JudikaturJustizBsw13201/05

Bsw13201/05 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
18. März 2010

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer I, Beschwerdesache Krumpholz gg. Österreich, Urteil vom 18.3.2010, Bsw. 13201/05.

Spruch

Art. 6 Abs. 1, 6 Abs. 2 EMRK - Beweiswürdigung bei verweigerter Lenkerauskunft.

Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).

Verletzung von Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 7.000,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Am 26.2.2003 wurde das Auto, dessen Halter der Bf. ist, bei einer Radarmessung mit einer Geschwindigkeit von 181 km/h anstelle der erlaubten 130 km/h erfasst. Daraufhin wurde er von der BH Graz-Umgebung aufgefordert, binnen 14 Tagen bekannt zu geben, wer das Fahrzeug zu diesem Zeitpunkt gelenkt hatte. Der Bf. reagierte nicht auf dieses Schreiben.

Am 14.4.2003 verhängte die BH mittels Strafverfügung gemäß § 20 Abs. 2 iVm. § 99 Abs. 3 lit. a StVO wegen Geschwindigkeitsübertretung eine Geldstrafe von € 181,–. Daneben verhängte sie eine weitere Geldstrafe in der gleichen Höhe, weil der Bf. der Aufforderung zur Lenkerauskunft nicht nachgekommen war.

Nachdem der Bf. Einspruch gegen die Strafverfügung erhoben hatte, wurde das Verfahren hinsichtlich der verweigerten Lenkerauskunft eingestellt. Mit Strafbescheid vom 15.10.2003 wurde er wiederum wegen Geschwindigkeitsübertretung zu einer Geldstrafe in der Höhe von € 180,– verurteilt. Die BH ging davon aus, dass er selbst das Fahrzeug gelenkt hatte. Die dagegen erhobene Berufung des Bf. wurde am 18.11.2003 vom UVS Steiermark abgewiesen. Nach Ansicht des UVS müsse die Behörde den Sachverhalt zwar von Amts wegen ermitteln, doch befreie dies den Angeklagten nicht von seiner Mitwirkungspflicht. Die Verweigerung der Lenkerauskunft verstoße gegen die Pflicht des Berufungswerbers, zur Sachverhaltsfeststellung beizutragen. Dieses Verhalten rechtfertige nach dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung die Annahme, dass der Bf. selbst das Fahrzeug gelenkt hätte. Von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung wurde abgesehen.

Die Behandlung der dagegen erhobenen Beschwerden wurde vom VfGH und vom VwGH abgelehnt.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. behauptet eine Verletzung von Art. 6 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren).

I. Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 EMRK

Der Bf. beschwert sich über seine ausschließlich auf der Verweigerung der Lenkerauskunft beruhende Verurteilung wegen Geschwindigkeitsübertretung.

1. Zur Zulässigkeit

Die Beschwerde ist nicht offensichtlich unbegründet. Da sie auch aus keinem anderen Grund unzulässig ist, muss sie für zulässig erklärt werden (einstimmig).

2. In der Sache

Das Recht, zu schweigen und sich nicht selbst belasten zu müssen, stellt einen international anerkannten Grundsatz dar, der zum Kern eines fairen Verfahrens gemäß Art. 6 EMRK zählt.

Aus dem Schweigen eines Angeklagten nachteilige Schlüsse zu ziehen, verstößt für sich nicht gegen Art. 6 EMRK, doch muss die Frage einer möglichen Verletzung im Lichte sämtlicher Umstände des Einzelfalls geprüft werden. Das Ziehen derartiger Schlüsse kann auch in einem System wie dem österreichischen zulässig sein, wo der Grundsatz der freien Beweiswürdigung gilt, vorausgesetzt die Beweise sind so beschaffen, dass die einzige Schlussfolgerung nach normalem Menschenverstand die ist, dass der Angeklagte nichts zu seiner Verteidigung vorzubringen hat.

Das Recht, in einem Strafverfahren als unschuldig zu gelten und von der Anklagebehörde das Tragen der Beweislast zu verlangen, ist nicht absolut. Tatsachen- und Rechtsvermutungen werden in jedem Strafrechtssystem angewendet und widersprechen grundsätzlich nicht der Konvention, solange sie in vernünftigen Grenzenbleiben und die Rechte der Verteidigung gewahrt werden.

In den Fällen O'Halloran und Francis/GB und Lückhoff und Spanner/A stellte der GH fest, dass die Pflicht des Fahrzeughalters, zu offenbaren, wer das Fahrzeug zur Zeit der Begehung eines Verkehrsdelikts gelenkt hatte, nicht gegen das Recht verstieß, zu schweigen und sich nicht selbst belasten zu müssen. Im vorliegenden Fall machten die Behörden keinen Gebrauch von der Möglichkeit, den Bf. gemäß § 103 Abs. 2 KFG wegen der Verweigerung der Lenkerauskunft zu bestrafen. Dieses Verfahren wurde eingestellt. Aus unklaren Gründen entschieden sich die Behörden dazu, den Bf. wegen der Geschwindigkeitsübertretung zu verfolgen. In diesem Zusammenhang ist anzumerken, dass das österreichische Recht keine Vermutung enthält, wonach der Fahrzeughalter als Lenker anzusehen ist, solange er nicht das Gegenteil beweist. Es sieht auch keine Haftung des Fahrzeughalters für mit seinem Fahrzeug begangene Verkehrsdelikte vor.

Zu prüfen ist daher, ob die Verurteilung des Bf. wegen Geschwindigkeitsübertretung Art. 6 Abs. 1 oder Abs. 2 EMRK verletzte.

Die Regierung beruft sich im Wesentlichen darauf, dass der UVS, der die ihm vorliegenden Beweise frei würdigt, Schlüsse aus dem Verhalten des Bf. in einer Situation zog, die eindeutig einer Erklärung bedurfte. Der GH ist von diesem Argument nicht überzeugt. Der einzige dem UVS vorliegende Beweis war die festgestellte Geschwindigkeitsübertretung des Fahrzeugs, dessen Halter der Bf. ist. Es gab keine Hinweise auf die Identität des Lenkers. Überdies lag dem UVS die schriftliche Stellungnahme des Bf. vor, in der er behauptete, das Fahrzeug nicht gelenkt zu haben, zur fraglichen Zeit gar nicht in Österreich gewesen zu sein und Name und Adresse des Lenkers nicht bekanntgeben zu können, weil das Fahrzeug regelmäßig von mehreren Personen benützt würde. In einer solchen Situation war nach Ansicht des GH nicht der einzige vernünftige Schluss jener, dass der Bf. selbst der Lenker gewesen ist. Indem der UVS vom Bf. eine Erklärung verlangte, obwohl die Behörde nicht in der Lage war, einen überzeugenden prima facie-Beweis gegen ihn vorzulegen, verlagerte er die Beweislast von der Anklage auf die Verteidigung.

Überdies stellt der GH fest, dass keine ausreichenden verfahrensrechtlichen Sicherungen vorhanden waren. Nach Ansicht des UVS wäre es Sache des Bf. gewesen, genaue Angaben über seinen Aufenthaltsort zur fraglichen Zeit zu machen und Beweise vorzulegen. Zudem war der UVS nach § 51e VStG nicht zur Durchführung einer mündlichen Verhandlung verpflichtet, solange der Bf. eine solche nicht beantragte. Somit wurde dem Bf. nicht nur die Beweislast, sondern auch die Verantwortung für die Führung des Verfahrens auferlegt. Wenn der UVS Schlüsse aus der Verweigerung der Lenkerauskunft ziehen wollte, hätte er von Amts wegen eine Verhandlung durchführen müssen, um den Bf. zu befragen und einen direkten Eindruck von seiner Glaubwürdigkeit zu bekommen.

Zusammenfassend verletzte das Ziehen von Schlüssen in einer Situation, die nicht eindeutig einer Erklärung des Bf. bedurfte, und ohne dass ausreichende Verfahrensgarantien angewendet wurden, das Recht des Bf. zu schweigen und die Unschuldsvermutung. Es hat daher eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 EMRK stattgefunden (einstimmig).

II. Entschädigung nach Art. 41 EMRK

€ 7.000,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

John Murray/GB v. 8.2.1996, NL 1996, 40; EuGRZ 1996, 587; ÖJZ 1996, 627.

Telfner/A v. 20.3.2001, NL 2001, 57; ÖJZ 2001, 613.

Falk/NL (ZE) v. 19.10.2004.

O'Halloran und Francis/GB v. 29.6.2007 (GK), NL 2007, 150.

Lückhoff und Spanner/A v. 10.1.2008, NL 2008, 8; ÖJZ 2008, 375.

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 18.3.2010, Bsw. 13201/05, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2010, 99) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/10_2/Krumpholz.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rechtssätze
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