JudikaturJustizBsw15615/07

Bsw15615/07 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
16. Juli 2009

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer II, Beschwerdesache Féret gegen Belgien, Urteil vom 16.7.2009, Bsw. 15615/07.

Spruch

Art. 10 EMRK - Aufruf eines Politikers zur Diskriminierung von Einwanderern.

Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich der behaupteten Verletzung von Art. 10 EMRK (einstimmig).

Unzulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich der übrigen Beschwerdepunkte (einstimmig).

Keine Verletzung von Art. 10 EMRK (4:3 Stimmen).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Der Bf. ist Präsident der belgischen politischen Partei „Front National – Nationaal Front". Er ist verantwortlicher Herausgeber der Schriften dieser Partei sowie Eigentümer ihrer Webseite.

Von Juli 1999 bis Oktober 2001 veröffentlichte die Partei „Front National" während ihrer Wahlkampagne mehrere Flugblätter und Schreiben fremdenfeindlichen Inhalts (unter anderem „gegen die Islamisierung Belgiens", „schickt die außereuropäischen Arbeiter zurück", „Palmiers-Straße: Ein Zentrum für Flüchtlinge vergiftet das Leben der Anwohner", „reserviert den Belgiern und Europäern das Recht auf Sozialhilfe"). Mehrere gemeinnützige Organisationen sowie Privatpersonen erstatteten Anzeige gegen den Bf. wegen Anstiftung zu Diskriminierung, Verfolgung, Hass und Gewalt gegen Personen aufgrund ihrer Rasse, Hautfarbe, Herkunft oder Nationalität. Da der Bf. zu diesem Zeitpunkt Abgeordneter in der Kammer des belgischen Parlaments war, erbat der Generalstaatsanwalt die Aufhebung der parlamentarischen Immunität, um die strafrechtliche Verfolgung aufnehmen zu können. Eine Kommission der Abgeordnetenkammer hob diese Immunität im Jahr 2002 auf.

Am 14.11.2002 erhob die Staatsanwaltschaft Anklage gegen den Bf. wegen Anstiftung zu Diskriminierung, Verfolgung, Hass und Gewalt gegen eine Gruppe oder Gemeinschaft. Der Bf. wurde in seiner Eigenschaft als Autor und verantwortlicher Herausgeber der umstrittenen Flugblätter sowie als Eigentümer der Internetseite, die einige der Flugblätter verbreitete, verfolgt.

Am 4.6.2003 erkannte das Strafgericht Brüssel seine Zuständigkeit an. Der Bf. legte im Juni 2003 Berufung gegen dieses Urteil ein, mit der er die Unzuständigkeit des Gerichts behauptete. Die Staatsanwaltschaft legte ihrerseits Berufung ein und bat das Berufungsgericht ebenfalls die Sache zu verhandeln, ohne den Sachverhalt erneut an den Erstrichter zu verweisen. Das Berufungsgericht wies die Berufung des Bf. zurück und gab der Berufung der Staatsanwaltschaft statt.

Am 13.6.2004 wurde der Bf. in den Rat der Region Brüssel-Hauptstadt sowie in das Parlament der Französischen Gemeinschaft gewählt. Somit war er durch zwei neue Immunitäten geschützt.

Am 18.4.2006 verurteilte das Berufungsgericht Brüssel den Bf. zu einer Strafe von 250 Stunden gemeinnütziger Arbeit, die im Bereich der Integration von Personen mit ausländischer Nationalität zu verrichten war, sowie einer bedingt nachgesehenen Haftstrafe von zehn Monaten. Des Weiteren sprach es die Aussetzung des passiven Wahlrechts für zehn Jahre aus. Das Gericht befand, dass die vorgeworfene Sachlage nicht in die Sphäre seiner Aktivität als Parlamentarier fiel. Das Berufungsgericht kam zu dem Schluss, dass das belgische Gesetz zur Bestrafung gewisser von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit inspirierter Handlungen eine notwendige Maßnahme zum Schutz des guten Rufes oder der Rechte und Freiheiten anderer darstelle, die in einer demokratischen Gesellschaft einen legitimen Eingriff in die Meinungsäußerungsfreiheit begründe. Der Bf. legte vor dem Kassationshof Revision ein, der diesen Antrag zurückwies, da die strafrechtliche Verfolgung bereits vorschriftsmäßig eingeleitet worden war, bevor er Mitglied der beiden Parlamente wurde.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. behauptet eine Verletzung von Art. 10 EMRK (Recht auf freie Meinungsäußerung).

Zur Zulässigkeit der Beschwerde:

Die Regierung wendet ein, die Beschwerde sei gemäß Art. 17 EMRK (Verbot des Missbrauchs der Rechte) für unzulässig zu erklären. Sie bringt vor, dass der Inhalt der durch die Partei veröffentlichten Dokumente unvermeidbar bei den Zuhörern Gefühle von Verachtung, bedingungsloser Zurückweisung und Hass gegenüber Ausländern hervorrufen kann. Die Tatsache, dass der Sachverhalt im Rahmen des Wahlkampfs stattfand, kann nach Ansicht der Regierung nichts an der Unzulässigkeit der Beschwerde ändern.

Dieser Einwand ist untrennbar mit dem Beschwerdepunkt bezüglich Art. 10 EMRK verbunden, vor allem mit der Frage nach der Notwendigkeit in einer demokratischen Gesellschaft. Der GH wird ihn daher im Zuge seiner Prüfung in der Sache behandeln.

Die Beschwerde hinsichtlich der behaupteten Verletzung von Art. 10 EMRK ist weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen Grund unzulässig. Sie muss daher für zulässig erklärt werden (einstimmig).

Hinsichtlich der übrigen vom Bf. behaupteten Verletzungen diverser Konventionsrechte ist die Beschwerde als offensichtlich unbegründet bzw. wegen Nichterschöpfung des innerstaatlichen Instanzenzugs für unzulässig zu erklären (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 10 EMRK:

Das ergangene Urteil stellt einen Eingriff in das Recht des Bf. auf Meinungsäußerungsfreiheit dar. Es ist unbestritten, dass der Eingriff im belgischen Gesetz zur Bestrafung gewisser von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit inspirierter Handlungen vom 30.7.1981 gesetzlich vorgesehen war und einem legitimen Ziel diente, nämlich der Verteidigung der Ordnung sowie dem Schutz der Rechte und des guten Rufes anderer.

Es bleibt zu prüfen, ob der Eingriff mit einem dringenden gesellschaftlichen Bedürfnis einhergegangen ist. Es besteht wenig Raum nach Art. 10 Abs. 2 EMRK für Beschränkungen politischer Aussagen oder von Diskussionen über Fragen von öffentlichem Interesse. Der GH betont, dass die Förderung einer freien politischen Diskussion ein sehr wichtiger Wesenszug einer demokratischen Gesellschaft ist. Er misst der Meinungsäußerungsfreiheit im Kontext einer politischen Diskussion höchste Bedeutung bei, weshalb sehr wichtige Gründe notwendig sind, um Einschränkungen politischer Äußerungen zu rechtfertigen. Allerdings bedeutet die Freiheit der politischen Diskussion nicht, dass sie einen absoluten Charakter besitzt, da Toleranz und gegenseitiger Respekt aller Menschen die Basis einer demokratischen und pluralistischen Gesellschaft sind. Es kann somit in demokratischen Gesellschaften als notwendig erachtet werden, Aussagen, die aus Intoleranz zu Hass aufrufen, zu bestrafen oder zu verbieten, vorausgesetzt, diese Einschränkungen sind verhältnismäßig zum verfolgten Ziel.

Da vor allem für einen vom Volk Gewählten die freie Meinungsäußerung bedeutend ist, da er seine Wählerschaft vertritt, auf ihre Sorgen aufmerksam macht und ihre Interessen verteidigt, fordern Eingriffe in die Meinungsfreiheit von Parlamentariern eine besonders strenge Kontrolle.

Die Parolen der Flugblätter sind unvermeidbar im Stande, Gefühle der Verachtung, Zurückweisung oder Hass gegenüber Fremden bei der Leserschaft hervorzurufen, vor allem bei der unaufgeklärten. Bei der Verurteilung des Bf. hat sich das Berufungsgericht nicht auf das politische Programm der Partei, dessen Präsident der Bf. ist, gestützt, sondern auf die Verteilung von Flugblättern und Zeichnungen im Zuge der Wahlkampagne. Das Berufungsgericht betonte, dass die beschriebenen Dokumente zur Diskriminierung, Rassentrennung oder zum Hass gegen eine Gruppe, Gemeinschaft oder deren Mitglieder aufgrund ihrer Hautfarbe, Abstammung oder nationalen und ethnischen Herkunft aufriefen. Dies erfolgte deutlich, wenn auch manchmal implizit. Der GH erkennt an, dass die Anstiftung zum Hass nicht unbedingt den Aufruf zu einem Akt der Gewalt oder einer anderen strafbaren Handlung erfordert. Verletzungen durch Beleidigungen oder Verleumdung eines Teils der Bevölkerung oder Anstiftungen zu Diskriminierung wie im vorliegenden Fall genügen, damit die Behörden dem Kampf gegen rassistische Reden Vorrang einräumen können gegenüber einer unverantwortlichen Meinungsfreiheit, die die Würde oder die Sicherheit dieser Bevölkerungsgruppen verletzt. Politische Reden, die zum Hass aufgrund religiöser, ethnischer oder kultureller Vorurteile aufrufen, stellen eine Gefahr für den sozialen Frieden und die politische Stabilität demokratischer Staaten dar. Die Eigenschaft des Bf. als Parlamentarier sollte nicht dahingehend verstanden werden, dass sie seine Verantwortlichkeit mindert.

Der GH erinnert, dass es von ungemeiner Wichtigkeit ist, dass Politiker in ihren öffentlichen Reden vermeiden, Aussagen zu verbreiten, die Intoleranz fördern können. Insbesondere sollten Politiker darauf bedacht sein, im Sinne des Schutzes der Demokratie und ihrer Prinzipien zu handeln, da ihr Endziel die Machtausübung ist. Die Anstiftung zum Ausschluss von Ausländern stellt eine grundlegende Verletzung der Personenrechte dar und rechtfertigt somit spezifische Vorsichtsmaßnahmen, auch bei Politikern.

Eine besondere Rolle misst der GH dem verwendeten Hilfsmittel, dem Kontext, in dem die Aussagen getroffen wurden, und deren möglichem Einfluss auf die öffentliche Ordnung bei. Die Verteilung von Flugblättern im Rahmen einer Wahlkampagne zielt darauf ab, eine möglichst große Wählerschaft anzuziehen und richtet sich somit an die gesamte Bevölkerung. In einem Wahlkampf müssen die politischen Parteien zwar eine große Meinungsäußerungsfreiheit nutzen können für den Versuch, ihre Wähler zu überzeugen. Bei rassistischen oder fremdenfeindlichen Reden kann der Kontext den Hass und die Intoleranz jedoch verschärfen, da die Positionen der Kandidaten vor den Wahlen starrer werden und stereotype Aussagen rationale Argumente ersetzen. Somit ist der Einfluss rassistischer und fremdenfeindlicher Aussagen noch schädlicher.

Der GH weist darauf hin, dass der politische Diskurs eines besonderen Schutzes bedarf und politische Parteien das Recht haben, ihre Positionen in der Öffentlichkeit zu verteidigen, auch wenn diese einen Teil der Bevölkerung verletzen, schockieren oder beunruhigen. Sie dürfen Lösungen zu den Problemen der Immigration anpreisen, müssen es aber vermeiden, rassenbedingte Diskriminierung zu befürworten und auf demütigende und erniedrigende Aussagen zurückzugreifen, da ein solches Verhalten riskiert, Reaktionen hervorzurufen, die mit einem ruhigen sozialen Klima unvereinbar sind und das Vertrauen in die demokratischen Institutionen schädigen könnten.

Nach Überprüfung der verbreiteten umstrittenen Texte durch den GH kommt dieser zu dem Schluss, dass die Schlussfolgerungen der innerstaatlichen Gerichte gerechtfertigt waren. Der vom Bf. verwendete Wortschatz stiftet ohne Zweifel zu Diskriminierung und Rassenhass an, was durch den Ablauf des Wahlkampfs nicht verborgen werden kann. In Anbetracht der gesellschaftlich zwingenden Bedürfnisse, die öffentliche Ordnung und die Sicherheit anderer, das heißt der immigrierten Gemeinschaft, zu schützen, ist der Eingriff in die Meinungsäußerungsfreiheit durch die innerstaatlichen Gerichte durch erhebliche und ausreichende Beweggründe gerechtfertigt.

Auch die Art und Höhe der Strafe müssen in Betracht genommen werden, um die Verhältnismäßigkeit des Eingriffs abzuwägen. Der Bf. wurde zu einer Strafe von 250 Stunden gemeinnütziger Arbeit verurteilt, die im Sektor der Integration von Menschen mit ausländischer Nationalität verrichtet werden musste, sowie einer Unwählbarkeit von zehn Jahren. Selbst wenn diese Nichtwählbarkeit aufgrund ihrer Dauer problematisch sein könnte, haben die belgischen Gerichte im vorliegenden Fall das oftmals vom GH wiederholte Prinzip angewandt, welches vorsieht, mit der strafrechtlichen Verfolgung vorsichtig umzugehen, vor allem wenn es andere Mittel gibt, auf die unbegründeten Angriffe und Kritiken des Gegners zu antworten.

Somit war die Einschränkung der Meinungsäußerungsfreiheit notwendig in einer demokratischen Gesellschaft.

Nach Ansicht des GH rechtfertigt der Inhalt der Flugblätter im vorliegenden Fall auch nicht die Anwendung von Art. 17 EMRK. Die Einrede der Regierung ist zurückzuweisen. Es liegt keine Verletzung von Art. 10 EMRK vor (4:3 Stimmen; Sondervotum von Richter Sajó, gefolgt von Richter Zagrebelsky und Richterin Tsotsoria).

Vom GH zitierte Judikatur:

Castells/E v. 23.4.1992, A/236, NL 1992/3, 17; ÖJZ 1992, 803.

Sürek/TR v. 8.7.1999.

Feldek/SK v. 12.7.2001, NL 2001, 149; ÖJZ 2002, 814.

Scharsach und News Verlagsgesellschaft/A v. 13.11.2003, NL 2003, 307; ÖJZ 2004, 512.

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 16.7.2009, Bsw. 15615/07, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2009, 216) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im französischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/09_4/Feret.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

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