JudikaturJustizBsw25720/05

Bsw25720/05 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
13. Juli 2010

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer III, Beschwerdesache Tendam gegen Spanien, Urteil vom 13.7.2010, Bsw. 25720/05.

Spruch

Art. 6 Abs. 2 EMRK, Art. 1 1. Prot. EMRK - Kein Zuspruch einer Haftentschädigung trotz Freispruchs.

Zulässigkeit der Beschwerde unter Art. 6 Abs. 2 EMRK und Art. 1 1. Prot. EMRK (einstimmig).

Unzulässigkeit der übrigen Beschwerdepunkte (einstimmig).

Verletzung von Art. 6 Abs. 2 EMRK (einstimmig).

Verletzung von Art. 1 1. Prot. EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: Die Frage einer gerechten Entschädigung bezüglich materiellen Schadens ist noch nicht entscheidungsreif. € 15.600,– für immateriellen Schaden (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Der Bf. ist deutscher Staatsbürger und betreibt eine Bienenzucht in Teneriffa. Am 25.3.1986 wurde er im Zuge von gegen ihn geführten strafrechtlichen Ermittlungen wegen des Verdachts des Diebstahls von Bienenstöcken festgenommen und über ihn die Untersuchungshaft verhängt. Am 6.8.1986 wurde er gegen Kaution aus der Haft entlassen. Das Strafgericht Santa Cruz sprach ihn mit Urteil vom 12.4.1993 schuldig und verurteilte ihn zu einer mehrjährigen Haftstrafe sowie zur Leistung von Schadenersatz. Die Audiencia Provincial hob das Urteil hingegen auf und sprach den Bf. mangels Beweisen frei.

Im März 1986 wurde gegen den Bf. auch eine strafrechtliche Untersuchung wegen des Verdachts der Hehlerei eingeleitet. Während er sich in Untersuchungshaft befand, wurde im Zuge einer Hausdurchsuchung beinahe seine gesamte EDV beschlagnahmt. Teile davon wurden ihren mutmaßlichen Besitzern vorläufig ausgehändigt. Mit Urteil des Strafgerichts Santa Cruz vom 29.10.1993 wurde der Bf. freigesprochen, nachdem der Staatsanwalt die Anklage zurückgezogen hatte.

Am 19.11.1993 beantragte der Bf. die Rückgabe der beschlagnahmten Gegenstände. Er erhielt jedoch nur einen Teil zurück, der sich noch dazu in schlechtem Zustand befand, was vom zuständigen Kanzleibeamten bestätigt wurde. Einige Monate später suchte der Bf. neuerlich das Gericht auf, um einen weiteren Teil der beschlagnahmten Gegenstände abzuholen. Er musste jedoch feststellen, dass die ihm ausgehändigten Gegenstände nicht die seinen waren. Dem Untersuchungsrichter zufolge wären Ersuchen an Dritte um Rückgabe von bereits ausgehändigter EDV ergebnislos verlaufen.

Am 19.8.1994 erhob der Bf. Beschwerde beim Justizminister gemäß den einschlägigen Regelungen des Gesetzes betreffend die Justizverwaltung. Er begehrte Entschädigung sowohl für 135 Tage verbüßte Untersuchungshaft im ersten Strafverfahren als auch wegen schlechten Funktionierens der Justizverwaltung angesichts der Nichtrückgabe bzw. des Wertverlusts von im zweiten Strafverfahren beschlagnahmten Objekten.

Der Justizminister wies die Beschwerde am 17.11.1995 zurück. Was die beantragte Haftentschädigung anlange, sei der Bf. in zweiter Instanz lediglich aus Mangel an Beweisen freigesprochen worden. Laut der Audiencia Provincial habe die Nichtbeteiligung des Bf. an den deliktischen Vorfällen nicht ausreichend nachgewiesen werden können. Die Voraussetzungen von Art. 294 Gesetz betreffend die Justizverwaltung, wonach eine in Untersuchungshaft befindliche Person, in Bezug auf welche ein Freispruch aufgrund der Nichtexistenz der ihr vorgeworfenen Tatsachen oder wegen rechtskräftiger Einstellung des Strafverfahrens erfolgte, Anspruch auf eine Haftentschädigung habe, seien daher nicht gegeben. Zur beantragten Entschädigung wegen schlechten Funktionierens der Justiz sei zu sagen, dass der Bf. keine ausreichenden Beweise für das Verschwinden bzw. die Beschädigung von Gegenständen, deren Eigentümer er zu sein behaupte, geliefert habe. Die dagegen erhobenen Rechtsmittel blieben alle erfolglos.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. rügt Verletzungen von Art. 6 Abs. 1 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren), Art. 6 Abs. 2 EMRK (Unschuldsvermutung), Art. 1 1. Prot. EMRK (Recht auf Achtung des Eigentums) und von Art. 3 7. Prot. EMRK (Recht auf Entschädigung bei Fehlurteilen).

I. Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 2 EMRK

Der Bf. beanstandet die Weigerung der spanischen Gerichte, ihm eine Haftentschädigung zuzusprechen. Er rügt Verletzungen von Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 EMRK sowie von Art. 3 7. Prot. EMRK.

Der GH hält es für angemessen, diesen Beschwerdepunkt lediglich unter Art. 6 Abs. 2 EMRK zu prüfen. Spanien hat das 7. Prot. EMRK noch nicht ratifiziert, außerdem ist die vorliegende Situation nicht mit dem dieser Konventionsbestimmung zugrunde liegenden Tatbestand vergleichbar, gilt dieser doch ausschließlich für Personen, die eine Haftstrafe als Folge einer irrtümlich erfolgten gerichtlichen Verurteilung verbüßt haben.

1. Zur Zulässigkeit

Dieser Beschwerdepunkt ist weder offensichtlich unbegründet iSv. Art. 35 Abs. 3 EMRK noch aus einem anderen Grund unzulässig. Er ist daher für zulässig zu erklären (einstimmig).

2. In der Sache

Zwar sehen weder Art. 6 Abs. 2 EMRK noch eine andere Konventionsbestimmung einen Anspruch auf Wiedergutmachung für verbüßte – rechtmäßige – Untersuchungshaft im Falle eines Freispruchs vor, jedoch sind Äußerungen des Zweifels über die Unschuld eines Angeklagten nach einem rechtskräftig erfolgten Freispruch jedenfalls nicht mehr akzeptabel. Dies gilt auch für rechtskräftige Freisprüche, die »im Zweifel« erfolgt sind.

Der Grundsatz in dubio pro reo stellt einen besonderen Ausdruck der Unschuldsvermutung dar. Demnach darf kein qualitativer Unterschied zwischen einem Freispruch mangels Beweisen und einem Freispruch, der aufgrund der über jeden Zweifel erhabenen Unschuld einer Person erfolgt, bestehen. Im Rahmen des Art. 6 Abs. 2 EMRK ist ein freisprechendes Urteil von jeder Behörde zu beachten, die sich in direkter oder indirekter Weise auf die strafrechtliche Verantwortung der betreffenden Person bezieht. Im Übrigen liegt bereits eine Verletzung der Unschuldsvermutung vor, wenn von einer Person verlangt wird, den Beweis für ihre Unschuld im Rahmen eines Haftentschädigungsverfahrens zu führen.

Die gegenständliche Sache unterscheidet sich von dem von der Regierung zitierten Fall Puig Panella/E, in dem der Bf. um Entschädigung für bereits verbüßte Strafhaft angesucht hatte, nachdem das Verfassungsgericht die der Verurteilung zugrunde liegenden Entscheidungen annulliert hatte. Im vorliegenden Fall wurde der Bf. nämlich in zweiter Instanz freigesprochen und verbüßte niemals eine Gefängnisstrafe. Ungeachtet dieser Unterschiede wird der GH prüfen, ob der Justizminister bzw. die nationalen Gerichte ein Verhalten (insbesondere im Wege der Begründung ihrer Entscheidungen oder durch die getroffene Wortwahl) gesetzt haben, wodurch Zweifel an der Unschuld des Bf. geäußert wurden.

In seiner Entscheidung vom 17.11.1995 stützte sich der Justizminister auf die Tatsache, dass der Bf. in zweiter Instanz aus Mangel an Beweisen – und nicht wegen objektiver bzw. subjektiver Nichtexistenz strafbarer Tatsachen – freigesprochen worden war. Er wies den Entschädigungsantrag ab, weil dem freisprechenden Urteil zufolge die Nichtbeteiligung des Bf. an den deliktischen Vorfällen nicht ausreichend nachgewiesen habe werden können. Eine derartige undifferenzierte und mit Vorbehalt geübte Begründung (mag sie sich auch auf Art. 294 des Gesetzes betreffend die Justizverwaltung stützen) ließ daher Zweifel an der Unschuld des Bf. aufkommen. Diese Schlussfolgerung, die eine Unterscheidung zwischen einem freisprechenden Urteil mangels Beweisen und einem solchen wegen Nichtexistenz strafbarer Tatsachen machte, verkannte den zuvor erfolgten Freispruch des Bf., der von allen Justizbehörden unbeschadet der vom Strafgericht dafür herangezogenen Motive zu respektieren gewesen wäre.

Die Argumentation des Justizministers wurde von den Gerichten einfach übernommen, ohne dass sie sich mit dem Problem, das sich ihnen letztlich mit der ständigen Rechtsprechung betreffend die Interpretation von Art. 294 des Gesetzes betreffend die Justizverwaltung stellte, auseinandergesetzt und versucht hätten, Abhilfe dafür zu schaffen. Diese Elemente genügen, um zu einer Verletzung von Art. 6 Abs. 2 EMRK zu gelangen (einstimmig).

II. Zur behaupteten Verletzung von Art. 1 1. Prot. EMRK

Der Bf. beklagt sich über das Verschwinden bzw. die Beschädigung seines im Zuge des Strafverfahrens wegen Hehlerei beschlagnahmten Hab und Guts.

1. Zur Zulässigkeit

Dieser Beschwerdepunkt ist weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen Grund unzulässig. Er ist daher für zulässig zu erklären (einstimmig).

2. In der Sache

Bei der Prüfung der Zurückbehaltung der von den Behörden im Rahmen des Strafverfahrens beschlagnahmten Gegenstände ist zu beachten, dass der Staat ein Recht hat, diejenigen Gesetze anzuwenden, die er für die Regelung der Benutzung des Eigentums im Einklang mit dem Allgemeininteresse iSv. Art. 1 Abs. 2 1. Prot. EMRK für erforderlich hält.

Der GH weist darauf hin, dass die Beschlagnahme und Zurückbehaltung von Gegenständen, die von einer Straftat herrühren, im Interesse einer ordnungsgemäßen Justizverwaltung (die ein legitimes Ziel im Rahmen des Allgemeininteresses der Gemeinschaft darstellt) notwendig sein kann. Im vorliegenden Fall hatte die Beschlagnahme nicht den Zweck, dem Bf. seine Habe wegzunehmen, sondern ihn nur zeitweise an ihrem Gebrauch zu hindern, solange das Strafverfahren noch anhängig war. Aus den Akten geht nicht hervor, dass die Beschlagnahme und Zurückbehaltung der Gegenstände keine Rechtsgrundlage gehabt hätten. Vielmehr lag dem Eingriff das Ziel zugrunde, möglichen Anträgen von Zivilparteien auf Ausfolgung von in ihrem Eigentum stehenden Gegenständen entsprechen zu können. Nichtsdestotrotz darf zwischen den verwendeten Mitteln und dem verfolgten Ziel kein Missverhältnis bestehen.

Der GH hat bereits im Fall Raimondo/I hervorgehoben, dass jede Beschlagnahme einen Schaden nach sich zieht, der die Grenzen des Unvermeidlichen nicht übersteigen darf. Im Fall Jucys/LT hat er anerkannt, dass ein vom Vorwurf des Schmuggels freigesprochener Eigentümer im Prinzip einen Anspruch auf Ausfolgung der beschlagnahmten Gegenstände haben sollte.

Es trifft zwar zu, dass Art. 1 1. Prot. EMRK kein Recht einer freigesprochenen Person garantiert, für jegliche Schäden Ersatz zu bekommen, die von einer im Zuge einer strafrechtlichen Untersuchung erfolgten Beschlagnahme von Gegenständen ihres Hab und Guts herrühren. In jedem Fall haben aber Gerichte bzw. Strafverfolgungsbehörden angemessene Maßnahmen zu treffen, damit beschlagnahmte Gegenstände in gutem Zustand erhalten bleiben. Dies kann insbesondere im Wege der Anlegung eines Inventars erfolgen, in dem alle Objekte sowie ihr Zustand zum Zeitpunkt der Beschlagnahme und zu jenem der Rückgabe an den freigesprochenen Eigentümer verzeichnet werden.

Ferner muss das nationale Recht die Möglichkeit vorsehen, in effektiver Weise gerichtlich gegen den Staat vorgehen zu können, um Schadenersatz für allfällige Nachteile zu erlangen, die sich aus der nicht fachgerechten Aufbewahrung von beschlagnahmten Gegenständen ergeben.

Im vorliegenden Fall musste der Bf. im Rahmen der Rückgabe der beschlagnahmten Gegenstände erkennen, dass einige von ihnen fehlten bzw. die vorhandenen sich alle in schlechtem Zustand befanden, was auch von der Kanzlei des Untersuchungsrichters bestätigt wurde. Im Übrigen geht aus den Akten hervor, dass dessen Versuch, Dritte zur Rückgabe von im Jahr 1986 ausgefolgten Gegenständen zu bewegen, ergebnislos verlaufen war. Ungeachtet dessen wiesen die nationalen Gerichte die Beschwerde des Bf. mit dem Hinweis ab, ihm wäre der Nachweis für das Verschwinden bzw. die Beschädigung seiner elektronischen Geräte nicht gelungen.

Unter diesen Umständen ist der GH der Ansicht, dass betreffend die verschwundenen bzw. beschädigten Gegenstände die Justiz die Beweislast hätte tragen müssen, war sie doch für die Aufbewahrung der Gegenstände ab dem Zeitpunkt der Beschlagnahme verantwortlich – und nicht der Bf., der mehr als sieben Jahre danach freigesprochen wurde. Die Justiz hat keinerlei Rechtfertigung für das Verschwinden bzw. die Beschädigung der elektronischen Geräte vorgebracht, sodass die dem Bf. daraus entstandenen Nachteile ihr zuzurechnen sind.

Der GH hält darüber hinaus fest, dass die nationalen Instanzen, welche die Beschwerde des Bf. prüften, weder die Verantwortung der Justiz für die relevanten Ereignisse in Erwägung zogen, noch es dem Bf. gestatteten, Wiedergutmachung für durch die unsachgemäße Aufbewahrung der beschlagnahmten Geräte entstandenen Nachteile zu erlangen. Infolge der Verweigerung von Schadenersatz entstand dem Bf. ein unverhältnismäßiger und übermäßiger Nachteil, was eine Verletzung von Art. 1 1. Prot. EMRK begründet (einstimmig).

III. Zur behaupteten Verletzung von anderen Bestimmungen der EMRK

Der Bf. behauptet eine Verletzung der Art. 3 und Art. 5 EMRK, da er wegen eines geringfügigen Delikts in Untersuchungshaft gehalten wurde, obwohl er sich ohnehin in Spanien aufhielt und mit einer Spanierin verheiratet war, die zu diesem Zeitpunkt noch dazu schwanger war. Er wirft den spanischen Behörden vor, ihn wie einen gewöhnlichen Delinquenten und Rückfallstäter behandelt zu haben.

Unter Art. 8 EMRK beklagt er sich über mehrfache Verletzungen seines Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens, der Wohnung sowie des Briefverkehrs.

Der GH vermag keinen Anschein einer Konventionsverletzung zu erkennen. Diese Beschwerdepunkte sind offensichtlich unbegründet und gemäß Art. 35 Abs. 3 und Abs. 4 EMRK zurückzuweisen (einstimmig).

IV. Entschädigung nach Art. 41 EMRK

Die Frage einer gerechten Entschädigung bezüglich materiellen Schadens ist noch nicht entscheidungsreif. € 15.600,– für immateriellen Schaden (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Raimondo/I v. 22.2.1994, NL 1994, 78; ÖJZ 1994, 562.

Rushiti/A v. 21.3.2000, NL 2000, 55; ÖJZ 2001, 155.

Lamanna/A v. 10.7.2001, NL 2001, 147; ÖJZ 2001, 910.

Del Latte/NL v. 9.11.2004.

Puig Panella/E v. 25.4.2006.

Jucys/LT v. 8.1.2008.

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 13.7.2010, Bsw. 25720/05, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2010, 227) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im französischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/10_04/Tendam.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rechtssätze
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