JudikaturJustizBsw23621/11

Bsw23621/11 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
16. März 2017

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer V, Beschwerdesache Fröbrich gg. Deutschland, Urteil vom 16.3.2017, Bsw. 23621/11.

Spruch

Art. 6 Abs. 1 EMRK - Absehen von mündlicher Verhandlung iZm. der Entziehung einer Entschädigung nach dem StrRehaG.

Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).

Keine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Am 13.6.1958 wurde der Bf. in der DDR wegen eines verbrecherischen Angriffs gegen die örtlichen Organe der Staatsmacht verurteilt und war daraufhin 14 Monate inhaftiert. Diese Verurteilung wurde 1994 vom Landgericht Frankfurt aufgehoben, da sie nicht im Einklang mit den Grundsätzen der Rechtsstaatlichkeit stand, woraufhin der Bf. nach § 1 Abs. 1 des Gesetzes über die Rehabilitierung und Entschädigung von Opfern rechtsstaatswidriger Strafverfolgungsmaßnahmen im Beitrittsgebiet (im Folgenden: »StrRehaG«) rehabilitiert wurde [...].

1994 stellte der Bf. einen Antrag auf Entschädigung. Am 13.2.1995 wurde ihm vom Präsidenten des Landgerichts Frankfurt eine Entschädigung in Höhe von € 4.218,– gewährt. Nachdem er dies beantragt hatte, wurde ihm ab November 2007 auch eine monatliche besondere Zuwendung für Haftopfer in Höhe von € 250,– zuerkannt. Am 25.2.2008 informierte der Bundesbeauftragte den Präsidenten des Landgerichts, dass der Bf. vom 22.9.1953 bis zum 25.11.1954 ein geheimer Informant der Stasi gewesen war. Diese Information basierte auf mehreren Dokumenten, einschließlich handgeschriebener Berichte des Bf. sowie einer Erklärung, der Stasi als geheimer Informant zu dienen.

Daraufhin zog der Präsident des Landgerichts am 18.2.2009 die Entscheidung hinsichtlich der Gewährung der Entschädigung sowie der besonderen Zuwendung zurück und verlangte die Rückerstattung aller bereits erhaltenen Beträge. Der Bf. beantragte eine gerichtliche Überprüfung dieser Entscheidung und ersuchte dabei darum, persönlich gehört zu werden. Er behauptete, dass die Informationen in den Dokumenten unvollständig und falsch wären. Darüber hinaus sei er sich im Rahmen seiner Tätigkeit als Polizist nicht bewusst gewesen, der Stasi gedient zu haben und habe keine Erinnerung daran, gegenüber der Stasi eine entsprechende schriftliche Erklärung abgegeben zu haben.

Das Landgericht wies den Antrag des Bf. auf gerichtliche Überprüfung ab. Darüber hinaus erläuterte das Gericht, dass es nicht erforderlich wäre, den Bf. persönlich anzuhören. Seine damalige Persönlichkeit und die Umstände seiner Anstellung wären nur von Relevanz gewesen, sofern es Anzeichen dafür gegeben hätte, dass der Bf. unter unerträglichem Druck gehandelt hatte, was jedoch nicht der Fall war.

Am 24.8.2010 wies das OLG Brandenburg die Berufung des Bf. ab, wobei es die Begründung des Landgerichts bestätigte. Das BVerfG lehnte es am 28.10.2010 ab, die Verfassungsbeschwerde des Bf. zu prüfen, ohne nähere Gründe hierfür anzugeben (2 BvR 2329/10).

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. behauptete eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren) dadurch, dass vor der Entscheidung über die Aufhebung seiner Entschädi-gung und seiner besonderen monatlichen Zuwendung keine mündliche Verhandlung abgehalten wurde.

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK

Zulässigkeit

(28) Der Gerichtshof stellt fest, dass diese Beschwerde nicht offensichtlich unbegründet iSd. Art. 35 Abs. 3 lit. a EMRK ist. Er stellt zudem fest, dass sie auch nicht wegen sonstiger Gründe unzulässig ist. Sie ist daher für zulässig zu erklären (einstimmig).

In der Sache

(33) Zu Beginn stellt der GH fest, dass der vorliegende Fall keine strafrechtlichen Anklagen gegen den Bf. umfasst. Die angefochtene Entscheidung bezüglich des Widerrufs der zuvor gewährten Entschädigung betrifft nicht die strafrechtliche Rehabilitation des Bf. als solche. Der GH hat bereits entschieden, dass wenn eine Person einem Eingriff in ihren Lebensunterhalt ausgesetzt ist und ein individuelles, wirtschaftliches Recht geltend macht, welches als konkrete gesetzliche Vorschrift festgelegt ist, dieses Recht als »zivil« iSd. Art. 6 Abs. 1 EMRK anzusehen ist. Dies gilt ebenfalls für individuelle Schadenersatzansprüche aufgrund unter einem früheren Regime erlittenen Unrechts. Das Ziel des Antrags des Bf. auf gerichtliche Überprüfung war, weiterhin Entschädigung für seine strafrechtliche Verfolgung unter der früheren Herrschaft der DDR zu er- und die bereits erhaltenen Geldsummen zu behalten. […] Insbesondere im Hinblick auf die Anspruchsvoraussetzung der finanziellen Schwierigkeiten eines Anspruchsberechtigten ist der GH überzeugt, dass das vorliegend behauptete Recht einen zivilrechtlichen Charakter iSd. Art. 6 Abs. 1 EMRK aufweist.

(34) Der GH wiederholt, dass in Verfahren vor einem Gericht, das in erster und einziger Instanz entscheidet, das Recht auf eine »öffentliche Verhandlung« iSd. Art. 6 Abs. 1 EMRK das Recht auf eine »mündliche Verhandlung« beinhaltet, sofern nicht außergewöhnliche Umstände vorliegen, die den Verzicht auf eine solche Verhandlung rechtfertigen. […] In Verfahren vor zwei Instanzen muss grundsätzlich zumindest eine Instanz eine mündliche Verhandlung abhalten, sollten keine derartigen außergewöhnlichen Umstände gegeben sein.

(35) […] Der GH hat außergewöhnliche Umstände in Fällen akzeptiert, die ausschließlich rechtliche oder hochtechnische Fragen betreffen. Es kann Verfahren geben, in denen eine mündliche Verhandlung nicht erforderlich ist […], etwa wenn die Gerichte den Fall auf Grundlage der Vorbringen der Parteien sowie anderer schriftlicher Materialien gerecht und angemessen entscheiden können.

(36) Somit ist zu prüfen, ob außergewöhnliche Umstände vorliegen, welche es im vorliegenden Fall rechtfertigen würden, auf eine mündliche Verhandlung zu verzichten. Dies wäre nicht der Fall, wenn sich Fragen betreffend die Glaubwürdigkeit oder strittige Tatsachen stellten, welche entscheidend für das Ergebnis des Verfahrens sind.

(37) Der GH beachtet, dass das Landgericht in seiner Entscheidung vom 16.2.2010 festgestellt hat, dass der Bf. wissentlich Berichte an die Stasi erstattet hat und dass sieben dieser Berichte geeignet waren, die gemeldeten Personen dem Risiko einer Verfolgung durch die Stasi auszusetzen. Dieses Gericht befand die Behauptung des Bf., dass er geglaubt habe, lediglich der gewöhnlichen Polizei Bericht zu erstatten, für nicht glaubhaft, da die früheren Akten der Behörden der DDR über den Bf. eine handgeschriebene Erklärung enthielten, in der er sich verpflichtet hatte, der Stasi als geheimer Informant zu dienen. Da es den Sachverhalt als ausreichend erwiesen betrachtete, sah das Gericht keinen Anlass, in diesem Fall weiter zu ermitteln oder Zeugen aufzurufen. Es betrachtete die persönliche Anhörung des Bf. nicht als erforderlich, weil dieser keine Umstände angegeben hatte, die darauf schließen ließen, dass er sich der Stasi unter unerträglichem Druck verpflichtet hat. […]

(38) Das Landgericht, dessen Argumentation vom Berufungsgericht bestätigt wurde, betrachtete alle anderen vom Bf. vorgelegten Tatsacheninformationen als für die Entscheidung irrelevant. Der GH stellt fest, dass gemäß der Rechtsprechung einiger nationaler Gerichte – einschließlich des BVerwG – zu § 16 Abs. 2 StrRehaG das Leid des Bf. nicht gegen die Risiken, denen er andere Personen ausgesetzt hatte, aufzuwiegen war. Daher hatten die Einzelheiten der Freiheitsentziehung des Bf. keinen Einfluss auf die Entscheidung. Gleichermaßen stellten weder die persönlichen Umstände des Bf. zur betreffenden Zeit noch die Frage ob Personen, über welche er Bericht erstattet hatte, tatsächlich Nachteile erlitten haben, relevante Aspekte für die Anwendung der genannten Vorschrift dar. Selbst wenn die nationalen Gerichte die Tatsachenbehauptungen des Bf. als wahr anerkannt hätten, hätten sie daraus keine anderen Schlüsse gezogen.

(39) Der GH stellt ferner fest, dass der Bf. seine Behauptung, dass er glaubte, nicht der Stasi, sondern vielmehr der gewöhnlichen Polizei Bericht zu erstatten, welche das Landgericht aufgrund dokumentierter Beweise für unglaubwürdig hielt, weder in seiner Berufung gegen die Entscheidung des Landgerichts, noch in seiner Verfassungsbeschwerde wiederholte. Ebenso wenig stützte er sich im Rahmen seiner Beschwerdeführung vor dem GH auf dieses Argument.

(40) Somit hat der Bf. keine Fragen der Glaubwürdigkeit oder betreffend strittige Tatsachen aufgeworfen, die für das Ergebnis des Verfahrens entscheidend waren. Die nationalen Gerichte waren in der Lage, den vorliegenden Fall gerecht und angemessen auf Grundlage der Vorbringen der Parteien und anderer schriftlicher Materialien zu entscheiden.

(41) Die vorstehenden Erwägungen sind ausreichend für den GH, um zu dem Schluss zu gelangen, dass außergewöhnliche Umstände iSd. Rechtsprechung vorlagen, die den Verzicht auf eine mündliche Verhandlung rechtfertigten.

(42) Es erfolgte daher keine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Salesi/I v. 26.2.1993 = ÖJZ 1993, 669

Döry/S v. 12.11.2002

Pursiheimo/FIN v. 25.11.2003 (ZE)

Jussila/FIN v. 23.11.2006 (GK) = NL 2006, 303

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 16.3.2017, Bsw. 23621/11, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2017, 140) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/17_2/Fröbrich.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.