JudikaturJustizBsw13079/03

Bsw13079/03 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
16. Juni 2009

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer IV, Beschwerdesache Ruotsalainen gegen Finnland, Urteil vom 16.6.2009, Bsw. 13079/03.

Spruch

Art. 4 7. Prot. EMRK - Strafrechtlicher Charakter einer Gebührennachzahlung.

Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich der behaupteten Verletzung von Art. 4 7. Prot. EMRK (einstimmig).

Unzulässigkeit hinsichtlich der behaupteten Verletzung von Art. 6 EMRK (einstimmig).

Verletzung von Art. 4 7. Prot. EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 1.500,- für immateriellen Schaden, € 8.000,- für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Bei einer Verkehrskontrolle wurde am 17.1.2001 im Tank des Lieferwagens des Bf. Heizöl entdeckt, das geringer besteuert ist als Diesel-Kraftstoff.

Am 26.2.2001 wurde mittels Strafverfügung wegen des Vergehens der Abgabenhinterziehung eine Geldbuße in der Höhe von FIM 720,– (€ 121,–) gegen den Bf. verhängt. Da der Bf. keinen Einspruch erhob, wurde die Strafverfügung am 6.3.2001 rechtskräftig.

In einem gesonderten Verfahren wurde dem Bf. durch die Fahrzeugverwaltung eine Gebührennachzahlung in der Höhe von FIM 90.000,– (€ 15.137,–) auferlegt, weil er seinen Lieferwagen nicht mit Diesel, sondern mit geringer besteuertem Treibstoff betrieben hatte, ohne dies der Fahrzeugverwaltung oder den Zollbehörden gemeldet zu haben (Anm.: Nach dem Treibstoffgebührengesetz in der bis Ende 2003 geltenden Fassung war eine Gebühr zu entrichten, wenn ein Fahrzeug statt mit Diesel mit geringer besteuertem Treibstoff betrieben wurde, was der Fahrzeugbehörde zu melden war. Für jeden Tag, an dem der günstiger besteuerte Treibstoff verwendet wurde, war ein fixer Betrag zu entrichten, der sich bei einem Lieferwagen auf FIM 1.500,– (€ 252,28) belief. Wurde eine solche Verwendung ohne vorangegangene Meldung entdeckt, wurde eine Gebühr für 20 Tage bzw. für die etwaige kürzere Dauer der Verwendung des Fahrzeugs in Finnland eingehoben, wobei der dreifache Tagessatz verrechnet wurde.).

Der Bf. erhob Berufung und beantragte daneben eine Herabsetzung der nachzuzahlenden Gebühren. Der nationale Steuerausschuss wies den Antrag auf Herabsetzung der Gebühren am 10.10.2001 zurück. Gegen diese Entscheidung stand kein Rechtsmittel zur Verfügung. Die Berufung gegen die Verhängung der Gebührennachzahlung wurde vom Verwaltungsgericht Helsinki am 28.8.2002 abgewiesen. Ein weiteres Rechtsmittel an das Oberste Verwaltungsgericht wurde nicht zugelassen.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. behauptet eine Verletzung von Art. 4 7. Prot. EMRK (Doppelbestrafungsverbot) und von Art. 6 Abs. 1 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren).

Zur Zulässigkeit der Beschwerde:

Was die behauptete Verletzung von Art. 4 7. Prot. EMRK betrifft, ist die Beschwerde weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen Grund unzulässig. Sie muss daher für zulässig erklärt werden (einstimmig).

Zur Behauptung des Bf., der Verstoß gegen das Prinzip des ne bis in idem verletze auch Art. 6 EMRK, stellt der GH fest, dass dieser Grundsatz ausschließlich in Art. 4 7. Prot. EMRK verankert ist. Dieser Teil der Beschwerde ist daher ratione materiae unvereinbar mit der Konvention und muss als unzulässig zurückgewiesen werden (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 4 7. Prot. EMRK:

Der Bf. bringt vor, zweimal wegen derselben strafbaren Handlung bestraft worden zu sein.

a) Zum strafrechtlichen Charakter der Sanktionen:

Art. 4 7. Prot. EMRK zielt darauf ab, die Wiederholung eines Strafverfahrens zu verhindern, das durch eine rechtskräftige Entscheidung abgeschlossen wurde. Im vorliegenden Fall wurden gegen den Bf. zwei Maßnahmen in zwei getrennten Verfahren verhängt.

Nach der ständigen Rechtsprechung des GH sind bei der Entscheidung darüber, ob eine „strafrechtliche Anklage" vorliegt oder nicht, die drei im Fall Engel/NL entwickelten Kriterien heranzuziehen: die rechtliche Klassifikation der Straftat im innerstaatlichen Recht, die Art der Straftat und schließlich der Schweregrad der drohenden Strafe. Das zweite und das dritte Kriterium müssen nicht unbedingt kumulativ vorliegen. Es reicht aus, wenn die Straftat ihrer Art nach als strafrechtlich anzusehen ist oder wenn sie mit einer Sanktion bedroht ist, die ihrer Art oder Schwere nach in den allgemeinen strafrechtlichen Bereich fällt. Ein kumulativer Ansatz ist jedoch nicht ausgeschlossen, wenn die gesonderte Analyse jedes dieser Kriterien für sich keine eindeutige Schlussfolgerung erlaubt.

Dem Bf. wurde zunächst mittels Strafverfügung eine Geldbuße auferlegt. Dieses Verfahren war nach der rechtlichen Klassifizierung im finnischen Recht „strafrechtlich". Auch im Sinne von Art. 4 7. Prot. EMRK war es „strafrechtlich". Der Bf. wurde somit „nach dem Gesetz und dem Strafverfahrensrecht eines Staates rechtskräftig verurteilt". Da der Bf. kein Rechtsmittel erhob, wurde die Strafverfügung rechtskräftig.

In weiterer Folge wurde dem Bf. in einem Verwaltungsverfahren eine Treibstoffgebührennachzahlung auferlegt. Offensichtlich wurde dies im finnischen Recht nicht als strafrechtlich klassifiziert, sondern als Teil des Steuersystems. Dies ist jedoch nicht entscheidend, umfasst doch der im finnischen Recht als „verwaltungsrechtlich" definierte Bereich auch Delikte, die einen strafrechtlichen Charakter aufweisen, aber zu belanglos sind, um sie dem Straf- und Strafprozessrecht zu unterstellen.

Das zweite Kriterium – die Art der Straftat – ist das wichtigere. Vom Argument der Regierung, die Gebührennachzahlung habe auf einen finanziellen Schadenersatz abgezielt, ist der GH nicht überzeugt. Es mag sein, dass die verhängte Treibstoffgebühr dem verursachten Schaden, nämlich dem Entgang von Steuereinnahmen, entsprach. Die eingehobene Gebühr wurde allerdings verdreifacht. Dies muss als Bestrafung zur Abschreckung neuerlicher Übertretungen angesehen werden, was als charakteristische Eigenschaft strafrechtlicher Sanktionen anerkannt ist. Die Treibstoffgebührennachzahlung wurde daher aufgrund einer Norm verhängt, die nicht nur auf eine Kompensation abzielte, sondern auch auf Abschreckung und Bestrafung. Dies begründet die strafrechtliche Natur der Straftat.

Die Verhängung der Treibstoffgebührennachzahlung fällt daher in den Bereich des Strafverfahrens iSv. Art. 4 7. Prot. EMRK.

b) Beruhte die zweite Sanktion auf denselben Tatsachen?

Nach der vom GH im Fall Sergey Zolotukhin/RUS vertretenen Ansicht verbietet Art. 4 7. Prot. EMRK die Verfolgung oder Anklage einer zweiten „strafbaren Handlung", sofern sie auf identischen Tatsachen oder auf Tatsachen beruht, die im Wesentlichen dieselben sind.

Am 26.2.2001 wurde eine Strafverfügung gegen den Bf. erlassen, weil er sein Fahrzeug nicht mit Diesel, sondern mit geringer besteuertem Treibstoff betankt hatte, ohne die deswegen fällige Gebühr zu entrichten. Im folgenden Verwaltungsverfahren wurde ihm eine Gebührennachzahlung auferlegt, weil er seinen Lieferwagen im Jahr 2001 mit geringer besteuertem Kraftstoff anstelle von Diesel betrieben hatte. Aufgrund seines Versäumnisses, dies der Behörde vorab zu melden, wurde die Gebühr verdreifacht.

Da somit dasselbe Verhalten desselben Beschuldigten während desselben zeitlichen Rahmens betroffen ist, muss sich der GH vergewissern, ob die Tatsachen der strafbaren Handlung, wegen der dem Bf. eine Geldbuße auferlegt worden war, und jene der strafbaren Handlung, wegen der eine Gebührennachzahlung verhängt wurde, identisch oder im Wesentlichen dieselben waren.

Die Strafverfügung wurde von der Polizei verhängt, weil der Bf. „betrügerisch" gehandelt hatte und deswegen eine Steuer nicht eingehoben wurde. Im folgenden Verwaltungsverfahren wurde die nachzuzahlende Gebühr verdreifacht, weil der Bf. die Verwendung geringer besteuerten Treibstoffs nicht vorab gemeldet hatte. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass sich sowohl die Strafverfügung als auch die Gebührennachzahlung auf die Tatsache der Verwendung geringer besteuerten Kraftstoffs ohne Entrichtung der dafür fälligen Steuer bzw. ohne Meldung an die Behörde bezogen. Die Tatsachen der beiden strafbaren Handlungen müssen daher als im Wesentlichen dieselben iSv. Art. 4 7. Prot. EMRK angesehen werden. Wie der GH in Sergey Zolotukhin/RUS festgestellt hat, dienen die Tatsachen der beiden strafbaren Handlungen als einziger Ausgangspunkt des Vergleichs.

Diese Überlegungen sind ausreichend für die Schlussfolgerung, dass eine Verletzung von Art. 4 7. Prot. EMRK stattgefunden hat (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK:

€ 1.500,– für immateriellen Schaden, € 8.000,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Engel u.a./NL v. 8.6.1976, A/22; EuGRZ 1976, 221.

Ezeh und Connors/GB v. 9.10.2003 (GK); NL 2003, 260.

Jussila/FIN v. 23.11.2006 (GK); NL 2006, 303.

Sergey Zolotukhin/RUS v. 10.2.2009 (GK); NL 2009, 37.

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 16.6.2009, Bsw. 13079/03, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2009, 165) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/09_3/Ruotsalainen.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.