JudikaturJustizBsw19075/91

Bsw19075/91 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
20. Februar 1996

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Große Kammer, Beschwerdesachen Vermeulen gegen Belgien und Lobo Machado gegen Portugal, Urteile vom 20.2.1996, Bsw. 19075/91 und 15764/98.

Spruch

Art. 6 EMRK - Verfahrensrechtliche Stellung von Generalanwälten und Recht auf ein faires Verfahren.

Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK im Fall Vermeulen (15:4 Stimmen).

Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK im Fall Lobo Machado (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

1. Auf Antrag der klagenden belg. Prokuratur wurde über das Unternehmen des Bf. Vermeulen, einem belg. Staatsangehörigen, der Konkurs eröffnet. Die dagegen erhobenen Rechtsmittel blieben in letzter Instanz vor dem Cour de Cassation erfolglos. Die Verhandlung vor diesem endete mit der Stellungnahme des Generalanwaltes, einem Vertreter der Prokuratur. Dieser war bei den Beratungen des entscheidenden Senates anwesend.

2. Der Bf. Machado, portug. Staatsangehöriger, klagte seinen früheren Arbeitgeber, ein verstaatlichtes Unternehmen, auf nachträgliche Einstufung in eine höhere dienstrechtliche Position und entsprechende höhere Pensionsleistungen. Er hatte auch in letzter Instanz damit keinen Erfolg. Das Höchstgericht folgte dabei einer nach Abschluss der mündlichen Verhandlung abgegebenen schriftlichen Stellungnahme des Generalanwaltes. Ein Vertreter der Generalanwaltschaft war bei der nicht öffentlichen Beratung des entscheidenden Senates anwesend.

Sowohl in Belgien wie in Portugal kommen den generalanwaltschaftlichen Departments ähnliche Aufgaben zu: Neben staatsanwaltschaftlichen Aufgaben und der anwaltlichen Vertretung des Staates bzw. staatlicher Unternehmungen obliegt ihnen die Beteiligung an Gerichtsverfahren als amicus curiae zur Sicherstellung einer ordnungsgemäßen Rechtspflege und eines einheitlichen Entscheidungspraxis. Die Beamten der generalanwaltschaftlichen Departments sind in beiden Ländern den jeweiligen Justizministern dienstrechtlich untergeordnet und disziplinär verantwortlich.

Die beiden Bsw. wurden zur mündlichen Verhandlung vor dem GH miteinander verbunden. In beiden Urteilen gebrauchte der GH beinahe gleichlautende Argumente und bediente sich identer Erwägungen. Aus diesen Gründen werden beide Urteile im Newsletter gemeinsam behandelt. Die Kms. hatte in beiden Fällen die Verletzung des Art. 6 EMRK (Vermeulen Ber. v. 11.10.1994 (11:5 Stimmen) = NL 95/1/08; Machado, Ber. v. 19.5.1994 (14:9 Stimmen) bejaht.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. behaupten eine Verletzung ihres Rechts auf ein faires Verfahren nach Art. 6 EMRK, da es ihnen nicht möglich war, die Stellungnahmen des Generalanwalts zu erwidern und dieser bei den Beratungen des entscheidenden Senates anwesend war.

Der GH stellt fest, dass den Generalanwaltschaften vornehmlich die Aufgabe zukommt, das Gericht zu unterstützen und ihm bei der Einhaltung einer einheitlichen Entscheidungspraxis behilflich zu sein. Dabei zeichnet die Vertreter der Generalanwaltschaft eine strikte Objektivität aus (vgl. Urteil Delcourt/B, A/11 §§ 32-38; Borgers/B, A/214-B § 24). Jedoch kommt der tatsächlichen Stellung der Vertreter des Generalanwaltes im Verfahren - insb. Inhalt und Auswirkungen ihrer Stellungnahmen - große Bedeutung zu (vgl. Urteil Bönisch/A, A/92 § 31; Brandstetter/A, A/211 § 42; Borgers/B, § 26). Die Autorität der generalanwaltschaftlichen Stellungnahmen leitet sich von der Stellung ihrer Departments ab. Obwohl die Stellungnahmen objektiv und juristisch fundiert sind, streben sie dennoch die Beratung und daher auch die Beeinflussung des Gerichts an.

Unter Berücksichtigung der Bedeutung des Verfahrensausgangs für die Bf. und der Art der Stellungnahmen der Generalanwälte bedeutete die Unmöglichkeit, auf diese Stellungnahmen zu antworten, eine Verletzung des Rechts auf ein kontradiktorisches Verfahren. Dieses Recht erfordert, dass alle Verfahrensparteien Gelegenheit haben, zu sämtlichen Äußerungen, die Eingang in die Akten gefunden haben, und jedem Beweisvorbringen, das auf eine Beeinflussung der Entscheidung abzielt, Stellung zu nehmen, selbst wenn das Vorbringen von Organen der staatlichen Rechtspflege erstattet wird (vgl. Urteile Ruiz-Mateos/E, A/262 § 63; McMichael/GB, A/307-B § 80).

Diese Verletzung der Konvention wird noch zusätzlich durch die Teilnahme, wenn auch bloß in beratender Funktion, der generalanwaltschaftlichen Vertreter an den Beratungen des Gerichts erschwert. Zumindest dem äußeren Anschein nach erhielten sie dadurch eine zusätzliche Möglichkeit, ihr Vorbringen zu untermauern, ohne dabei Gegenargumenten ausgesetzt zu sein. Auch ihre Kompetenz zur Erhaltung einer einheitlichen Entscheidungspraxis kann an diesem Befund nichts ändern. Denn die Rechtspraxis der Mehrheit der Staaten des Europarates zeigt, daß hierfür auch andere Möglichkeiten zur Verfügung stehen. In beiderlei Hinsicht ist daher Art. 6 (1) EMRK verletzt worden (Im Fall Vermeulen 15:4 Stimmen, bei Machado einstimmig).

Abweichende Meinung der Richter Matscher ua. im Fall Vermeulen:

Unter Berücksichtigung der kontinental-römischrechtlichen Traditionen wäre es ein Fehlverständnis der Institution des Generalanwaltes (procureur général), wenn man dessen Stellung in Zivilverfahren mit der eines Gegners der Verfahrensparteien gleichsetzen wollte. Vielmehr kommt ihm die Rolle eines amicus curiae, eines neutralen und objektiven Wächters über die Rechtmäßigkeit des Verfahrens und die Einheitlichkeit und Geschlossenheit des Fallrechts zu. In dieser Hinsicht verstößt seine Mitwirkung im Verfahren und in den Beratungen in keiner Weise gegen den Grundsatz der Waffengleichheit der Verfahrensparteien.

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über die Urteile des EGMR vom 20.2.1996, Bsw. 19075/91 und 15764/98, entstammt der Zeitschrift „ÖIMR-Newsletter" (NL 1996,42) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Die Urteile im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/96_2/Vermeulen.pdf

www.menschenrechte.ac.at/orig/96_2/Machado.pdf

Die Originale der Urteile sind auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.