JudikaturJustizBsw30465/06

Bsw30465/06 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
04. April 2013

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer I, Beschwerdesache C.B. gg. Österreich, Urteil vom 4.4.2013, Bsw. 30465/06.

Spruch

Art. 6 Abs. 1 EMRK, Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK - Nichtzulassung eines privaten Sachverständigengutachtens.

Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art. 6 EMRK (einstimmig).

Unzulässigkeit der Beschwerde im Übrigen (einstimmig).

Keine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 und Abs. 3 lit. d EMRK (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

2005 leitete das LG Krems a.d. Donau Strafverfahren gegen den Bf. wegen sexuellen Missbrauchs Minderjähriger und wegen mehrerer Drogendelikte ein.

Das Gericht zog während der Verfahren einen neurologischen und psychiatrischen Sachverständigen hinzu, um zu prüfen, ob der Bf. die Bedingungen für eine Unterbringung in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher gemäß § 21 Abs. 2 StGB erfüllte. Das am 4.3.2005 vorgelegte Gutachten ergab die volle Zurechnungsfähigkeit des Bf. sowie eine Sexualstörung, Pädophilie und narzisstische Persönlichkeitsstörung. Außerdem bestünde  ein sehr hohes Risiko eines Rückfalls mit erheblichen Konsequenzen.

Am 8.6.2005 übermittelte der Anwalt des Bf. ein Gutachten eines privaten Sachverständigen vom 12.5.2005, eines praktizierenden Psychiaters und Neurologen, und beantragte, dieses in der mündlichen Verhandlung verlesen zu lassen sowie einen weiteren Sachverständigen zu bestellen, falls beide Gutachten nicht übereinstimmen sollten. Der private Sachverständige stellte ebenfalls eine Sexualstörung und Pädophilie, jedoch keine narzisstische Persönlichkeitsstörung fest und beurteilte das Risiko eines erneuten Missbrauchs von Kindern als gering bis mittelmäßig. Am 22.6.2005 ergänzte der gerichtliche Sachverständige sein Gutachten, indem er detailliert auf die Feststellungen des privaten Sachverständigen einging.

Am 30.6.2005 trug der gerichtliche Sachverständige sein Gutachten in der mündlichen Verhandlung vor, wobei solche Fragen des Anwalts des Bf. nicht zugelassen wurden, die sich auf die Kompetenzen des gerichtlichen Sachverständigen oder das Privatgutachten bezogen. Er beantragte daraufhin die Zulassung dieses Gutachtens sowie die Zulassung des privaten Sachverständigen und drei weiterer Personen als Zeugen sowie die Zuziehung eines anderen Sachverständigen. Diese Anträge wurden vom LG Krems abgewiesen. Ein erneuter Antrag des Anwalts, den privaten Sachverständigen als Zeugen zuzulassen, wurde ebenfalls abgewiesen. Am selben Tag wurde der Bf. vom LG als Schöffengericht zu zwei Jahren Haft wegen sexuellen Missbrauchs Minderjähriger und Drogendelikten verurteilt und einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher zugewiesen.

Am 28.10.2005 erhob der Bf. gegen diese Entscheidung Nichtigkeitsbeschwerde und Berufung. Am 22.12.2005 wies der OGH die Nichtigkeitsbeschwerde zurück und verwies die Berufung an das OLG Wien zurück, wo sie am 30.3.2006 als unbegründet abgewiesen wurde. Die Entscheidung wurde dem Anwalt des Bf. am 30.5.2006 zugestellt.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. rügt eine Verletzung von Art. 6 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren), da die nationalen Gerichte das Gutachten des gerichtlichen Sachverständigen falsch beurteilt hätten. Darüber hinaus verletze die Nichtzulassung des Gutachtens des privaten Sachverständigen sowie weiterer Zeugen als Beweismittel das Prinzip der Waffengleichheit.

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 EMRK

Da die Beschwerde nicht offensichtlich unbegründet und auch aus keinem anderen Grund unzulässig ist, muss sie für zulässig erklärt werden (einstimmig).

Bezüglich des Vorbringens des Bf., die nationalen Gerichte hätten die Qualität und die Feststellungen des Gutachtens des gerichtlichen Sachverständigen falsch beurteilt, wiederholt der GH, dass es nicht seine Aufgabe ist, behauptete tatsächliche oder rechtliche Irrtümer der nationalen Gerichte zu behandeln, es sei denn,  sie haben gegen Rechte oder Freiheiten der Konvention verstoßen. Ferner regelt Art. 6 EMRK nicht die Zulässigkeit eines Beweismittels oder die Art seiner Beurteilung. Dies ist durch nationales Recht und nationale Gerichte zu bestimmen.

Der Bf. hat weitere Beschwerden erhoben, die das Gutachten eines privaten Sachverständigen und beantragte Zeugen betreffen. Diesbezüglich erkennt der GH drei Beschwerden, die im Wesentlichen zusammenhängen: Die erste bezieht sich auf die Nichtzulassung eines privat in Auftrag gegebenen psychiatrischen Sachverständigengutachtens in einem Strafverfahren, die zweite auf die Nichtzulassung eines privat beauftragten Sachverständigen als Zeuge, nachdem sein Gutachten als Beweismittel abgelehnt wurde, und die dritte auf die Nichtzulassung von drei Zeugen auf Seite des Bf.

Der Grundsatz der Waffengleichheit erfordert, dass jeder Partei die Möglichkeit gegeben wird, ihren Sachverhalt ohne Nachteil gegenüber der Gegenpartei vorzubringen. Vor dem Hintergrund, dass die Voraussetzungen von Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK ein besonderes Element des Rechts auf ein faires Verfahren iSd. Art. 6 Abs. 1 EMRK darstellen, wird der GH die Beschwerden unter diesen beiden Bestimmungen prüfen. Grundsätzlich unterstützt ein Sachverständiger den Richter bei der Klärung einer Frage oder der Lösung eines Problems. Es ist den Mitgliedstaaten überlassen, wie die nationalen Behörden das System für die Zulassung von Beweismitteln in Strafverfahren gestalten. Der GH drängt einem Mitgliedstaat nicht ein bestimmtes System auf, sondern muss sicherstellen, dass das bestehende System ausreichende Schutzmaßnahmen bereitstellt, um ein faires Verfahren und den Grundsatz der Waffengleichheit für die betroffenen Parteien zu garantieren.

Bezüglich der Zulassung des Gutachtens des privaten Sachverständigen als Beweismittel beobachtet der GH zunächst, dass der offizielle Sachverständige durch das Gericht bestellt wurde und nicht durch den Staatsanwalt. Daher ist dieser nicht als eine der Parteien des Verfahrens zu betrachten, sondern als unabhängiger Sachverständiger, der das Gericht bei Fragen unterstützte, die die Richter nicht selbst klären konnten. Darüber hinaus bot sich für den Bf. in der nationalen Rechtsordnung kein Grund, eine Einwendung zu erheben, die sich auf den gerichtlichen Sachverständigen allgemein bezog.

Weiters nimmt der GH zur Kenntnis, dass die vom Privatgutachter aufgezeigten Problempunkte, die sich auf die Methodik und die Feststellungen des gerichtlichen Sachverständigen bezogen, diesem erst nach dessen schriftlicher Stellungnahme mitgeteilt wurden. Er reagierte auf die Kritik, indem er seinem Gutachten eine Ergänzung hinzufügte, die auf jeden einzelnen vom Privatgutachter vorgebrachten Punkt einging. Auf diese Weise wurden sowohl die Kritikpunkte als auch die Ergänzungen in der Gesamtheit der Beweismittel und somit auch bei der Entscheidungsfindung der nationalen Gerichte berücksichtigt. Darüber hinaus stand der gerichtliche Sachverständige dem Bf. und seinem Anwalt während der mündlichen Verhandlung drei Stunden für Fragen zur Verfügung. Darauf waren beide durch das Privatgutachten vorbereitet, da es die notwendigen besonderen Kenntnisse zum Themengebiet vermittelte und die Aufmerksamkeit auf mögliche Problemfelder im Gutachten des gerichtlichen Sachverständigen lenkte. Der Bf. und sein Anwalt waren daher ausreichend vorbereitet, um sich diesem Gutachten in der Verhandlung zu stellen.

Schließlich haben die nationalen Gerichte ausführlich erläutert, warum sie das Gutachten des gerichtlichen Sachverständigen, das sowohl in schriftlicher Form vorlag als auch in der mündlichen Verhandlung näher ausgeführt wurde, als verständlich und überzeugend einstuften – es habe nämlich jegliche vom Privatgutachter vorgebrachten Bedenken ausräumen können. Deshalb wurde es letztlich von den nationalen Gerichten akzeptiert und durch das LG als entscheidender Faktor für die Unterbringung des Bf. in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher herangezogen. Der GH kann anhand des ihm vorliegenden Materials zu keinem anderen Ergebnis kommen.

Bezüglich des zweiten vom Bf. vorgebrachten Beschwerdepunktes, der Nichtzulassung des privaten Sachverständigen als Zeugen, ist festzustellen, dass die nationalen Gerichte ihre diesbezügliche Entscheidung sorgfältig und verständlich begründeten. Der GH beobachtet, dass eine Zulassung den privaten Sachverständigen auf Umwegen in das Verfahren einbezogen und auf diese Weise die erste Entscheidung, nämlich dessen Gutachten nicht als Beweismittel zuzulassen, umgangen hätte. Insbesondere, weil der gerichtliche Sachverständige die vom privaten Sachverständigen vorgebrachten Problempunkte schriftlich und mündlich ausführte, der Bf. und sein Anwalt ausreichend Möglichkeiten hatten, ihn zu befragen, sich auf Problempunkte zu beziehen und Bedenken bezüglich der Qualität und der Feststellungen des gerichtlichen Gutachtens vorzubringen, ist der GH davon überzeugt, dass sich der Bf. in hinreichendem Maße mit dem gerichtlichen Sachverständigen auseinandersetzen, die Argumente zu seiner Verteidigung vorbringen und sein Recht auf Waffengleichheit ausüben konnte. Die – genau begründete – Nichtzulassung des Privatgutachters als Zeuge kann daher nicht das Recht des Bf. auf ein faires Verfahren eingeschränkt haben.

Dasselbe gilt für die Nichtzulassung der Zeugen. In diesem Zusammenhang wiederholt der GH, dass es im Allgemeinen die Aufgabe der nationalen Gerichte ist, die Beweise zu bewerten und die Relevanz der Beweise zu beurteilen, die die Angeklagten vorbringen möchten. Dies gilt insbesondere für die Einschätzung, ob es notwendig ist, Zeugen zu laden. Für den Fall, dass die nationalen Gerichte den Antrag seitens des Angeklagten auf ein Beweismittel oder einen Zeugen zurückweisen, müssen sie ihre Entscheidung ordnungsgemäß begründen. Es ist nicht Aufgabe des GH, seine Ansicht bezüglich der Relevanz des beantragten und zurückgewiesenen Beweismittels auszudrücken, sondern zu prüfen, ob das Verfahren insgesamt fair war, wofür er sicherstellen muss, ob die Zurückweisung des Zeugen durch die nationalen Gerichte auf hinreichende Gründe gestützt wurde. Im vorliegenden Fall wurde die betreffende Entscheidung sowohl in der mündlichen Verhandlung als auch im Urteil durch das LG Krems genau begründet. Zudem nahm der OGH die Beschwerde des Bf. in dieser Hinsicht zur Kenntnis und brachte hinreichende Argumente für die Nichtzulassung vor, insbesondere im Bezug auf die Unbestimmtheit des Antrags und die mangelnde Begründung. Auch für den Fall, dass der GH die Qualität des Zeugenantrages selbst beurteilen würde, würde er sich auf seine Feststellungen beziehen, dass ein solcher Antrag begründet sein muss, und dass die beantragende Partei auch bereit sein muss zu erklären, inwiefern der Zeuge zu einer bestimmten Frage Stellung nehmen kann. Im vorliegenden Fall stellt der GH fest, dass der Antrag des Bf. im Bezug auf die Zeugen nicht hinreichend begründet war.

Schließlich ist er der Ansicht, dass es der Bf. im Hinblick auf seine Beschwerde, welche die Zurückweisung seines Antrags betraf, dem gerichtlichen Sachverständigen weitere Fragen stellen zu können, versäumt habe zu konkretisieren, an welchen Fragen er gehindert worden sei, inwiefern diese Fragen von Bedeutung für ihn gewesen seien und sie zur Wahrheitsfindung beigetragen hätten.

Im Hinblick auf diese Feststellungen brachte die Nichtzulassung des privaten Gutachtens, des privaten Sachverständigen als Zeugen, der drei weiteren Zeugen sowie weiterer, nicht näher konkretisierter Fragen an den gerichtlichen Sachverständigen den Bf. nicht in eine ungünstigere Postion im Vergleich zur Gegenpartei und verletzte daher nicht den Grundsatz der Waffengleichheit in Strafverfahren. Die Verfahren gegen den Bf. waren somit insgesamt fair. Keine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 und Abs. 3 lit. d EMRK (einstimmig).

Zu einer anderen behaupteten Verletzung

Der Bf. beruft sich weiters auf Art. 5 EMRK, ohne die Beschwerde unter dieser Bestimmung näher auszuführen. Der GH sieht keinen Anschein einer Verletzung der Rechte und Freiheiten der Konvention. Dieser Beschwerdepunkt ist offensichtlich unbegründet  und muss daher als unzulässig zurückgewiesen werden (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Vidal/B v. 22.4.1992 = NL 1992/3, 15 = EuGRZ 1992, 440 = ÖJZ 1992, 801

Perna/I v. 6.5.2003 (GK)

Mirilashvili/RUS v. 11.12.2008

Gäfgen/D v. 1.6.2010 (GK) = NL 2010, 173 = EuGRZ 2010, 417

Al-Khawaja and Tahery/GB v. 15.12.2011 (GK) = NL 2011, 375

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 4.4.2013, Bsw. 30465/06 entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2013, 119) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/13_2/C.B..pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rechtssätze
4
  • RS0129607OGH, AUSL EGMR Rechtssatz

    25. November 2014·3 Entscheidungen

    Zwar werden Staatsanwälte von Art 90a B-VG als Organe der Gerichtsbarkeit bezeichnet und sind gemäß § 3 Abs 2 StPO zur Objektivität verpflichtet. In der Hauptverhandlung sind sie als Anklagevertreter jedoch Beteiligte des Verfahrens (§ 210 Abs 2 zweiter Satz StPO) und nehmen strukturell eine Gegenposition zum Angeklagten ein. Aufgrund dieses Rollenwechsels ist auch der von der Staatsanwaltschaft (im Ermittlungsverfahren) bestellte und geführte Sachverständige, soweit sich die Anklage begründend auf dessen Expertise stützt und ihn das Gericht für das Hauptverfahren neuerlich bestellt (§ 126 Abs 3 zweiter Halbsatz StPO), als „Zeuge der Anklage“ im Sinn eines – nach dem gebotenen strengen Maßstab – von einer Verfahrenspartei nicht unabhängigen Sachverständigen zu sehen. Tritt aber der Sachverständige als „Zeuge der Anklage“, mithin als Belastungszeuge auf, hat das Gesetz – um der Garantie des Art 6 Abs 3 lit d zweiter Fall MRK zu entsprechen – dem Angeklagten das Recht einzuräumen, die Ladung und Vernehmung eines „Entlastungszeugen unter denselben Bedingungen“, also die Bestellung eines anderen Sachverständigen zu erwirken, der entweder nicht in einem vergleichbaren Naheverhältnis zur Anklagebehörde steht oder – gleichsam compensando – das Vertrauen der Verteidigung genießt (Grabenwarter in Korinek/Holoubek, Österreichisches Bundesverfassungsrecht, Art 6 EMRK Rz 99, 101 mwN; vgl EGMR 4. 4. 2013, Nr 30456/06, C. B. gg Österreich, mit welchem Urteil die gerichtliche Bestellung nach dem System der Strafprozessordnung in der Fassung vor dem StrafprozessreformG als konventionskonform beurteilt wurde [insbesondere Z 42, wo sich der ausdrückliche Hinweis findet, dass der Sachverständige nicht von der Staatsanwaltschaft bestellt wurde]). Dies ist nach derzeitiger Rechtslage nicht der Fall.