JudikaturJustizBsw18788/09

Bsw18788/09 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
20. April 2010

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer V, Beschwerdesache Jean-Marie Le Pen gegen Frankreich, Zulässigkeitsentscheidung vom 20.4.2010, Bsw. 18788/09.

Spruch

Art. 10 EMRK - Verbaler Angriff auf muslimische Immigranten.

Unzulässigkeit der Beschwerde bezüglich Art. 10 EMRK (einstimmig).

Unzulässigkeit der Beschwerde bezüglich Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Der Bf. ist Präsident der französischen Partei »Front National«. In einer Ausgabe der Tageszeitung Le Monde von April 2003 tätigte er in einem Interview folgende Aussage: »An dem Tag, an dem wir in Frankreich nicht mehr fünf, sondern 25 Millionen Muslime haben, werden es sie sein, die Befehle erteilen. Und die Franzosen werden dicht an den Mauern entlanglaufen und mit gesenktem Blick von den Gehsteigen heruntertreten. Wenn sie es nicht machen, wird man ihnen sagen: 'Warum siehst du mich so an? Suchst du eine Schlägerei?' Und Ihnen wird nichts anderes übrig bleiben, als zu rennen [...].«

Aufgrund dieser Äußerungen sprach das Strafgericht Paris den Bf. am 2.4.2004 der Anstiftung zu Diskriminierung, Hass und Gewalt gegen eine Gruppe von Personen aufgrund ihrer Herkunft oder ihrer Zugehörigkeit oder fehlenden Zugehörigkeit zu einer Ethnie, Nation, Rasse oder Religion für schuldig und verurteilte ihn zu einer Geldstrafe von € 10.000,–. Das Urteil wurde vom Cour d'appel Paris bestätigt.

In einem Interview der Wochenzeitschrift Rivarol nahm der Bf. mit folgenden Worten auf seine Verurteilung Bezug: »Wenn ich sage, dass die Franzosen bei Anwesenheit von 25 Millionen Muslimen an den Mauern entlanglaufen werden, antworten mir die Leute im Saal nicht ohne Grund: 'Aber Herr Le Pen, das ist schon jetzt der Fall!'«

Der Bf. wurde daraufhin in zweiter Instanz ein weiteres Mal zu einer Geldstrafe von € 10.000,–verurteilt. Nach Ansicht des Cour d'appel habe der Bf. der Öffentlichkeit die Überzeugung eingeimpft, die Sicherheit der französischen Bevölkerung – deren Reaktionen noch weiter gingen als die Worte des Bf. – hänge von der Zurückweisung der Muslime ab und die aus deren wachsender Präsenz resultierende Unruhe und Angst würde aufhören, wenn sie verschwänden. Dem Gericht zufolge könne die Meinungsäußerungsfreiheit des Bf. Worte, die Diskriminierung, Hass und Gewalt gegenüber einer Personengruppe provozieren, nicht rechtfertigen.

Die vom Bf. gegen das Urteil eingebrachte Berufung wurde vom Cour de cassation am 3.2.2009 abgewiesen.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Durch die Verurteilung aufgrund seiner Äußerungen in der Wochenzeitschrift Rivarol erachtet sich der Bf. in seinem in Art. 10 EMRK garantierten Recht auf freie Meinungsäußerung verletzt. Er rügt außerdem eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren), da das Urteil des Cour de cassation ihm zufolge unzureichend begründet wurde.

Die Verurteilung des Bf. stellt einen Eingriff in dessen Recht auf freie Meinungsäußerung dar. Mit Art. 23 und 24 des Gesetzes über die Pressefreiheit vom 29.7.1881 beruhte dieser auf einer gesetzlichen Grundlage und verfolgte das legitime Ziel, den guten Ruf und die Rechte anderer zu schützen. Der GH hat daher zu beurteilen, ob der Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war. Er muss die Angelegenheit dazu in ihrer Gesamtheit betrachten und die Worte des Bf. in dem Kontext beurteilen, in dem sie geäußert wurden.

Im Zusammenhang mit politischen Debatten spricht der GH der Meinungsäußerungsfreiheit höchste Bedeutung zu. Der freie politische Diskurs – ein Kernelement einer demokratischen Gesellschaft – sollte nicht ohne zwingenden Grund beschränkt werden. Art. 10 EMRK schützt auch Informationen und Ideen, die verletzen, schockieren oder beunruhigen.

Eingriffe in die Meinungsäußerungsfreiheit eines Volksvertreters, der – wie der Bf. – seine Wähler repräsentiert und ihre Interessen vertritt, erfordern eine besonders strenge Kontrolle durch den GH. Jedem, der an einer öffentlichen Debatte im Interesse der Allgemeinheit teilnimmt, ist auch ein gewisses Maß an Übertreibung oder sogar Provokation erlaubt. Gewisse Grenzen, vor allem in Hinblick auf den guten Ruf und die Rechte anderer, dürfen dabei jedoch nicht überschritten werden. Wie der GH bereits früher festgestellt hat, ist der Kampf gegen rassische Diskriminierung jedweder Form hier von höchster Wichtigkeit.

Die Äußerungen des Bf. wurden im Rahmen der im öffentlichen Interesse gelegenen Debatte über Probleme betreffend die Niederlassung und Integration von Immigranten getätigt. Wie der GH im Fall Soulas u.a./F feststellte, werden diese Probleme in Europa politisch wie medial weitreichend thematisiert. Was Frankreich betrifft, erschien ihm eine Integration nur im Zuge eines langen und mühsamen Prozesses möglich, bei dem Probleme auftreten können, deren Leidtragender ein Teil der Bevölkerung ausländischer Herkunft sein wird. Daraus ergeben sich Unverständnis und Unstimmigkeiten, die schon zu gewaltvollen Auseinandersetzungen zwischen der Exekutive und radikalen Teilen dieser Bevölkerungsgruppe geführt haben.

Die große Bandbreite an Problemen, die im Rahmen der Immigrations- und Integrationspolitik auftreten können, erfordert es, dem Staat einen ausreichend weiten Ermessensspielraum hinsichtlich der Beurteilung einzuräumen, ob ein Eingriff in die Meinungsäußerungsfreiheit einer Person notwendig ist oder nicht.

Allerdings waren die Worte des Bf. mit Sicherheit dazu geeignet, ein negatives und sogar beunruhigendes Bild der »muslimischen Gemeinde« in ihrer Gesamtheit zu zeichnen. Mit seinen Aussagen hat er das französische Volk einer Gemeinschaft gegenübergestellt, deren religiöse Zugehörigkeit ausdrücklich genannt und deren starkes Wachstum als eine bereits präsente Gefahr für die Würde und Sicherheit der Franzosen dargestellt wurde. Der GH ist auch der Ansicht, dass die Worte des Bf. geeignet waren, ein Gefühl der Abweisung und Feindseligkeit gegenüber der betroffenen Gemeinschaft zu erzeugen. Die vom Bf. vorgebrachten Begründungen, mit denen er seine Worte stützen wollte, genügen nicht, um eine ausreichende Tatsachenbasis für das Werturteil darzustellen, das der Bf. mit seinen Aussagen abgab. In Anbetracht dessen waren die von den innerstaatlichen Gerichten herangezogenen Motive für die Verurteilung des Bf. stichhaltig und ausreichend. Auch die verhängte Strafe erscheint unter den gegebenen Umständen nicht unverhältnismäßig.

Nach Ansicht des GH war der Eingriff in die Meinungsäußerungsfreiheit des Bf. daher »notwendig in einer demokratischen Gesellschaft« und der diesbezügliche Beschwerdepunkt ist wegen offensichtlicher Unbegründetheit nach Art. 35 Abs. 3 und Abs. 4 EMRK zurückzuweisen (einstimmig).

Was den Beschwerdepunkt unter Art. 6 Abs. 1 EMRK betrifft, so kann der GH keinen Anschein einer Verletzung erkennen. Auch er ist demnach als offensichtlich unbegründet zurückzuweisen (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

News Verlags GmbH Co KG/A v. 11.1.2000, NL 2000, 24; ÖJZ 2000, 394.

Jerusalem/A v. 27.2.2001, NL 2001, 52; ÖJZ 2001, 693.

Mamère/F v. 7.11.2006.

Soulas u.a./F v. 10.7.2008.

Willem/F v. 16.7.2009, NL 2009, 221.

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über die Zulässigkeitsentscheidung des EGMR vom 20.4.2010, Bsw. 18788/09, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2010, 143) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Die Zulässigkeitsentscheidung im französischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/10_3/Le Pen.pdf

Das Original der Zulässigkeitsentscheidung ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rechtssätze
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