil vom 15.1.2015, Bsw. 48144/09.

Spruch

Art. 6 Abs. 2 EMRK - Verstoß gegen die Unschuldsvermutung in Begründung zu Freispruch aus Mangel an Beweisen.

Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art. 6 Abs.2 EMRK (einstimmig).

Verletzung von Art. 6 Abs. 2 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 5.000,– für immateriellen Schaden, € 5.000,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Die Tochter des Bf., A., wurde am 9.3.1994 geboren. Der Bf. und die Kindesmutter J. trennten sich im September 1994. A. lebte zunächst bei ihrer Mutter, wurde aber 2004 in ein Heim gegeben.

Am 9.11.2006 zeigte J. den Bf. bei der Polizei an, weil dieser ihre gemeinsame Tochter seit 1998 vergewaltigt hätte.

Die Staatsanwaltschaft Münster klagte den Bf. am 18.1.2008 wegen schwerem sexuellen Missbrauch von Kindern nach § 176a StGB in fünfzehn Fällen und wegen sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen gemäß § 174 StGB zwischen Anfang 2002 und Sommer 2004 an. Der Bf. wurde beschuldigt, A. dreizehn Mal in seinem Auto und zwei Mal in einer Ferienwohnung vergewaltigt zu haben.

Das Landgericht Münster sprach den Bf. am 17.9.2008 nach fünf Verhandlungen aus Mangel an Beweisen frei. Es befand unter Bezugnahme auf mehrere Zeugen und zwei psychologische Gutachten, dass die dem Bf. zur Last gelegten Straftaten nicht mit der für eine Verurteilung nötigen Gewissheit nachgewiesen hätten werden können. Der Bf. werde nur durch die Aussagen von A. belastet, die jedoch Ungereimtheiten aufweisen würden. Nachdem das Landgericht befunden hatte, dass A. nicht von Dritten beeinflusst worden war, um ihren Vater zu belasten, hielt es in seinem Urteil wörtlich fest: »So geht die Kammer im Ergebnis davon aus, dass das von der Zeugin geschilderte Kerngeschehen einen realen Hintergrund hat, nämlich dass es tatsächlich zu sexuellen Übergriffen des Angeklagten zu Lasten seiner Tochter in seinem Auto gekommen ist. Die Taten ließen sich aber dennoch weder ihrer Intensität noch ihrer zeitlichen Einordnung nach in einer für eine Verurteilung hinreichenden Art und Weise konkretisieren. Die Widersprüche in den Aussagen der Zeugin waren so gravierend, dass konkrete Feststellungen nicht getroffen werden konnten.«

Das Urteil wurde dem Anwalt des Bf. am 11.11.2008 zugestellt und in weiterer Folge rechtskräftig.

Am 9.12.2008 erhob der Bf. Verfassungsbeschwerde, weil die oben zitierte Passage des Urteils des Landgerichts sein Recht auf ein faires Verfahren, seine Persönlichkeitsrechte und die Menschenwürde verletzen würde. Das BVerfG weigerte sich am 10.3.2009, die Beschwerde zur Entscheidung anzunehmen.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. rügt, dass Äußerungen im Urteil des Landgerichts, mit dem er freigesprochen wurde, auf eine Schuldfeststellung hinauslaufen und insbesondere Art. 6 Abs. 2 EMRK (Unschuldsvermutung) verletzen würden.

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 2 EMRK

Zulässigkeit

(30) Die Regierung ist der Ansicht, dass die Unschuldsvermutung nach Art. 6 Abs. 2 EMRK nicht auf die von einem Gericht in seinem Urteil angegebene Begründung Anwendung finden würde. [...] Ein Freispruch aus Mangel an Beweisen wie im vorliegenden Fall könne trotz des Bestehenbleibens erheblicher Verdachtsmomente gegen den Beschuldigten erfolgen. Ein solcher Freispruch sei daher verfahrensrechtlicher Natur in dem Sinne, dass die prozessualen Erfordernisse zum Schuldspruch nicht erfüllt sind. Im Gegensatz zu einem Freispruch nach dem Beweis, dass der Beschuldigte nicht schuldig war, würde er den Beschuldigten moralisch nicht rehabilitieren. Dieser besitze unter Art. 6 Abs. 2 EMRK kein Recht, von allen Verdachtsmomenten freigesprochen zu werden.

(40) Der GH [...] anerkennt, dass die große Mehrheit von Beschwerden unter Art. 6 Abs. 2 EMRK vor ihm entweder die Reichweite der Unschuldsvermutung vor dem Urteil des Prozessgerichts über die Schuld des Angeklagten betraf oder den von dieser Bestimmung gewährten Schutz nach rechtskräftigem Freispruch oder Einstellung des Verfahrens.

(41) Der vorliegende Fall betrifft die behauptete Verletzung der Unschuldsvermutung durch ein nationales Gericht zu der Zeit, als es nach Beendigung der Verhandlung aufgerufen war, über die Schuld oder Unschuld des Bf. zu entscheiden und eine Begründung dafür zu geben, indem es alle vorhandenen Beweise würdigte. Aus der Rechtsprechung des GH geht hervor, dass das Gericht in diesem Verfahrensstadium durch die Unschuldsvermutung nicht daran gehindert wird, verbleibende Verdachtsmomente gegen den Beschuldigten zu äußern, wenn es ihn von der Anklage wegen Mangel an Beweisen freispricht. Das kann aus dem Verbot abgeleitet werden, irgendwelche Schuldverdächtigungen zu äußern, wenn ein Freispruch einmal rechtskräftig geworden ist, wovon solche umfasst sind, die in der Begründung des Freispruchs angeführt werden. Gemäß der Rechtsprechung des GH endet der durch die Unschuldsvermutung gewährte Schutz erst, wenn ein Beschuldigter ordnungsgemäß der Straftaten für schuldig befunden wurde, derer er angeklagt ist, was niemals der Fall ist, wenn er freigesprochen wurde. Folglich findet die Unschuldsvermutung Anwendung auf die Begründung eines Urteils, das den Beschuldigten in seinem operativen Teil – von dem die Begründung nicht getrennt werden kann – freispricht. Sie kann verletzt sein, wenn die Begründung die Ansicht widerspiegelt, dass der Beschuldigte tatsächlich schuldig ist.

(42) Der GH kommt daher zum Schluss, dass Art. 6 Abs. 2 EMRK anwendbar ist. Die diesbezügliche Einrede der Regierung muss daher zurückgewiesen werden.

(43) Der GH bemerkt weiters, dass die Beschwerde nicht [...] offensichtlich unbegründet und auch aus keinem anderen Grund unzulässig und daher für zulässig zu erklären ist (einstimmig).

In der Sache

(56) Der GH ist [...] aufgerufen zu entscheiden, ob die strittigen Äußerungen, die das Landgericht in seinem den Bf. freisprechenden Urteil tätigte, wonach »das von der Zeugin geschilderte Kerngeschehen einen realen Hintergrund hat, nämlich dass es tatsächlich zu sexuellen Übergriffen des Angeklagten zu Lasten seiner Tochter in seinem Auto gekommen ist«, mit dem Recht des Bf. vereinbar war, für unschuldig angesehen zu werden, bis er rechtmäßig für schuldig befunden wurde.

(57) Bei der Beurteilung, ob die Äußerungen des Landgerichts als eine Schuldfeststellung oder lediglich als die Beschreibung einer Verdachtslage (Letztere ist in der Begründung eines freisprechenden Urteils erlaubt) anzusehen sind, kann der GH nur feststellen, dass die strittigen Äußerungen als solche für sich allein betrachtet darauf hinzuweisen scheinen, dass das Landgericht den Bf. des sexuellen Missbrauchs von A. für schuldig befand. Bei der Beurteilung, ob die Äußerungen die Unschuldsvermutung verletzten, muss der GH jedoch die Natur des speziellen Verfahrens berücksichtigen, in dem die Äußerungen gemacht wurden, sowie ihre wahre Bedeutung in diesem Zusammenhang.

(58) Der GH beobachtet diesbezüglich, dass die strittigen Äußerungen in der Begründung des Urteils eines Strafgerichts getätigt wurden, das den Bf. von der Anklage wegen sexuellem Missbrauch von A. aus Mangel an Beweisen freisprach. Als das Landgericht sein Urteil erließ, war es nach nationalem Recht aufgerufen, sowohl die den Bf. belastenden als auch die ihn entlastenden Beweise zu würdigen. Es hatte zu entscheiden, ob nicht nur hinreichende Gründe für den Verdacht vorlagen, dass der Bf. die Sexualstraftaten begangen hatte, wegen derer er angeklagt war – so wie es für die Eröffnung des Verfahrens gegen ihn erforderlich war (siehe § 203 StPO) –, sondern ob es nach Untersuchung aller ihm vorliegenden Beweise über jeden vernünftigen Zweifel hinaus überzeugt war, dass der Bf. die fraglichen Straftaten begangen hatte.

(59) Der GH bemerkt, dass das Landgericht in seiner Begründung für den Freispruch aus Mangel an Beweisen einerseits feststellte, dass die konkreten Straftaten, wegen derer der Bf. angeklagt worden war, nicht mit der für eine Verurteilung nötigen Gewissheit bewiesen werden hätten können. Das Gericht befand, dass es durch die Aussage von A. in der Verhandlung nicht überzeugt war, dass die Anschuldigungen völlig korrekt wären, insbesondere im Hinblick auf eine klare Umschreibung der strafbaren Handlungen und ihre Zeit. Aufgrund der Ungereimtheiten in A.’s Aussagen wäre es unmöglich gewesen, konkrete Feststellungen zu treffen, insbesondere im Hinblick auf die Intensität der Handlungen des Bf., wie es für ihre Einordnung als Straftat nötig gewesen wäre, aber auch hinsichtlich der Anzahl der Handlungen und des Orts und Zeitrahmens, an/in dem sie erfolgten. Das Landgericht erachtete es daher [...] nicht für erwiesen, dass der Bf. der ihm zur Last gelegten Straftaten, so wie sie im StGB festgelegt waren, schuldig war. Andererseits und trotz dieser Feststellungen tätigte das Landgericht, als es befand, dass A. nicht von Dritten beeinflusst worden wäre, seine strittigen Äußerungen, wonach das vom Opfer geschilderte Geschehen einen realen Hintergrund hätte und es tatsächlich zu sexuellen Übergriffen des Angeklagten gegenüber seiner Tochter in seinem Auto gekommen wäre.

(60) Weiters muss der GH bei der Beurteilung der wahren Bedeutung der strittigen Äußerungen in diesem Zusammenhang die vom Landgericht verwendete Sprache berücksichtigen. Er beobachtet, dass das Landgericht durch die Bezugnahme auf »sexuelle Übergriffe« einen allgemeinen, nicht juristischen Begriff verwendete, der in der Definition der Delikte des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern und des sexuellen Missbrauchs eines Schutzbefohlenen, derer der Bf. beschuldigt war, nicht enthalten ist. Es trifft daher zu, dass dieser Begriff als solcher die strafrechtliche – im Gegensatz zur moralischen – Relevanz der Handlungen des Bf. nicht konkretisiert.

(61) Dennoch ist die Feststellung des Landgerichts, »dass es tatsächlich zu sexuellen Übergriffen des Angeklagten zu Lasten seiner Tochter in seinem Auto gekommen ist« direkt und vorbehaltlos formuliert. Im Lichte der Anschuldigungen gegenüber dem Bf., nämlich des schweren sexuellen Missbrauchs seiner Tochter vor allem in seinem Auto, kann sie dem Leser des Urteils nur vermitteln, dass der Bf. de facto des sexuellen Missbrauchs seiner Tochter schuldig war.

(62) Der GH nimmt ferner das Argument des Bf. zur Kenntnis, dass die strittigen Äußerungen des Landgerichts negative Folgen hatten, vor allem, weil das Familiengericht im folgenden Verfahren jeglichen Kontakt zu seiner Tochter ausschloss. Er verweist in diesem Rahmen auf seine [...] Rechtsprechung, dass das Ausdrücken irgendeines Verdachts von Schuld, auch eines solchen, der in der Begründung des Freispruchs erklärt wird, nach dem rechtskräftigen Freispruch des Bf. mit der Unschuldsvermutung unvereinbar ist. Jede Behörde, die direkt oder indirekt auf seine strafrechtliche Verantwortlichkeit im Hinblick auf die Straftaten, wegen derer er angeklagt war, Bezug nimmt, muss die operativen Bestimmungen des Urteils des Landgerichts, das ihn freispricht, achten.

(63) Es trifft zu, dass das Verfahren vor dem Familiengericht [...] nicht Gegenstand der vorliegenden Beschwerde ist. Jedoch ist es angesichts der möglichen Bedeutung der Begründung im Urteil eines Strafgerichts für folgende rechtliche Verfahren von entscheidender Wichtigkeit, in diesem Urteil jede Begründung zu vermeiden, die nahe legt, dass das Gericht den Angeklagten für schuldig erachtet, obwohl es an irgendeiner formalen Feststellung von Schuld fehlt. Nur auf diese Weise wird der von der in Art. 6 Abs. 2 EMRK verankerten Unschuldsvermutung garantierte Schutz praktisch und wirksam.

(64) Angesichts dieser Elemente befindet der GH, dass die strittigen Äußerungen des Landgerichts über eine bloße Beschreibung einer (verbleibenden) Verdachtslage durch den Gebrauch unglücklich gewählter Sprache hinausgingen. Sie haben unter den gegebenen Umständen dem Freispruch des Bf. widersprochen bzw. ihn »aufgehoben«, indem sie auf eine Feststellung hinausliefen, dass er der ihm zur Last gelegten Straftaten schuldig war.

(65) Angesichts des Vorgesagten gelangt der GH zum Schluss, dass es zu einer Verletzung von Art. 6 Abs. 2 EMRK gekommen ist (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK

€ 5.000,– für immateriellen Schaden; € 5.000,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Adolf/A v. 26.3.1982 = EuGRZ 1982, 297

Lutz/D v. 25.8.1987 = EuGRZ 1987, 399

Englert/D v. 25.8.1987 = EuGRZ 1987, 405

Nölkenbockhoff/D v. 25.8.1987 = EuGRZ 1987, 410

T. H./S v. 29.6.1992

Orr/N v. 15.5.2008 = EuGRZ 2008, 140

Petyo Petkov/GB v. 7.1.2010

Allen/GB v. 12.7.2013 (GK) = NL 2013, 257

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 15.1.2015, Bsw. 48144/09, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2015, 21) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/15_1/cleve.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.