JudikaturJustizBsw26761/95

Bsw26761/95 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
12. November 2002

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer IV, Beschwerdesache Ploski gegen Polen, Urteil vom 12.11.2002, Bsw. 26761/95.

Spruch

Art. 8 EMRK - Recht eines Untersuchungshäftlings auf Teilnahme an den Beerdigungen seiner Eltern.

Verletzung von Art. 8 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: EUR 1.500,- für immateriellen Schaden; EUR 1.800,- für Kosten und Auslagen abzüglich EUR 630,-- geleisteter Verfahrenshilfe des Europarates (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Nachdem der Bf. am 22.2.1994 von der Polizei festgenommen worden war, wurde er zwei Tage später des Diebstahls angeklagt und die Untersuchungshaft über ihn verhängt. Am 2.7.1994 verstarb die Mutter des Bf. Dieser bat am folgenden Tag um Erlaubnis, an dem am 5.7.1994 stattfindenden Begräbnis teilnehmen zu dürfen. Dem Antrag war die Stellungnahme eines Gefängnisbeamten beigefügt, der das Gesuch unterstützte. Das BG Wroclaw verweigerte die Erlaubnis, dem Antrag stattzugeben, da es sich beim Bf. um einen Gewohnheitsstraftäter handle, dessen Rückkehr in die Haft nicht gewährleistet sei. Daraufhin wies der Richter der Strafanstalt den Antrag des Bf. ab. (Anm.: Nach Art. 59 (1) des poln. Strafvollzugsgesetzes kann der Richter der Strafanstalt einem Gefangenen das Verlassen des Gefangenenhauses für eine Dauer von maximal fünf Tagen gestatten. Gemäß Art. 88 (2) lex cit. darf eine solche Erlaubnis nur mit Zustimmung des Gerichts erteilt werden, dem die Entscheidung über die weitere Haft des Gefangenen obliegt.)

Am 3.8.1994 verstarb der Vater des Bf. Der Bf. beantragte eine Unterbrechung der Freiheitsstrafe, um an der Beerdigung teilnehmen zu können. Das Gericht verweigerte erneut die Zustimmung, da der Bf. aufgrund der ihm vorgeworfenen Straftaten eine erhebliche Gefahr für die Gesellschaft darstelle, er ein Gewohnheitsstraftäter sei und seine Rückkehr ins Gefängnis nicht gewährleistet sei. Der Richter der Strafanstalt wies daher den Antrag des Bf. ab.

Am 17.1.1995 ersuchte der Bf. den Präsidenten des LG Wroclaw um eine schriftliche Darlegung der Gründe, warum ihm eine Teilnahme an den Beerdigungen seiner Eltern verweigert worden war. Am 31.1.1995 wurde ihm mitgeteilt, dass seinen Ersuchen nicht stattgegeben wor­den sei, da die Gefahr seiner Flucht bestanden habe.

Am 26.5.1995 wurde der Bf. wegen Diebstahls zu einer Freiheitsstrafe verurteilt. Am 27.2.1996 wurde er aus der Strafanstalt entlassen.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. behauptet eine Verletzung von Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK:

Der Bf. bringt vor, die Verweigerung der Erlaubnis der Teilnahme an den Beerdigungen seiner Eltern habe gegen sein Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verstoßen. Er habe das bei anderen Gelegenheiten in ihn gesetzte Vertrauen nie missbraucht. Der von den Behörden ins Treffen geführten Fluchtgefahr hätte durch eine Begleitung durch Gefängnisbeamte entgegengewirkt werden können. Jeder Eingriff in das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens stellt einen Verstoß gegen Art. 8 EMRK dar, wenn er nicht auf einer gesetzlichen Grundlage beruht, ein legitimes Ziel iSv. Art. 8 (2) EMRK verfolgt und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist. Notwendig ist ein Eingriff dann, wenn er einem dringenden gesellschaftlichen Bedürfnis entspricht und verhältnismäßig zum verfolgten legitimen Ziel ist.

Es ist unbestritten, dass die Verweigerung der Erlaubnis zur Teilnahme des Bf. an den Beerdigungen seiner Eltern einen Eingriff in sein Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens darstellt. Der Eingriff beruhte auf einer gesetzlichen Grundlage und verfolgte ein legitimes Ziel, nämlich die Verteidigung der Ordnung und die Verhinderung von strafbaren Handlungen.

Der GH wird die strittigen Fragen nicht isoliert betrachten, sondern einen objektiven Standard anlegen und den Fall in seiner Gesamtheit beurteilen. Auch wenn sich schon aus der Natur der Situation eines Gefangenen verschiedene Einschränkungen seiner Rechte und Freiheiten ergeben, muss dennoch jede dieser Einschränkungen als notwendig in einer demokratischen Gesellschaft gerechtfertigt sein. Es ist die Pflicht des Staates, das tatsächliche Bestehen einer solchen Notwendigkeit, dh. eines dringenden gesellschaftlichen Bedürfnisses, nachzuweisen. Der Bf. verlor beide Elternteile innerhalb eines Monats. Seine beiden Anträge auf Erlaubnis, das Gefängnis verlassen zu dürfen, um den Beerdigungen beiwohnen zu können, wurden von Gefängnisbeamten unterstützt. Die zweite dieser Stellungnahmen betonte ausdrücklich, dass das Verhalten des Bf. ohne Tadel sei. Der GH ist der Ansicht, dass die Gründe der Behörden für die Abweisung der Anträge nicht überzeugend sind. Die Befürchtungen, der Bf. könnte die Gelegenheit zur Flucht nützen, hätten durch eine Begleitung auf seinen Freigängen ausgeschaltet werden können. Obwohl das innerstaatliche Recht die Möglichkeit begleiteter Freigänge vorsieht, haben die Behörden diese anscheinend nicht einmal in Erwägung gezogen.

Der GH stellt fest, dass die gegen den Bf. erhobenen Anklagen keine Gewaltstraftaten betrafen und er bereits im Februar 1996 aus der Haft entlassen wurde. Der GH ist sich der finanziellen und organisatorischen Probleme bewusst, die ein begleiteter Freigang in Anbetracht der Verringerung des Personalstandes bei Polizei und Gefängnisbeamten mit sich bringt. Dennoch ist der GH der Ansicht, dass der verantwortliche Staat in Anbetracht der Bedeutung dessen, was auf dem Spiel stand, nämlich einer Person die Teilnahme an den Beerdigungen ihrer Eltern zu verweigern, diese Teilnahme nur dann verweigern hätte dürfen, wenn zwingende Gründe vorgelegen wären und wenn keine alternative Lösung – wie begleitete Freigänge – gefunden hätte werden können.

Art. 8 EMRK gewährleistet gefangenen Personen kein bedingungsloses Recht auf Freigänge, um an Beerdigungen von Familienmitgliedern teilnehmen zu können. Es obliegt den innerstaatlichen Behörden, jedes einzelne Gesuch zu beurteilen.

Der GH kommt zu dem Schluss, dass unter den Umständen des vorliegenden Falles und ungeachtet des Ermessenspielraumes des Staates, die Verweigerung der Erlaubnis der Teilnahme des Bf. an den Beerdigungen seiner Eltern nicht notwendig in einer demokratischen Gesellschaft war, da sie keinem dringenden gesellschaftlichen Bedürfnis entsprach und nicht verhältnismäßig zum angestrebten legitimen Ziel war. Verletzung von Art. 8 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK:

EUR 1.500,-- für immateriellen Schaden; EUR 1.800,-- für Kosten und Auslagen abzüglich EUR 630,-- geleisteter Verfahrenshilfe des Europarates (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Marincola Sestito/I v. 25.11.1999.

Georgiou/GR v. 13.1.2000.

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 12.11.2002, Bsw. 26761/95, entstammt der Zeitschrift „ÖIMR-Newsletter" (NL 2002, 260) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/02_6/Ploski.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.