JudikaturJustizBsw15809/02

Bsw15809/02 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
29. Juni 2007

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Große Kammer, Beschwerdesache O'Halloran und Francis gegen das Vereinigte Königreich, Urteil vom 29.6.2007, Bsw. 15809/02 und Bsw. 25624/02.

Spruch

Art. 6 Abs. 1 EMRK, Art. 6 Abs. 2 EMRK - Verpflichtung zur Lenkerauskunft verletzt nicht das Recht zu schweigen uns sich nicht selbst zu belasten.

Keine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (15:2 Stimmen).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Am 7.4.2000 bzw. 12.6.2001 wurden die Fahrzeuge von Herrn O'Halloran (ErstBf.) und Herrn Francis (ZweitBf.) von einer automatischen Radarkontrolle erfasst. In beiden Fällen war die zulässige Höchstgeschwindigkeit erheblich überschritten worden. In der Folge erhielten die Bf. als Zulassungsinhaber von der Polizei Nachricht, dass beabsichtigt sei, gegen den Lenker ihres PKW gerichtliche Erhebungen wegen Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit einzuleiten. Sie wurden mit dem Hinweis auf ihre Auskunftspflicht gemäß § 172 des Road Traffic Act 1988 aufgefordert, Name und Anschrift der Person anzugeben, die das Kraftfahrzeug zum fraglichen Zeitpunkt gelenkt hatte oder jedweden sachdienlichen Hinweis zu liefern, der zur Identifikation des Lenkers führen könnte. Beide wurden darüber informiert, dass eine Verweigerung der Auskunft ein strafrechtliches Vergehen nach § 172 Abs. 3 des Road Traffic Act 1988 darstelle.

Während Herr O'Halloran bestätigte, das Auto zum maßgeblichen Zeitpunkt gelenkt zu haben, verweigerte Herr Francis jegliche Auskunft und berief sich auf sein Recht zu schweigen bzw. sich nicht selbst zu bezichtigen.

Am 27.3.2001 wurde der ErstBf. vor Gericht geladen. Er beantragte vergeblich unter Berufung auf Art. 6 EMRK, sein Geständnis nicht als Beweis zuzulassen. Sein Antrag wurde mit dem Hinweis auf die im Fall Brown v. Stott getroffene Entscheidung des Kronrats (Privy Council) (Anm.: Der Fall betraf eine Frau, die in der Nähe ihres Fahrzeugs verhaftet und positiv auf Alkohol getestet worden war. Sie wurde von der Polizei auf ihre Auskunftspflicht unter § 172 des Road Traffic Act 1988 aufmerksam gemacht, worauf sie zugab, den PKW zur fraglichen Zeit gelenkt zu haben. Die Staatsanwaltschaft stellte daraufhin einen Strafverfolgungsantrag wegen Lenkens eines Fahrzeugs in alkoholisiertem Zustand. Der High Court of Justiciary gab einem Rechtsmittel der Beschuldigten statt und befand, dass die Staatsanwaltschaft ihr erzwungenes Geständnis nicht als Beweis verwenden könne. Der Kronrat gelangte zu einem anderen Ergebnis. Er hielt fest, § 172 des Road Traffic Act 1988 sei mit Rücksicht auf die Notwendigkeit der Identifizierung, Verfolgung und Bestrafung von Verkehrssündern weder unverhältnismäßig noch verletze die Zulassung des Geständnisses als Beweis das Recht der Beschuldigten auf ein faires Verfahren gemäß Art. 6 EMRK.) abgewiesen. Der ErstBf. wurde zu einer Geldstrafe von GBP 100,– (€ 147,66) und zum Ersatz der Kosten verurteilt, ferner erhielt er sechs Führerschein-Strafpunkte. Ein Antrag an den High Court auf gerichtliche Überprüfung der Entscheidung blieb erfolglos.

Am 15.4.2002 wurde der ZweitBf. zu einer Geldstrafe von GBP 750,– (€ 1.107,49) und zum Ersatz der Kosten verurteilt, außerdem erhielt er drei Führerschein-Strafpunkte.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. behaupten, sie seien zur Angabe selbstbelastender Beweise gezwungen worden, was eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (Recht zu schweigen und sich nicht selbst zu bezichtigen) und von Art. 6 Abs. 2 EMRK (Unschuldsvermutung) darstelle.

Zur Anwendbarkeit von Art. 6 Abs. 1 EMRK:

Die Bf. bringen vor, der strafrechtliche Aspekt von Art. 6 Abs. 1 EMRK sei anwendbar, da jeder von ihnen eine polizeiliche Benachrichtigung über eine beabsichtigte Strafverfolgung erhalten hätte und sie beide auch bestraft worden wären: Der ErstBf. wegen Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit, der ZweitBf. wegen seiner Weigerung, den Namen des Lenkers bekanntzugeben. Der GH stellt fest, dass die Bf. von der polizeilichen Benachrichtigung insofern erheblich betroffen waren, als ihnen die in Frage stehenden Verkehrsdelikte „zur Last gelegt" wurden. Art. 6 Abs. 1 EMRK ist somit anwendbar.

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK:

Die Bf. bringen vor, das Recht zu schweigen bzw. sich nicht selbst zu bezichtigen sei ein absolutes Recht. Jegliche Form der Ausübung von direktem Zwang zur Erlangung selbstbelastender Aussagen einer beschuldigten Person gegen ihren Willen stehe somit mit dem Wesensgehalt von Art. 6 EMRK in Widerspruch.

Der GH kann sich dieser Meinung nicht anschließen. Die Beurteilung der Frage, ob ein faires Verfahren iSd. Art. 6 Abs. 1 EMRK vorliegt oder nicht, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab. Er verweist in diesem Zusammenhang auf den spezifischen Kontext des Schweigerechts, wie er insbesondere im Fall Jalloh/D zu Tage trat. Der GH wird den vorliegenden Fall im Lichte der darin aufgestellten Prinzipien prüfen.

Der GH akzeptiert, dass der ausgeübte Zwang direkter Natur war. Ungeachtet seines „strafrechtlichen" Charakters entsprang er, wie der Kronrat im Fall Brown v. Stott betonte, dem stillschweigenden Eingehen einer Verpflichtung seitens von Zulassungsinhabern bzw. Lenkern von Fahrzeugen, sich einem Regelungssystem zu unterwerfen, das der potentiell gefährlichen Benützung von Kraftfahrzeugen Rechnung trägt. Nach britischem Recht beinhaltet eine derartige Verpflichtung für den Fall des Verdachts der Begehung eines Verkehrsdelikts die Pflicht zur Bekanntgabe der Identität des Fahrzeuglenkers.

Als weiterer Aspekt des ausgeübten Zwangs ist die eingeschränkte Untersuchungsbefugnis der Polizei auf diesem Gebiet zu beachten. Die Verpflichtung zur Lenkerauskunft gemäß § 172 Abs. 2 lit. a des Road Traffic Act 1988 findet nur dann Anwendung, wenn der Lenker eines Fahrzeugs der Begehung eines Verkehrsdelikts verdächtigt wird und ermächtigt die Polizei zur Einholung von Informationen lediglich hinsichtlich der Identität des Lenkers.

Im Fall Weh/A stellte der GH keine Verletzung von Art. 6 EMRK fest, da gegen den Bf. weder ein Verfahren anhängig noch beabsichtigt war, ein solches einzuleiten. Die bloße Verpflichtung zur Angabe, wer das Fahrzeug gelenkt habe, stelle als solche noch keine Selbstbezichtigung dar. Darüber hinaus hat der Kronrat im Fall Brown

v. Stott festgehalten, § 172 des Road Traffic Act 1988 biete keine Grundlage für eine längere Befragung über strafrechtlich relevante Tatsachen, ferner sei die wegen Verweigerung der Lenkerauskunft zu verhängende Strafe moderat und sehe nicht die Verhängung von Haft vor. Laut § 172 Abs. 4 des Road Traffic Act 1988 liegt kein Vergehen iSd. § 172 Abs. 2 lit. a des Road Traffic Act 1988 vor, falls der Zulassungsinhaber beweisen kann, dass er nicht wusste bzw. nicht hätte wissen können, wer das Fahrzeug gelenkt habe. Es handelt sich hierbei also um kein reines Gefährdungsdelikt, das Risiko der Berücksichtigung unzuverlässiger Beweise ist daher vernachlässigbar. Was die Verwertung der gegenständlichen Äußerungen anlangt, wurde das Eingeständnis des ErstBf., das Fahrzeug zum maßgeblichen Zeitpunkt gelenkt zu haben, gemäß § 12 Abs. 1 des Road Traffic Offenders Act 1988 als Beweis zugelassen und er wegen Geschwindigkeitsüberschreitung verurteilt. Er versuchte vergeblich, die Zulassung dieses Beweises vor Gericht anzufechten. Dem ErstBf. war es jedoch unbenommen, zu seiner Entlastung Beweise vorzulegen und Zeugen zu benennen. Wie der Kronrat im Fall Brown v. Stott betonte, stellt die Identität des Lenkers lediglich ein Tatbestandsmerkmal des Delikts der Geschwindigkeitsüberschreitung dar; zu einer Verurteilung ausschließlich aufgrund von infolge Anwendung des § 172 Abs. 2 lit. a des Road Traffic Act 1988 erlangter Informationen kann es daher nicht kommen.

Da der ZweitBf. eine Auskunft verweigerte, stellte sich bei ihm nicht die Frage der Verwertung von Äußerungen in einem Strafverfahren, da seine Weigerung, Informationen preiszugeben, nicht als Beweis verwendet wurde: sie stellte bereits selbst ein Delikt unter § 172 Abs. 3 des Road Traffic Act 1988 dar.

Mit Rücksicht auf die Umstände des vorliegenden Falls, insbesondere das gegenständliche Regulierungssystem und den eingeschränkten Charakter der mit einer Benachrichtigung gemäß § 172 des Road Traffic Act 1988 angestrebten Information, ist der GH der Auffassung, dass der Wesensgehalt des Rechts der Bf. zu schweigen und sich nicht selbst zu belasten nicht zerstört wurde. Keine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (15:2 Stimmen; im Ergebnis übereinstimmendes Sondervotum von Richter Borrego Borrego, Sondervoten der Richter Pavlovschi und Myjer).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 2 EMRK:

Der GH erachtet eine gesonderte Behandlung dieses Beschwerdepunkts

für nicht notwendig (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Weh/A v. 8.4.2004, NL 2004, 85.

Jalloh/D v.11.7.2006, NL 2006, 188.

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 29.6.2007, Bsw. 15809/02 und Bsw. 25624/02, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2007, 150) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/07_3/Halloran.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rechtssätze
3