JudikaturJustizBsw19844/08

Bsw19844/08 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
11. Juni 2015

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer I, Beschwerdesache Becker gg. Österreich, Urteil vom 11.6.2015, Bsw. 19844/08.

Spruch

Art. 6 Abs. 1 EMRK - Keine mündliche Verhandlung vor VwGH nach Führerscheinentzug.

Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig).

Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: Die Feststellung der Verletzung stellt für sich eine ausreichende Entschädigung für den vom Bf. erlittenen immateriellen Schaden dar. € 1.634,76 für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Am Abend des 3.10.2000 wurde der Bf. mit seinem Fahrzeug von der Polizei angehalten und einem Alkoholtest unterzogen. Nach neun Messversuchen, von denen lediglich einer gültig war, wurde der Test beendet. Das Verhalten des Bf. wurde als Verweigerung des Alkoholtests betrachtet. Ihm wurde daher vorübergehend der Führerschein abgenommen.

Am 15.12.2000 erließ die Bezirkshauptmannschaft (BH) Melk einen Bescheid, mit dem sie dem Bf. den Führerschein als Präventivmaßnahme zur Gewährleistung der Straßenverkehrssicherheit für vier Monate entzog. Sie hielt fest, dass nach der Rechtsprechung des VwGH eine Verweigerung des Alkoholtests vorläge, wenn von den fünf von der getesteten Person vorgenommenen Versuchen vier ungültig waren. Als der Bf. behauptete, das Testgerät sei defekt, hätte Polizist R. zudem selbst zweimal mit demselben Mundstück wie der Bf. getestet und wären dabei beide Versuche gültig gewesen.

Der Bf. erhob Berufung und verlangte ein technisches Gutachten zur Funktionstüchtigkeit des Testgeräts. Am 19.12.2005 wies der Landeshauptmann von Niederösterreich (»der LH«) die Berufung des Bf. ab. Er befand insbesondere, dass es keine Anzeichen dafür gebe, dass das Testgerät nicht ordnungsgemäß funktionierte oder von den Polizisten nicht korrekt verwendet worden wäre.

Am 8.2.2006 erhob der Bf. eine Beschwerde an den VwGH und beantragte eine mündliche Verhandlung. Er rügte insbesondere die Beweiswürdigung durch den LH, da die Aussagen der beteiligten Polizisten widersprüchlich wären und sie einer genaueren Befragung unterzogen werden müssten.

Der VwGH wies die Beschwerde am 27.9.2007 ab. Er befand, dass der Bf. es verabsäumt hätte, wesentliche Argumente gegen die Schlussfolgerung der Behörden vorzubringen, der Bf. habe den Alkoholtest verweigert. Der Bf. hätte nicht gezeigt, dass die Beweiswürdigung durch die Behörden widersprüchlich oder unplausibel war. Im Einklang mit § 39 Abs. 2 VwGG wies der VwGH den Antrag des Bf. auf Abhaltung einer Verhandlung ab, da seiner Ansicht nach die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten ließ.

Am 20.4.2001 erließ die BH ein Straferkenntnis und verhängte eine Geldstrafe gegen den Bf. Der UVS Niederösterreich entschied am 30.9.2005, dass das Erkenntnis ipso iure außer Kraft getreten sei, da binnen der vorgeschriebenen 15-monatigen Frist ab Erhebung der Berufung des Bf. keine Entscheidung erfolgte.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. rügt insbesondere eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren), da im Verfahren über die Entziehung seiner Lenkberechtigung keine mündliche Verhandlung erfolgt sei.

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK im Hinblick auf das Fehlen einer öffentlichen und mündlichen Verhandlung

Zur Zulässigkeit

(21) Die Regierung argumentierte, dass die Beschwerde ratione materiae unvereinbar mit den Bestimmungen der Konvention sei, da deren Art. 6 auf die Verfahren über den Entzug der Lenkberechtigung des Bf. nicht anwendbar sei. Diese Verfahren würden nämlich weder über die zivilrechtlichen Ansprüche des Bf. noch über eine strafrechtliche Anklage gegen ihn entscheiden.

(25) Der GH [...] wird [...] zuerst prüfen, ob die Verfahren [...] »strafrechtlich« iSd. autonomen Bedeutung dieses Artikels waren. Dazu wird er drei Kriterien berücksichtigen: [...] die rechtliche Einordnung der Straftat nach nationalem Recht, [...] die Natur der Straftat und [...] die Schwere der der betroffenen Person drohenden Strafe. Das zweite und dritte Kriterium sind alternativ und nicht notwendigerweise kumulativ. Das schließt jedoch einen kumulativen Ansatz nicht aus, wenn die separate Analyse jedes einzelnen Kriteriums es nicht möglich macht, zu einer klaren Schlussfolgerung im Hinblick auf das Vorliegen einer strafrechtlichen Anklage zu gelangen.

(26) Was die rechtliche Einordnung der Maßnahme im nationalen Recht angeht, bemerkt der GH, dass nach dem österreichischen Recht die Entziehung der Lenkberechtigung gemäß § 24 Führerscheingesetz (FSG), wenn eine Person nicht länger die für die Erteilung der Lenkberechtigung nötige Qualifikation besitzt, nicht im Strafrecht oder Verwaltungsstrafrecht vorgesehen ist, sondern eine Maßnahme nach gewöhnlichem Verwaltungsrecht darstellt. Die Qualifikation im nationalen Recht ist aber nicht entscheidend für die Zwecke der Konvention, berücksichtigt man die autonome und materielle Bedeutung des Begriffs »strafrechtliche Anklage«.

(27) Was das zweite Kriterium betrifft, die Natur der fraglichen Maßnahme, [...] wurde die Lenkberechtigung des Bf. sofort von den Polizisten beschlagnahmt und entzogen, die sein Fahrzeug und ihn selbst als dessen Fahrer kontrolliert und befunden hatten, dass eine unmittelbare Gefahr für die Fahrtauglichkeit des Bf. bestand. Diese Maßnahme wurde von der BH Melk für einen Zeitraum von vier Monaten bestätigt und sofort vollstreckt. Zudem [...] ordnete die Behörde an, dass sich der Bf. vor Rückerhalt der Lenkberechtigung einer Schulung unterziehen müsse. Der GH befindet daher, dass die gegenständliche Maßnahme keinen primär strafenden Charakter hatte, sondern mehr eine präventive Maßnahme für die Sicherheit der Straßenbenützer darstellte.

(28) Im Hinblick auf das dritte Element, die Schwere der Strafe, stellten weder die Entziehung der Lenkberechtigung für die betreffende Zeit noch die Verhängung zusätzlicher Maßnahmen wie eines [so genannten] »Driver Improvement« eine auf das Verhalten des Bf. zurückzuführende strafrechtliche Sanktion dar. Die einschlägigen Bestimmungen des FSG verlangen keine Feststellung einer Schuld und ihre Anwendung erfolgt völlig unabhängig von strafrechtlichen Verfahren, die in Bezug auf einen gemachten Alkoholtest oder die Verweigerung eines solchen angestrengt werden können. Im vorliegenden Fall wurde der Bf. nicht dafür verurteilt, einen Alkoholtest verweigert zu haben. Schließlich war die Zeit, für die die Lenkberechtigung des Bf. entzogen wurde, nämlich eine Periode von vier Monaten, nicht so bedeutend, dass sie für gewöhnlich als strafrechtliche Sanktion angesehen würde.

(29) Der GH befindet daher, dass Art. 6 Abs. 1 EMRK unter seinem strafrechtlichen Aspekt auf die gegenständlichen Verfahren nicht anwendbar ist. Er muss daher als nächstes untersuchen, ob Art. 6 Abs. 1 EMRK unter seinem zivilrechtlichen Aspekt zur Anwendung kommt.

(30) In dieser Hinsicht wiederholt er, dass für die Anwendbarkeit von Art. 6 Abs. 1 EMRK in seinem zivilrechtlichen Aspekt eine Streitigkeit [...] über ein »civil right« vorliegen muss, von dem zumindest vertretbarerweise behauptet werden kann, dass es unter dem nationalen Recht anerkannt ist – egal, ob es auch von der Konvention geschützt wird. [...] Die Art der Gesetzgebung, welche regelt, wie die Sache zu entscheiden ist (Zivil-, Handels-, Verwaltungsrecht usw.), und das Wesen der Behörde, die in der Sache mit Jurisdiktiongewalt ausgestattet ist (ordentliches Gericht, Verwaltungsorgan usw.) sind [...] kaum von Bedeutung.

(31) Was das Vorliegen eines im nationalen Recht anerkannten Rechts betrifft, [...] offenbart die einschlägige österreichische Gesetzgebung, dass die zuständige Behörde bei der Erteilung der Lenkberechtigung über kein besonders breites Ermessen verfügt, sondern dass jemand berechtigt ist, eine Lenkberechtigung zu erhalten, wenn er oder sie die in § 3 FSG dargelegten Kriterien erfüllt. Während die BH Melk erwog, dass der Bf. diese Kriterien nicht länger erfüllte und dass seine Lenkberechtigung daher zu entziehen sei, widersprach der Bf. diesen Feststellungen. Daher gab es einen Streit über ein im nationalen Recht anerkanntes Recht.

(32) Zur Frage, ob das Recht ziviler Natur ist, beobachtet der GH, dass er im Fall Junnila/FIN festgestellt hat, dass sich die betreffenden Verfahren, da sie die Entziehung des [...] Führerscheins des Bf. betrafen, welchen dieser benötigte, um seinen Beruf als LKW-Fahrer auszuüben, um die Entscheidung von dessen zivilrechtlichen Ansprüchen drehten. Er kam zum Schluss, dass Art. 6 EMRK auf die Verfahren anwendbar war.

(33) Im vorliegenden Fall ist der Bf. jedoch ein Zahnarzt. Auch wenn eine Lenkberechtigung das Pendeln zwischen seinem Zuhause und seiner Zahnarztpraxis erleichtern mag, weist nichts darauf hin, dass eine solche Voraussetzung für die Ausübung seines Berufs wäre. Der GH würde es jedoch als künstlich empfinden, in diesem Fall zum Schluss zu kommen, dass aus diesem Grund allein Art. 6 Abs. 1 EMRK nicht anwendbar wäre, da abhängig von den besonderen Umständen eines Falles dieselbe Berechtigung oder Genehmigung unter Art. 6 Abs. 1 EMRK als eine Voraussetzung für die Ausübung eines speziellen Berufs gesehen werden kann oder nicht.

(34) Der GH befindet, dass es keinen Grund gibt, warum der Entzug einer Lenkberechtigung als solcher aus dem zivilrechtlichen Aspekt des Art. 6 Abs. 1 EMRK herausfallen sollte. Zudem ist unstrittig, dass der Bf. im vorliegenden Fall Zugang zum VwGH hatte. Daher ist Art. 6 Abs. 1 EMRK in seinem zivilrechtlichen Aspekt auf die gegenständlichen Verfahren anwendbar.

(35) [...] Diese Beschwerde ist nicht offensichtlich unbegründet [...] und auch nicht aus anderen Gründen unzulässig und muss deshalb für zulässig erklärt werden (einstimmig).

In der Sache

(38) Der GH bemerkt, dass der Fall des Bf. von der BH Melk und dem LH von Niederösterreich geprüft wurde – das heißt von reinen Verwaltungsbehörden – und dann vom VwGH. Der Bf. bestritt nicht, dass der VwGH ein Tribunal darstellt, und es gibt keinen Hinweis in der Akte, dass der Umfang der Überprüfung durch den VwGH unter den Umständen des Falles unzureichend gewesen wäre. Daher war der VwGH das erste und einzige Tribunal, das den Fall des Bf. untersuchte. Vor dem VwGH wurde keine Verhandlung abgehalten, obwohl der Bf. explizit eine beantragt hatte. Es stellt sich daher nicht die Frage, ob der Bf. auf dieses Recht verzichtete.

(39) Der Bf. war deshalb grundsätzlich zu einer öffentlichen und mündlichen Verhandlung vor dem ersten und einzigen Tribunal, das seinen Fall untersuchte, berechtigt, wenn es nicht außergewöhnliche Umstände gab, die den Verzicht auf eine solche Verhandlung rechtfertigten. Der GH hat solche außergewöhnlichen Umstände in Fällen akzeptiert, in denen die Verfahren ausschließlich rechtliche oder hoch technische Fragen betrafen.

(40) Zu den Umständen des vorliegenden Falles erwägt der GH, dass der Streit, so wie er vom Bf. an den VwGH herangetragen wurde, rechtliche, aber auch tatsächliche Fragen umfasste. Insbesondere bestritt der Bf., dass sein Verhalten während der Polizeikontrolle eine Verweigerung des Alkoholtests begründete und ersuchte das Gericht um die diesbezügliche Aufnahme zusätzlichen Beweismaterials, wie die Anhörung der beteiligten Polizisten und die Einholung eines technischen Gutachtens.

(41) Der VwGH gab keine Gründe dafür an, warum er eine Verhandlung als unnötig ansah – abgesehen von dem Hinweis, dass dies eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten lasse. Auch hat die Regierung keine weiteren außergewöhnlichen Umstände bezeichnet, die den Verzicht auf eine Verhandlung rechtfertigen hätten können. Dazu bemerkt der GH, dass er bereits in einer Reihe ähnlicher Fälle Verletzungen von Art. 6 Abs. 1 EMRK festgestellt hat. Er sieht keinen Grund, im vorliegenden Fall zu einem anderen Ergebnis zu kommen.

(42) Daher erfolgte eine Verletzung von Art. 6 EMRK (einstimmig).

Zu den anderen behaupteten Konventionsverletzungen

(43) Der Bf. rügte unter Art. 6 EMRK, dass die Verfahren unfair gewesen wären, weil die nationalen Behörden die Beweise nicht korrekt gewürdigt hätten. Unter Art. 4 7. Prot. EMRK rügte er zudem, dass sein Recht, nicht doppelt bestraft zu werden, verletzt worden sei, da seine Lenkberechtigung entzogen worden sei, obwohl das Straferkenntnis nicht länger gültig war.

(45) Der GH beobachtet, dass der Bf. keine Beschwerde an den VfGH erhob. [...] Die obigen Rügen beziehen sich auf Art. 6 EMRK und Art. 4 7. Prot. EMRK, die nach österreichischem Recht Teil der Verfassung sind. Der Bf. hätte diese Fragen daher in einer Beschwerde an den VfGH aufwerfen können. Er hat dies jedoch verabsäumt und daher den innerstaatlichen Instanzenzug – wie von Art. 35 Abs. 1 EMRK verlangt – nicht erschöpft.

(46) Dieser Teil der Beschwerde muss daher [...] [als unzulässig] zurückgewiesen werden (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK

Die Feststellung der Verletzung stellt für sich eine ausreichende Entschädigung für den vom Bf. erlittenen immateriellen Schaden dar. € 1.634,76 für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Entscheidungsanmerkung

Der vorliegende Fall beinhaltet zwei Aspekte, die von besonderer Bedeutung für die österreichische Praxis sind. Bemerkenswert ist zunächst die Feststellung des EGMR, dass die Entziehung der Lenkberechtigung jedenfalls unter den zivilrechtlichen Aspekt des Art. 6 Abs. 1 EMRK fällt, selbst wenn der Führerschein nicht unbedingt zur Ausübung eines Berufs benötigt wird. Der EGMR folgt also seiner Linie, den Begriff »civil rights« autonom auszulegen und darunter auch Fallkonstellationen zu subsumieren, die man an sich nicht zivilrechtlichen Ansprüchen oder Verpflichtungen zuordnen würde. Der gegenständliche Fall macht das besonders deutlich, handelt es sich bei der betroffenen Materie nach österreichischem Recht doch – wie auch der EGMR festhält (siehe Rn. 26) – um eine klassisch verwaltungsrechtliche.

Zum zweiten betrifft das Urteil Becker/A ein immer wieder auftretendes Problem in der Rechtsprechungspraxis des VwGH. Verurteilungen Österreichs durch den EGMR nach Art. 6 EMRK wegen Unterbleibens einer mündlichen Verhandlung vor dem VwGH wie im vorliegenden Fall sind in den letzten Jahren nämlich häufiger vorgekommen.

Dass das Problem dabei eben nicht in der gesetzlichen Vorgabe liegt, wird deutlich, wenn man sich die einschlägige Norm des § 39 Abs. 2 Z. 6 VwGG ansieht. Danach »kann« der VwGH »ungeachtet eines Parteiantrages nach Abs. 1 Z. 1 von einer Verhandlung absehen«, wenn »die Schriftsätze der Parteien und die Akten des Verfahrens vor dem Verwaltungsgericht erkennen lassen, dass die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten lässt und einem Entfall der Verhandlung [...] Art. 6 Abs. 1 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten« nicht entgegensteht. Voraussetzung für die Ausübung des Ermessens des VwGH ist nach dieser Bestimmung also, dass nach Art. 6 EMRK keine mündliche Verhandlung geboten ist. Für die mit der Verwaltungsreform 2014 neu eingerichteten Verwaltungsgerichte gilt im Übrigen nach dem fast wortgleichen § 24 Abs. 4 VwGVG im Wesentlichen dasselbe.

Die korrekte Anwendung des § 39 Abs. 2 Z. 6 VwGG hängt somit von der richtigen Auslegung des Art. 6 EMRK durch den VwGH ab. Den zu beachtenden konkreten Rahmen hat der EGMR in seiner Rechtsprechung herausgearbeitet. Wichtig zu betonen ist, dass nach Art. 6 EMRK die grundsätzliche Verpflichtung besteht, eine Verhandlung abzuhalten. Gerade wenn es nur eine einzige Instanz iSd. Art. 6 EMRK gibt, hat der Betroffene das Recht auf eine mündliche Verhandlung, wenn nicht außergewöhnliche Umstände ausnahmsweise dagegen sprechen. Der EGMR lässt solche Ausnahmen in seiner Rechtsprechung in zwei Konstellationen zu, auf die er auch im gegenständlichen Fall verweist (Rn. 39). Der EGMR hat zum einen akzeptiert, dass dann von einer Verhandlung abgesehen werden kann, wenn Tatsachenfragen nicht strittig sind und das Gericht daher nur über Rechtsfragen zu entscheiden hat, die zudem nicht von besonderer Komplexität sein dürfen. Eine Ausnahme wird vom EGMR zum anderen auch für Verfahren anerkannt, die hoch technische Fragen betreffen, da solche besser schriftlich gelöst werden können. Der EGMR gibt somit in seiner Rechtsprechung gewisse Anhaltspunkte vor, unter denen ausnahmsweise von einer Verhandlung abgesehen werden kann. Bemerkenswerterweise finden sich dazu im Urteil des VwGH jedoch gerade keine Ausführungen, sondern wird dort zur Nichtabhaltung einer mündlichen Verhandlung lediglich unter Verweis auf § 39 Abs. 2 Z. 6 VwGG festgehalten, dass auf eine Verhandlung verzichtet werden konnte. Das Problem im vorliegenden Fall war daher einerseits, dass keine Begründung für das Abgehen vom oben zitierten Grundsatz erfolgte, worauf der EGMR in Rn. 41 auch explizit hinweist. Andererseits wäre eine tragfähige Begründung für das Unterbleiben einer Verhandlung unter den Gegebenheiten des Falles im Lichte der Rechtsprechung des EGMR allerdings angesichts des Umstands, dass es dem Bf. – wie ebenfalls vom EGMR hervorgehoben – gerade um die nähere Diskussion von Tatsachenfragen ging, auch kaum zu finden gewesen.

Das Bestreben des VwGH (bzw. nunmehr auch der Verwaltungsgerichte), so wenige mündliche Verhandlungen wie möglich durchzuführen, mag vor dem Hintergrund seiner Arbeitsbelastung und im Sinne der Verfahrensbeschleunigung durchaus nachvollziehbar sein. Die vorliegende Verurteilung Österreichs durch den EGMR – auch wenn sie auf eine Entscheidung des VwGH aus 2007 zurückgeht – sollte den VwGH und die Verwaltungsgerichte allerdings daran erinnern, sich an die Vorgaben von Art. 6 EMRK und § 39 Abs. 2 Z. 6 VwGG bzw. § 24 Abs. 4 VwGVG zu halten und eben nur dann von einer mündlichen Verhandlung abzusehen, wenn dies unter den eng umgrenzten Voraussetzungen des Art. 6 EMRK zulässig ist.

Vom GH zitierte Judikatur:

Schuler-Zgraggen/CH v. 24.6.1993 = NL 1993/4, 30 = EuGRZ 1996, 604 = ÖJZ 1994, 138

Speil/A v. 5.9.2002 (ZE) = ÖJZ 2003, 117

Junnila/FIN v. 13.1.2004 (ZE)

Schelling/A v. 10.11.2005 = NL 2005, 277 = ÖJZ 2006, 472

Sergey Zolotukhin/RUS v. 10.2.2009 (GK) = NL 2009, 37

Koottummel/A v. 10.12.2009 = NL 2009, 359

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 11.6.2015, Bsw. 19844/08, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2015, 213) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/15_3/Becker.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.