JudikaturJustizBsw18640/10

Bsw18640/10 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
04. März 2014

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer II, Grande Stevens u.a. gg. Italien, Urteil vom 4.3.2014, Bsw. 18640/10.

Spruch

Art. 6, Art. 46, Art. 47 EMRK, Art. 1 1. Prot. EMRK, Art. 4 7. Prot. EMRK - Doppelbestrafung für Marktmanipulation und unfaires Verwaltungsverfahren.

Verletzung von Abs. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig).

Keine Verletzung von Art. 6 Abs. 3 lit. a, lit. b oder lit. c EMRK (6:1 Stimmen).

Keine Verletzung von Art. 1 1. Prot. EMRK (5:2 Stimmen).

Verletzung von Art. 4 7. Prot. EMRK (einstimmig)

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 10.000,– für immateriellen Schaden, € 40.000,– für Kosten und Auslagen an alle Bf. gemeinsam (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Bei den Bf. handelt es sich um zwei italienische Firmen (die Exor AG und die Giovanni Agnelli C. KG), deren Vorsitzenden Gianluigi Gabetti, den bevollmächtigten Vertreter von Giovanni Agnelli, Virgilio Marrone, und den Anwalt der Agnelli-Gruppe, Franzo Grande Stevens.

2002 unterzeichnete das Unternehmen FIAT, eine AG, eine Finanzvereinbarung mit acht Banken. Dieser Vertrag sollte am 20.9.2005 auslaufen und sah vor, dass die Banken, wenn FIAT es verabsäumen sollte, das Darlehen zurückzuzahlen, ihre Forderung aufrechnen konnten, indem sie einer Erhöhung des Stammkapitals von FIAT zustimmten. Sie würden so 28?% des Kapitals erwerben und Mehrheitsaktionär werden, während der Anteil von Exor von 30?% auf 22?% sinken würde. Herr Gabetti beauftragte Herrn Grande Stevens, einen auf Gesellschaftsrecht spezialisierten Anwalt, eine Möglichkeit zu finden, damit die Kontrolle von Exor über FIAT erhalten werden konnte. Der Anwalt sah einen Weg darin, einen von Exor mit der englischen Investmentbank Merrill Lynch International Ltd. geschlossenen (so genannten Equity-Swap-)Vertrag neu zu verhandeln. Bei der Vorbereitung dazu kontaktierte Grande Stevens die Commissione Nazionale per le Società e la Borsa (in der Folge »CONSOB«) mit der Frage, ob die von ihm anvisierte Lösung bewirken würde, dass es zu keiner Übernahme der Aktien von FIAT kam, ohne dabei allerdings Merrill Lynch zu erwähnen. Gleichzeitig trat er in Verhandlungen mit Merrill Lynch.

Am 23.8.2005 ersuchte die »CONSOB« Exor und Giovanni Agnelli darum, eine Presseaussendung zu veröffentlichen, in der sie unter anderem Informationen über jede Initiative liefern sollten, die im Hinblick auf das Auslaufen der Finanzvereinbarung mit den Banken gesetzt wurde. Die am folgenden Tag veröffentlichte – von Herrn Grande Stevens genehmigte – Presseaussendung gab dazu nur an, dass Exor »Initiativen betreffend das Auslaufen der Finanzvereinbarung weder gesetzt noch untersucht« habe und es wünschte, »FIAT's Hauptaktionär zu bleiben.« Giovanni Agnelli bestätigte die Aussendung.

Am 14.9.2005 wurde »CONSOB« von den laufenden Verhandlungen mit Merrill Lynch informiert. Am folgenden Tag wurde der frühere Vertrag zwischen dieser und Exor abgeändert, was es Letzterer ermöglichte, ihren 30?%-Anteil an FIAT zu behalten.

Am 20.2.2006 beschuldigte das Büro für Insiderhandel der »CONSOB« die Bf., gegen das Gesetzesdekret Nr. 58 vom 24.2.1998 mit dem Titel »Marktmanipulation« verstoßen zu haben. Danach war die »Verbreitung von Angaben, die geeignet sind, falsche oder irreführende Informationen im Hinblick auf Finanzinstrumente zu liefern« als Straftat definiert. Die Vereinbarung zur Änderung des Vertrags zwischen Merrill Lynch und Exor sei bereits erfolgt bzw. gerade dabei gewesen zu erfolgen, als die Presseaussendungen herausgegeben wurden. Deshalb scheine es, als hätten es jene, welche die Presseaussendungen ausgegeben hatten, wissentlich unterlassen, diesen Umstand zu erwähnen, um ein falsches Bild von der Situation zur betreffenden Zeit zu geben.

Nachdem das Büro für Insiderhandel die Akte an die Abteilung für verwaltungsrechtliche Sanktionen übergeben hatte, leitete dieses die Vorwürfe an die Bf. weiter und ersuchte sie binnen dreißig Tagen um eine Stellungnahme zu ihrer Verteidigung. Die Abteilung sendete ihren Bericht sodann ohne Mitteilung an die Bf. an die »CONSOB« selbst, die verantwortlich dafür war, über mögliche Strafen zu entscheiden.

Am 19.2.2007 verhängte »CONSOB« verwaltungsrechtliche Sanktionen gegen die Bf. Herr Gabetti, Herr Grande Stevens und Herr Marrone wurden zudem jeweils für mehrere Monate von der Verwaltung, Leitung oder Kontrolle börsennotierter Unternehmen ausgeschlossen. Das Berufungsgericht Turin reduzierte am 23.1.2008 insbesondere die Strafen gegen Giovanni Agnelli, Exor bzw. Herrn Gabetti (auf € 600.000,–, € 1.000.000,– bzw. € 1.200.000,–). Die Strafe von Herrn Grande Stevens blieb bei € 3.000.000,–. Der Kassationshof wies eine Berufung der Bf. am 23.6.2009 zurück.

Zwischenzeitlich waren die Bf. vor dem BG Turin angeklagt worden, da ihr Verhalten nach dem Gesetzesdekret Nr. 58 auch zu einer strafrechtlichen Verantwortung führen konnte. Das BG sprach am 21.12.2010 alle Bf. frei. Der Kassationshof hob die Freisprüche der Firmen Giovanni Agnelli und Exor sowie von Herrn Grande Stevens und Herrn Gabetti auf und bestätigte lediglich jenen von Herrn Marrone. Am 28.2.2013 verurteilte das Berufungsgericht Turin Herrn Gabetti und Herrn Grande Stevens und sprach Exor und Giovanni Agnelli frei. Die Berufungen von Gabetti und Grande Stevens sind noch anhängig.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. rügen eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren), da das Verfahren vor der »CONSOB« nicht fair gewesen sei und es diesem Organ an Unparteilichkeit und Unabhängigkeit mangle. Sie beschweren sich weiters über eine Verletzung von Art. 1 1. Prot. EMRK (Recht auf Achtung des Eigentums) und von Art. 4 7. Prot. EMRK (Doppelbestrafungsverbot).

Herr Grande Stevens rügt zudem, dass es in Verletzung von Art. 6 Abs. 3 lit. a und lit. c EMRK (Verteidigungsrechte) ohne sein Wissen zu einer Änderung der Anklage gegen ihn gekommen sei.

Zu den Einreden der Regierung

Zum Missbrauch des Beschwerderechts

Die Regierung behauptet, dass bestimmte von den Bf. vorgelegte Informationen nicht wahr sind oder wenigstens einer Klarstellung bedürfen.

Zum Vorbringen der Regierung, die Bf. hätten fälschlich behauptet, es habe keine öffentliche Verhandlung vor dem Berufungsgericht Turin gegeben, beobachtet der GH, dass es sich dabei um einen Streitpunkt zwischen den Parteien handelt. Der GH kann nicht zum Schluss kommen, dass es durch die Unterlassungen der Bf. zu einem Beschwerdemissbrauch kam oder dass die Beschwerde sich wissentlich auf unwahre Tatsachen stützte. Diese Einrede der Regierung ist daher zurückzuweisen.

Zum Fehlen eines erheblichen Nachteils

Die Regierung bringt vor, die Rügen der Bf. würden keine tatsächliche Beeinträchtigung von durch die Konvention geschützten Interessen betreffen, sondern lediglich theoretische Fragen ohne Verbindung zu einem konkret erlittenen Schaden.

Der GH beobachtet zunächst, dass im Fall finanziell einiges auf dem Spiel steht. Die Bf. wurden vom Berufungsgericht Turin zur Zahlung von Geldstrafen zwischen € 500.000,– und € 3.000.000,– verurteilt und Herrn Gabetti und Herrn Grande Stevens droht vor dem Strafgericht eine Freiheitsstrafe und eine Geldstrafe zwischen € 20.000,– und € 5.000.000,–. Zudem scheint die subjektive Bedeutung der Frage für die Herren Gabetti, Grande Stevens und Marrone offensichtlich, da diesen für einige Zeit die Verwaltung, Leitung oder Kontrolle von börsennotierten Unternehmen untersagt wurde. Das tastet ihre berufliche Ehre an. Auch diese Einrede der Regierung ist deshalb zurückzuweisen.

Daneben ist die Fortsetzung der Untersuchung des Falls auch im Namen der Achtung der Menschenrechte nötig. Die Beschwerde wirft insbesondere die Frage der Natur und der Fairness des Verfahrens vor der »CONSOB« sowie der Möglichkeit der Eröffnung eines Strafverfahrens im Bezug auf Gegebenheiten, die von dieser bereits sanktioniert wurden, auf. Es handelt sich hier um den ersten Fall dieser Art, den der GH Italien betreffend zu untersuchen hat und eine Entscheidung des GH über diese Grundsatzfrage würde die nationalen Gerichte anleiten.

Zur Nichterschöpfung des Instanzenzugs

Der GH bemerkt, dass die Bf. vor dem Berufungsgericht Turin die Nichtbeachtung des Grundsatzes einer kontradiktorischen Untersuchung durch die »CONSOB« vorgebracht haben. Sie haben ihre Rüge vor dem Kassationshof wiederholt. Diesbezüglich haben sie daher die ihnen offenstehenden Rechtsbehelfe erschöpft. Hinsichtlich der Fragen betreffend die Befugnisse des Präsidenten der »CONSOB« und der Abhaltung einer Verhandlung in camera vor dem Berufungsgericht Turin handelte es sich laut den Bf. um die Anwendung von internen Bestimmungen. Im Übrigen wäre jede Ausnahme für die Bf. diesbezüglich ohne vernünftige Erfolgsaussicht gewesen, da der Kassationshof befunden hat, dass die Verfassungsbestimmungen zum fairen Verfahren und den Verteidigungsrechten nicht auf Verfahren zur Verhängung von verwaltungsrechtlichen Sanktionen anwendbar waren.

Der GH betont auch, dass die Bf. sich nach der Bestätigung der von der »CONSOB« verhängten Verurteilung durch den Kassationshof im Strafverfahren auf den Grundsatz ne bis in idem berufen und ohne Erfolg die Verfassungswidrigkeit der einschlägigen Bestimmungen des Gesetzesdekrets Nr. 58 aufgrund ihrer Unvereinbarkeit mit Art. 4 7. Prot. EMRK vorgebracht haben.

Was schließlich den Umstand betrifft, dass das Strafverfahren gegen die Herren Gabetti und Grande Stevens noch anhängig ist, genügt es zu beobachten, dass die Bf. rügten, für ein Delikt »strafrechtlich verfolgt« worden zu sein, für das sie bereits rechtskräftig verurteilt worden waren. Unter diesen Umständen kann ihre Beschwerde unter Art. 4 7. Prot. EMRK nicht als verfrüht angesehen werden. Auch diese Einrede der Regierung kann daher nicht aufrechterhalten werden.

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 EMRK

Zur Frage, ob Art. 6 EMRK in seinem strafrechtlichen Aspekt Anwendung findet, erinnert der GH an die drei Kriterien, die hier zu berücksichtigen sind, nämlich die rechtliche Einordnung der strittigen Maßnahme im nationalen Recht, ihre Natur und die Natur und Schwere der Sanktion.

Die den Bf. vorgeworfenen Marktmanipulationen begründen im italienischen Recht kein Strafdelikt. Die Sanktion wird als »verwaltungsrechtlich« angesehen. Die Bedeutung der nationalen Einstufung ist jedoch relativ und daher nicht entscheidend für die Anwendung von Art. 6 EMRK.

Was die Natur des Delikts anbelangt, scheint es, dass die von den Bf. angeblich verletzten Bestimmungen darauf abzielten, die Integrität der Finanzmärkte zu garantieren und das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Sicherheit von Transaktionen aufrechtzuerhalten. Die »CONSOB« hat zum Ziel, den Schutz der Investoren und die Leistungsfähigkeit, Transparenz und Entwicklung der Börsenmärkte sicherzustellen. Dabei handelt es sich um allgemeine Interessen der Gesellschaft, die normalerweise durch das Strafrecht geschützt werden. Zudem bezweckten die verhängten Geldstrafen im Wesentlichen eine Bestrafung zur Vermeidung eines Rückfalls. Sie waren daher auf Normen gestützt, die zugleich ein präventives Ziel verfolgten, nämlich die Betroffenen vor einer Wiederholung abzuschrecken, und ein repressives Ziel, da sie eine Unrechtmäßigkeit sanktionierten. Die Sanktionen wurden von der »CONSOB« aufgrund der Schwere des zur Last gelegten Verhaltens verhängt und nicht wegen des den Investoren verursachten Schadens.

Zur Natur und Schwere der Strafe ist zu sagen, dass die Geldstrafen zwar nicht durch Freiheitsstrafen ersetzt werden konnten. Die »CONSOB« konnte allerdings Geldstrafen bis zu € 5.000.000,– verhängen, wobei dieser Betrag unter Umständen sogar verdreifacht oder auf das Zehnfache des durch das unerlaubte Verhalten erlangten Ertrags erhöht werden konnte. Die Verhängung solcher Strafen bringt für die Vertreter der betroffenen Gesellschaften den vorübergehenden Verlust der Ehre mit sich. Bei börsennotierten Unternehmen ist es den Vertretern für eine Zeit zwischen zwei Monaten und drei Jahren unmöglich, diese zu verwalten, zu leiten oder zu kontrollieren. Die »CONSOB« kann auch bestimmten Unternehmen für bis zu drei Jahre untersagen, mit dem Täter zusammenzuarbeiten, und von der Standesvertretung zudem die Suspendierung des Betroffenen von seiner beruflichen Aktivität verlangen. Weiters können der Ertrag aus dem unerlaubten Verhalten und die Mittel, die es ermöglicht haben, eingezogen werden.

Die Sanktionen wurden im vorliegenden Fall zwar nicht ausgeschöpft. Es kommt aber für das Vorliegen einer strafrechtlichen Anklage auf die Schwere der Sanktion an, mit der die betroffene Person a priori rechnen muss, und nicht auf die letztlich verhängte Sanktion. Zudem beeinträchtigte das Verbot für die Herren Gabetti, Grande Stevens und Marrone, für mehrere Monate börsennotierte Unternehmen zu verwalten, zu leiten oder zu kontrollieren das Ansehen der Betroffenen und führten die – erheblichen – Geldstrafen zu bedeutenden Konsequenzen für das Vermögen derselben. Die betreffenden Sanktionen fallen daher unter das Strafrecht.

Die gegen die Bf. verhängten Geldstrafen haben somit einen strafrechtlichen Charakter und Art. 6 Abs. 1 ist unter seinem strafrechtlichen Aspekt anzuwenden.

Da die Beschwerde im Übrigen nicht offensichtlich unbegründet und auch aus keinem anderen Grund unzulässig ist, ist sie für zulässig zu erklären (einstimmig).

Fairness des Verfahren vor der »CONSOB«

Der Bericht mit den Schlussfolgerungen der Abteilung für verwaltungsrechtliche Sanktionen, der dann als Grundlage für die Entscheidung der Kommission dienen sollte, wurde den Bf. nicht mitgeteilt. Diese hatten somit keine Möglichkeit, sich im Hinblick auf die von den Untersuchungsorganen der »CONSOB« dem zur Entscheidung über die Begründetheit der Beschuldigungen zuständigen Organ vorgelegten Dokumente zu verteidigen. Die Betroffenen hatten zudem keine Möglichkeit, die vom Büro für Insiderhandel vernommenen Personen zu befragen oder befragen zu lassen.

Weiters war das Verfahren vor der »CONSOB« weitestgehend schriftlich und die Bf. hatte keine Möglichkeit, am einzigen Treffen der Kommission teilzunehmen. Nach Ansicht des GH war im vorliegenden Fall allerdings eine öffentliche, mündliche und für die Bf. zugängliche Verhandlung notwendig. Der GH bemerkt, dass es einen Streit über die Fakten gab, insbesondere, was den Fortschritt der Verhandlungen mit Merrill Lynch betraf, und dass die Sanktionen, die einigen der Bf. drohten, abgesehen von ihren finanziellen Folgen einen entehrenden Charakter hatten.

Das Verfahren vor der »CONSOB« erfüllte daher nicht alle Anforderungen des Art. 6 EMRK, vor allem, was die Waffengleichheit zwischen Anklage und Verteidigung und die Abhaltung einer öffentlichen Verhandlung anbelangt.

Zur Frage, ob die »CONSOB« unabhängig und unparteiisch war

Der GH hat keinen Zweifel an der Unabhängigkeit der »CONSOB« von einer anderen Gewalt oder Behörde und insbesondere der Exekutive. Auch gibt es keine Hinweise auf eine subjektive Unparteilichkeit derselben.

Was die objektive Unparteilichkeit anbelangt, sieht das Regulativ der »CONSOB« eine gewisse Trennung zwischen den für die Untersuchung und für die Entscheidung über das Vorliegen eines Delikts und der Anwendung von Sanktionen zuständigen Organen vor. Die Anklage wird vom Büro für Insiderhandel formuliert, das auch die Ermittlungen durchführt. Deren Ergebnisse werden im Bericht der Abteilung für verwaltungsrechtliche Sanktionen zusammengefasst, der Schlussfolgerungen und Vorschläge für die anzuwendenden Sanktionen enthält. Die endgültige Entscheidung über die Verhängung dieser obliegt alleine der Kommission.

Diese drei Organisationseinheiten sind dennoch nur Zweige desselben Verwaltungsorgans, das demselben Präsidenten untersteht und unter dessen Aufsicht handelt. Das läuft auf die nacheinanderfolgende Ausübung von Untersuchungs- und Urteilsfunktion innerhalb derselben Institution hinaus. Im Strafrecht ist eine solche Verknüpfung jedoch nicht mit dem Erfordernis der von Art. 6 Abs. 1 EMRK verlangten Unparteilichkeit vereinbar.

Zur Frage, ob die Bf. Zugang zu einem Tribunal mit voller Jurisdiktionsbefugnis hatte

Es ist nicht mit der Konvention unvereinbar, Verwaltungsbehörden wie der »CONSOB« die Aufgabe anzuvertrauen, Rechtsverletzungen zu verfolgen und zu ahnden, doch müssen die Bf. im Hinblick auf jede so gegen sie getroffene Entscheidung ein Tribunal mit den Garantien des Art. 6 EMRK anrufen können. Im vorliegenden Fall konnten die Bf. die von der »CONSOB« verhängten Sanktionen vor dem Berufungsgericht Turin und danach vor dem Kassationshof anfechten. Es bleibt daher zu untersuchen, ob diese beiden Gerichte »richterliche Organe mit voller Jurisdiktionsgewalt« waren.

Das Berufungsgericht war zuständig, über das Vorliegen der im Gesetzesdekret Nr. 58 umschriebenen Delikte in faktischer und rechtlicher Hinsicht zu urteilen. Es konnte auch die Entscheidung der »CONSOB« aufheben. Es war weiters dazu aufgerufen, die Verhältnismäßigkeit der verhängten Sanktionen im Bezug zur Schwere des zur Last gelegten Verhaltens zu beurteilen. Seine Zuständigkeit war daher nicht auf eine simple Kontrolle der Rechtmäßigkeit beschränkt. Der GH befindet deshalb, dass das Berufungsgericht sehr wohl ein »Organ mit voller Jurisdiktionsgewalt« war.

Es bleibt zu beurteilen, ob die Verhandlungen vor dem Berufungsgericht in der Sache öffentlich waren. Über diese Tatsachenfrage sind die Parteien uneins. Der GH hält es für angebracht, sich an den Inhalt der offiziellen Akte des Verfahrens zu halten. Die vom Gericht erlassenen Urteile geben an, dass dieses in camera getagt habe oder dass die Parteien in die Beschlusskammer geladen worden waren. Der GH kommt deshalb zum Schluss, dass vor dem Berufungsgericht Turin keine öffentliche Verhandlung stattfand. Eine solche erfolgte zwar vor dem Kassationshof. Dieser war jedoch nicht befugt, in der Sache selbst zu erkennen, den Sachverhalt festzustellen und die Beweise zu würdigen, und war daher kein Organ mit voller Jurisdiktionsbefugnis.

Ergebnis

Da das Berufungsgericht Turin keine öffentliche Verhandlung abgehalten hat, erfolgte eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig; im Ergebnis übereinstimmendes Sondervotum der Richterin Isil Karakas und des Richters Pinto de Albuquerque).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 3 lit. a und lit. c EMRK

Herr Grande Stevens bezieht seine Rügen darauf, dass die »CONSOB« festgestellt habe, dass er in seiner Funktion als Geschäftsführer von Exor gehandelt hätte und dass das Berufungsgericht Turin seine Verurteilung bestätigte, obwohl es befand, ihm wäre diese Funktion gar nicht zugekommen.

Art. 187 des Gesetzesdekrets Nr. 58 aus 1998 stellt jedoch nicht auf die Funktion des Geschäftsführers ab, sondern erklärt jede Person für strafbar, die Informationen verbreitet, die falsche oder irreführende Angaben über Finanzinstrumente machen. Es ging somit lediglich darum festzustellen, ob er am Entscheidungsprozess teilgenommen hatte, der zur Veröffentlichung der strittigen Pressemitteilung führte. Daraus folgt, dass die Funktion als Geschäftsführer von Exor nicht Teil der Herrn Grande Stevens zugestellten Anklage war. Zudem hätte dieser andernfalls ohnehin rechtzeitig Kenntnis von der ihm zugeschriebenen Eigenschaft gehabt und hätte sowohl vor der »CONSOB« als auch vor dem Berufungsgericht dazu Stellung nehmen können. Keine Verletzung von Art. 6 Abs. 3 lit. a, lit. b oder lit. c EMRK (6:1 Stimmen; abweichendes Sondervotum des Richters Pinto de Albuquerque).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 1 1. Prot. EMRK

Die Bf. wurden zu schweren Geldstrafen zwischen € 500.000,– und € 3.000.000,– verurteilt. Dies stellt einen Eingriff in das Recht auf Achtung ihres Eigentums dar. Die Geldstrafen unterfallen Art. 1 Abs. 2 1. Prot. EMRK, und insbesondere der Kompetenz der Staaten, die Benutzung des Eigentums zu regeln, um die Zahlung der Geldstrafen sicherzustellen.

Die Parteien stimmen darin überein, dass die Geldstrafen eine ausreichend klare und zugängliche rechtliche Grundlage im italienischen Recht hatten, nämlich Art. 187 des Gesetzesdekrets Nr. 58. Aus den Ausführungen oben unter Art. 6 EMRK geht zudem hervor, dass die Bf. über angemessene verfahrensrechtliche Garantien gegen Willkür verfügten und die Möglichkeit hatten, die Maßnahmen anzufechten, die das Recht auf Achtung ihres Eigentums beeinträchtigten. Dass der GH auf eine Verletzung von Art. 6 Abs.  1 EMRK entschieden hat, weil die Verhandlung vor dem Berufungsgericht nicht öffentlich war, kann für sich nicht die Gesetzmäßigkeit der strittigen Maßnahme angreifen oder eine Nichtbeachtung der positiven Verpflichtungen des Staates aus Art. 1 1. Prot. EMRK begründen.

Nach Ansicht des GH ging es bei den durch die fragliche Pressemitteilung veröffentlichten Informationen um solche von fundamentalem Interesse für die Investoren. Der Umstand, dass falsche oder irreführende Informationen verbreitet wurden, war unzweifelhaft schwerwiegend. Daher erscheinen auch die den Bf. auferlegten Geldstrafen trotz ihrer Schwere nicht unverhältnismäßig zum ihnen vorgeworfenen Verhalten. Man kann auch nicht sagen, dass die Behörden die Sanktionen verhängt hätten, ohne die besonderen Umstände des Falles zu berücksichtigen oder dass den Bf. eine exzessive oder übermäßige Last auferlegt worden wäre. Keine Verletzung von Art. 1 1. Prot. EMRK (5:2 Stimmen; abweichendes Sondervotum der Richterin Isil Karakas und des Richters Pinto de Albuquerque).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 4 7. Prot. EMRK

Die Regierung bringt vor, dass Italien in einem Vorbehalt erklärt habe, dass die Art. 2 bis 4 7. Prot. EMRK nur auf Straftaten, Verfahren und Entscheidungen Anwendung finden würden, die vom italienischen Recht als strafrechtlich eingestuft werden, was für die in Frage stehenden Bestimmungen aber nicht zutreffen würde.

Der GH hebt hervor, dass dem betreffenden Vorbehalt eine »kurze Darstellung« der Gesetze fehlt, die angeblich mit Art. 4 7. Prot. EMRK unvereinbar sind. Aus dem Wortlaut des Vorbehalts kann man ableiten, dass Italien alle Delikte und Verfahren vom Anwendungsbereich dieser Bestimmung ausnehmen wollte, die vom italienischen Recht nicht als »strafrechtlich« qualifiziert werden. Ein Vorbehalt, der die spezifischen Bestimmungen der italienischen Rechtsordnung weder anführt noch erwähnt, bietet jedoch kein ausreichendes Maß an Garantie, dass er nicht über die vom Vertragsstaat explizit ausgeschlossenen Bestimmungen hinausgeht. Diesbezüglich erinnert der GH daran, dass auch bedeutende praktische Schwierigkeiten bei der Angabe oder Beschreibung aller von dem Vorbehalt betroffenen Bestimmungen nicht die Nichtbeachtung der in Art. 57 EMRK festgesetzten Bedingungen rechtfertigen können.

Folglich genügt der von Italien geltend gemachte Vorbehalt nicht den Erfordernissen von Art. 57 Abs. 2 EMRK. Dieser Schluss reicht für die Ungültigkeit des Vorbehalts bereits aus. Da die Beschwerde nicht offensichtlich unbegründet und auch aus keinem anderen Grund unzulässig ist, ist sie für zulässig zu erklären (einstimmig).

In Anwendung der Grundsätze aus dem Urteil Sergey Zolotukhin/RUS befindet der GH, dass das Verfahren vor der »CONSOB« eine »strafrechtliche Anklage« gegen die Bf. behandelte. Er beobachtet auch, dass die von der »CONSOB« verhängten Strafen am 23.6.2009 (Urteil des Kassationshofs) in Rechtskraft erwachsen sind. Von diesem Zeitpunkt an mussten die Bf. daher als bereits »wegen einer Straftat rechtskräftig verurteilt« im Sinne des Art. 4 7. Prot. EMRK angesehen werden. Dennoch wurden die neuen Strafverfahren, die zwischenzeitlich gegen die Bf. eröffnet worden waren, nicht eingestellt und führten zu erst- und zweitinstanzlichen Urteilen.

Nach Ansicht des GH handelt es sich bei dem Verhalten, das den Bf. vor der »CONSOB« und vor den Strafgerichten vorgeworfen wurde, um dasselbe Verhalten derselben Personen zum selben Zeitpunkt. Die neuen Verfolgungshandlungen betrafen daher eine zweite Straftat, die auf identischen Umständen gründete wie jene, die Gegenstand der ersten rechtskräftigen Verurteilung waren. Verletzung von Art. 4 7. Prot. EMRK (einstimmig; im Ergebnis übereinstimmendes Sondervotum der Richterin Isil Karakas und des Richters Pinto de Albuquerque).

Zur Anwendung von Art. 46 EMRK

Was die Anordnung von individuellen Maßnahmen anbelangt, befindet der GH, dass die Natur der festgestellten Verletzung de facto keine Wahl offenlässt, welche Maßnahmen geeignet sind, um Abhilfe zu schaffen. Der Staat muss Acht geben, dass die neu und in Verletzung von Art. 4 7. Prot. EMRK gegen die Bf. eröffneten Strafverfolgungen, die im Bezug auf die Herrn Gabetti und Grande Stevens noch anhängig sind, in kürzester Zeit und ohne nachteiligen Folgen für die Bf. beendet werden (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK

€ 10.000,– für immateriellen Schaden an jeden der Bf., € 40.000,– für Kosten und Auslagen an alle Bf. gemeinsam (einstimmig). Zurückweisung des darüber hinausgehenden Antrags auf Entschädigung (5:2 Stimmen; abweichendes Sondervotum der Richterin Isil Karakas und des Richters Pinto de Albuquerque).

Vom GH zitierte Judikatur:

Eisenstecken/A v. 3.10.2000 = ÖJZ 2001, 194

Sergey Zolotukhin/RUS v. 10.2.2009 (GK) = NL 2009, 37

Menarini Diagnostics S.R.L./I v. 27.9.2011

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 4.3.2014, Bsw. 18640/10, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2014, 117) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im französischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/14_2/Grande_Stevens.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.