JudikaturJustizBsw38663/06

Bsw38663/06 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
15. Juli 2010

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer I, Beschwerdesache Mladoschovitz gegen Österreich, Urteil vom 15.7.2010, Bsw. 38663/06.

Spruch

Art. 6 Abs. 1 EMRK - Rechtliches Gehör bei Rekurs in Exekutionsverfahren.

Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).

Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 1.500,– für immateriellen Schaden für beide Bf. gemeinsam (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Die Bf. haben einen Unterhaltsanspruch gegen ihren Vater. Als dieser mit € 3.006,– in Unterhaltsrückstand kam, beantragten sie beim BG Enns die Vollstreckung der Zahlungsaufträge. Die Exekutionsbewilligung sah Fahrnis- und Forderungsexekution vor.

Am 21.7.2006 brachte der Vater der Bf. Oppositionsklage nach § 35 EO ein, um die Aufhebung des der Exekutionsbewilligung zugrunde liegenden Anspruchs zu erwirken. Außerdem beantragte er die Aufschiebung der Exekution bis zur Entscheidung über die Oppositionsklage. Was die Fahrnisexekution betraf, befürchtete er, seine Eigentumsrechte an den beschlagnahmten Gegenständen zu verlieren. In Hinblick auf die Forderungsexekution argumentierte er, dass es im Falle ihrer Durchführung nahezu unmöglich sein würde, das Geld von den Bf. zurückzubekommen, sollte die Exekutionsbewilligung später aufgehoben werden.

Am 27.7.2006 genehmigte das BG, ohne die Bf. zu hören, den Aufschub der Forderungsexekution unter dem Vorbehalt der Hinterlegung einer Kaution (Anm.: Die Kaution dient dazu, den Gläubiger vor Schäden zu schützen, die aus der verspäteten Vollstreckung seines Anspruchs resultieren.) von € 3.500,–. Der Vater der Bf. focht diesen Beschluss an, da er die Kautionssumme für zu hoch hielt. Über diese Rekurserhebung wurden die Bf. nicht informiert.

Das LG Steyr hob den Beschluss des BG auf und ordnete den Aufschub sowohl der Forderungs- als auch der Fahrnisexekution bis zur Entscheidung über die Oppositionsklage an. Als Kaution setzte es € 1.000,– fest. Die Bf. wurden wiederum nicht gehört.

Eine Revision an den OGH wurde für unzulässig erklärt. Den Bf. (die das Verfahren betreffend den Exekutionsaufschub verloren hatten) wurde aufgetragen, die ihrem Vater entstandenen Kosten in Höhe von € 305,40 zu erstatten.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. behaupten eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren).

I. Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK

Die Bf. rügen, im Verfahren zum Aufschub der Exekutionsbewilligung nicht gehört worden zu sein. Im Falle einer Anhörung hätten sie dem Aufschub zustimmen können und wären dann nicht zur Erstattung der Gerichtskosten verpflichtet worden.

1. Zur Zulässigkeit

Die Regierung bestreitet die Anwendbarkeit von Art. 6 EMRK auf Verfahren zur Aufschiebung von Exekutionen. Vollstreckungsverfahren würden dieser Norm nicht unterstehen, da über den strittigen zivilrechtlichen Anspruch bereits im Verfahren in der Sache entschieden worden sei.Der GH erinnert an seine Rechtsprechung, wonach die Vollstreckung eines Gerichtsurteils als integraler Bestandteil eines »Verfahrens« nach Art. 6 EMRK angesehen werden muss. Die Regierung argumentiert zwar, dass diese Rechtsprechung in Fällen betreffend die Nichtvollstreckung rechtskräftiger Urteile entwickelt wurde und nicht auf jede Art von Exekutionsverfahren anwendbar ist. Der GH hat dieses Argument hier aber nicht näher zu untersuchen, da das gegenständliche Verfahren aus den nachfolgenden Gründen die Feststellung zivilrechtlicher Ansprüche der Bf. betraf.

Der Antrag auf Exekutionsaufschub wurde gestellt, nachdem der Vater der Bf. Oppositionsklage gemäß § 35 EO erhoben hatte. Letztere war auf die Anfechtung jenes Anspruchs gerichtet, welcher der Exekutionsbewilligung zugrunde lag, und hatte damit direkten Bezug zu einem »zivilrechtlichen Anspruch« im Sinne von Art. 6 Abs. 1 EMRK. Die Höhe der Kaution ist eng mit dem Verfahren nach § 35 EO verknüpft, da das Gericht zu ihrer Festsetzung die Erfolgschancen der Oppositionsklage abschätzen muss.

Da den Bf. im Verfahren nach § 35 EO die Erstattung der Kosten auferlegt wurde, ist Art. 6 Abs. 1 EMRK vorliegend anwendbar. Die Beschwerde ist zudem weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen Grund unzulässig und muss folglich für zulässig erklärt werden (einstimmig).

2. In der Sache

Die Bf. bringen vor, sie hätten hinsichtlich des Rekurses ihres Vaters gehört werden sollen, da sie letztendlich die ihm entstandenen Kosten tragen mussten. Die Regierung entgegnet, dass die Bf. auch im Falle ihrer Anhörung und bei Zustimmung zum Exekutionsaufschub zur Kostenerstattung verpflichtet worden wären, da das Verfahren auch dann nicht anders ausgegangen wäre und nach österreichischem Recht die unterlegene Partei die Kosten zu erstatten habe. Deshalb müsse zwischen einer Angelegenheit betreffend das Recht auf Gehör und jener betreffend die Kostentragung unterschieden werden.

Wie der GH feststellt, mussten die Bf. jene Kosten, die ihrem Vater im die Höhe der Kaution betreffenden Rekursverfahren entstanden waren, unabhängig vom Ausgang des Verfahrens nach § 35 EO tragen.

Im Fall Beer/A hat der GH – unter Feststellung einer Verletzung des Prinzips der Waffengleichheit – erkannt, dass in einem Verfahren jeder Partei die Möglichkeit gegeben werden muss, von den Vorbringen des Gegners bzw. den von ihm beigebrachten Beweisen Kenntnis zu erlangen und dazu Stellung zu nehmen. Es obliegt den Verfahrensparteien zu entscheiden, zu welchen Punkten sie sich äußern wollen. Auf dem Spiel steht nämlich das Vertrauen der Prozessbeteiligten in die Arbeit der Justiz, das sich unter anderem auch auf dem Wissen gründet, dass die Möglichkeit besteht, die eigenen Ansichten über jeglichen Akteninhalt zu äußern.

Vorliegend hatten die Bf. weder Kenntnis von der Rekurserhebung gegen die Festlegung der Kautionshöhe, noch die Gelegenheit, ihre Argumente vorzubringen, mussten jedoch die Kosten des Rechtsmittelverfahrens tragen. Der GH gelangt zu der Ansicht, dass damit dem Prinzip der Waffengleichheit widersprochen wurde und eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK vorliegt (einstimmig).

II. Entschädigung nach Art. 41 EMRK

€ 1.500,– für immateriellen Schaden für beide Bf. gemeinsam (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Werner/A v. 24.11.1997, NL 1997, 276; ÖJZ 1998, 233.

Immobiliare Saffi/I v. 28.7.1999 (GK), NL 1999, 132.

Beer/A v. 6.2.2001, NL 2001, 25; ÖJZ 2001, 516.

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 15.7.2010, Bsw. 38663/06, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2010, 230) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/10_04/Mladoschovitz.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rechtssätze
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