JudikaturJustizBsw12686/03

Bsw12686/03 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
20. März 2009

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Große Kammer, Beschwerdesache Gorou gegen Griechenland (Nr. 2), Urteil vom 20.3.2009, Bsw. 12686/03.

Spruch

Art. 6 Abs. 1 EMRK - Begründungspflicht des Staatsanwalts.

Zurückweisung der Einrede der Regierung hinsichtlich des zivilrechtlichen Charakters des Verfahrens (einstimmig).

Zurückweisung der Einrede der Regierung hinsichtlich des Charakters des Antrags an den Staatsanwalt (11:6 Stimmen).

Keine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK hinsichtlich der Fairness des Verfahrens (13:4 Stimmen).

Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK hinsichtlich der Dauer des Verfahrens (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 4.000,– für immateriellen Schaden, € 2.300,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Die Bf. ist Beamtin des griechischen Bildungsministeriums. Am 2.6.1998 erstattete sie Anzeige gegen ihren unmittelbaren Vorgesetzten wegen übler Nachrede und Meineid und beantragte, sich dem Verfahren als Privatbeteiligte anschließen zu dürfen. Sie behauptete, ihr Vorgesetzter hätte im Zusammenhang mit einem gegen sie eingeleiteten Verwaltungsverfahren behauptet, sie würde die Arbeitszeiten missachten und mit ihren Kollegen nicht zurechtkommen.

In der Verhandlung vor dem Strafgericht Athen am 26.9.2001 bekräftigte die Bf. ihren Antrag auf Teilnahme am Verfahren als Privatbeteiligte und machte Schadenersatz in der Höhe von GRD 1.000,– (ca. € 3,–) geltend. Am selben Tag sprach das Gericht den Angeklagten frei, da es die von der Bf. erhobenen Vorwürfe für unbegründet hielt. Das Gericht war der Ansicht, dass die verletzenden Behauptungen der Wahrheit entsprochen hätten und es nicht die Absicht des Angeklagten gewesen wäre, die Bf. zu verleumden oder zu beleidigen. Das Urteil wurde am 5.8.2002 ausgefertigt und in das Register des Gerichts eingetragen.

Am 24.9.2002 ersuchte die Bf. den Staatsanwalt beim Kassationsgericht, den Freispruch mit Nichtigkeitsbeschwerde zu bekämpfen. (Anm.: Nach § 506 der Strafprozessordnung kann eine Privatperson nur dann eine Nichtigkeitsbeschwerde gegen einen Freispruch erheben, wenn ihr die Zahlung von Schadenersatz oder Verfahrenskosten auferlegt wurde. Der Staatsanwalt ist zur Erhebung einer Nichtigkeitsbeschwerde berechtigt, wenn der Freispruch auf der Fehlinterpretation einer Bestimmung des materiellen Strafrechts beruht.)

Der Staatsanwalt retournierte am 27.9.2002 den Brief der Bf. mit folgendem handgeschriebenen Vermerk auf ihrem Ersuchen: „Es besteht kein rechtlicher oder wohlbegründeter Anlass für ein Rechtsmittel an das Kassationsgericht."

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. behauptet eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK bezüglich der Fairness des Verfahrens:

Die Bf. beschwert sich über das Fehlen einer Begründung für die Abweisung ihres Antrags auf Erhebung einer Nichtigkeitsbeschwerde.

1. Zur Anwendbarkeit von Art. 6 Abs. 1 EMRK:

Die Regierung wendet ein, Art. 6 Abs. 1 EMRK sei nicht anwendbar, weil es der Bf. nicht um ihre zivilrechtlichen Ansprüche, sondern nur um die Verurteilung ihres Vorgesetzten gegangen sei. Außerdem könne der Antrag einer privatbeteiligten Partei auf Erhebung einer Nichtigkeitsbeschwerde nicht als Rechtsmittel angesehen werden.

a) Zum zivilrechtlichen Charakter des Verfahrens:

Nach der Konvention kann für sich alleine kein Recht geltend gemacht werden, dass eine dritte Person strafrechtlich verfolgt oder verurteilt wird. Um in den Anwendungsbereich der EMRK zu fallen, muss ein solches Recht untrennbar mit der Ausübung eines innerstaatlich gewährten Rechts des Opfers verbunden sein, ein zivilrechtliches Verfahren anzustrengen, selbst wenn dieses nur der Durchsetzung einer symbolischen Wiedergutmachung oder dem Schutz eines zivilrechtlichen Anspruchs wie dem Recht auf den guten Ruf dient.

Im vorliegenden Fall beantragte die Bf., sich dem eine Anklage wegen Meineid und übler Nachrede betreffenden Strafverfahren als Privatbeteiligte anschließen zu dürfen, und machte eine Summe von rund € 3,– geltend. Art. 6 Abs. 1 EMRK ist daher in erster Linie deswegen anwendbar, weil das Verfahren das Recht auf den guten Ruf betraf. Außerdem betraf das Verfahren wegen des von der Bf. als Privatbeteiligter geltend gemachten – wenn auch nur symbolischen – Betrags einen wirtschaftlichen Aspekt.

Diese Einrede der Regierung ist daher zurückzuweisen (einstimmig).

b) Charakter des Antrags an den Staatsanwalt:

Wie der GH feststellt, erfordert Art. 6 Abs. 1 EMRK um anwendbar zu sein nicht unbedingt das Bestehen eines rechtlich formal anerkannten Rechtsmittels. Die Bestimmung ist unter ihrem zivilrechtlichen Aspekt anwendbar, wenn eine Streitigkeit (dispute) über ein Recht vorliegt, von dem mit vertretbaren Gründen behauptet werden kann, dass es im innerstaatlichen Recht anerkannt ist.

Der GH hat den zivilrechtlichen Charakter des Verfahrens im vorliegenden Fall bereits anerkannt. Zu prüfen ist daher, ob das Element der Streitigkeit noch bestand, als die Bf. ihren Antrag an den Staatsanwalt beim Kassationsgericht stellte.

Die Besonderheit des vorliegenden Falls besteht darin, dass sich die Möglichkeit der Erhebung einer Nichtigkeitsbeschwerde über Vermittlung des Staatsanwalts beim Kassationsgericht nicht aus der Gesetzgebung ableitet, sondern aus einer ständigen gerichtlichen Praxis. Diese besteht in der Anerkennung der Möglichkeit einer privatbeteiligten Partei, die Erhebung einer Nichtigkeitsbeschwerde durch den Staatsanwalt zu beantragen. Überdies entspricht es der Gewohnheit des Staatsanwalts, solche Anträge – wenn auch nur summarisch – zu beantworten.

Angesichts dieser Besonderheit und einer gewissen Zweideutigkeit der rechtlichen Natur des Antrags der Bf. erscheint es dem GH angemessener, dessen tatsächliche Auswirkungen im Kontext des Verfahrens als ganzes zu beurteilen. Er wird dabei versuchen zu klären, ob ihre Initiative direkt im Zusammenhang mit der ursprünglichen Streitigkeit stand.

Der Wirklichkeit der innerstaatlichen Rechtsordnung wird eher entsprochen, wenn die einschlägige Praxis berücksichtigt und anerkannt wird, dass der Antrag der Bf. an den Staatsanwalt einen logischen Teil ihrer Anfechtung des Urteils bildete, mit dem ihr Anspruch auf Schadenersatz als Privatbeteiligte abgewiesen worden war. Ihr Antrag verfolgte demnach das gleiche Ziel wie ihr vorangegangener Antrag, sich dem Verfahren als Privatbeteiligte anschließen zu dürfen. Hätte der Staatsanwalt eine Nichtigkeitsbeschwerde erhoben, wäre der Antrag der Bf. untrennbar mit dem folgenden Verfahren verbunden gewesen. Die Bf. wäre in diesem Fall vom Kassationsgericht als Verfahrenspartei geladen worden.

Es wäre daher gekünstelt zu leugnen, dass der Antrag der Bf. an den Staatsanwalt aus einer wirklichen Streitigkeit erwuchs, da dieser Bestandteil des Verfahrens war, dem sich die Bf. zur Geltendmachung von Schadenersatz angeschlossen hatte. Da sich der Antrag somit auf eine Streitigkeit über einen zivilrechtlichen Anspruch bezog, ist auch diese Einrede der Regierung zurückzuweisen (11:6 Stimmen; Sondervotum der Richterinnen und Richter Zagrebelsky, Hajiyev, Jaeger, Björgvinnson, Villiger und Berro-Lefèvre).

2. In der Sache selbst:

Art. 6 Abs. 1 EMRK verpflichtet die Gerichte, ihre Entscheidungen zu begründen, wobei der Umfang dieser Verpflichtung von der Art der Entscheidung abhängt.

Zum vorliegenden Fall ist festzustellen, dass eine privatbeteiligte Partei im Fall eines Freispruchs grundsätzlich nicht berechtigt ist, direkt eine Nichtigkeitsbeschwerde zu erheben oder beim Staatsanwalt Abhilfe zu suchen. Der GH hat jedoch anerkannt, dass die ständige gerichtliche Praxis nicht missachtet werden dürfe und dass Art. 6 Abs. 1 EMRK angesichts der besonderen Merkmale des Antrags der Bf. an den Staatsanwalt beim Kassationsgericht anwendbar ist. Dieselbe Praxis sollte bei der Beurteilung des Umfangs der vom Staatsanwalt in seiner Antwort zu gebenden Begründung Berücksichtigung finden.

Der Staatsanwalt antwortet gewöhnlich, wenn auch in summarischer Form, auf Anträge privatbeteiligter Parteien auf Erhebung einer Nichtigkeitsbeschwerde. In der Praxis lenkt die privatbeteiligte Partei die Aufmerksamkeit des Staatsanwalts auf bestimmte Umstände des Falls, während es diesem freisteht, nach Abwägung der vorgebrachten Argumente eine Entscheidung zu treffen.

Eine „positive" Entscheidung des Staatsanwalts richtet sich nicht an die Partei, sondern führt zu einer Nichtigkeitsbeschwerde des Staatsanwalts selbst. Eine „negative" Entscheidung bedeutet, dass es der Staatsanwalt ablehnt, eine solche Beschwerde zu erheben. Entgegen der Behauptungen der Bf. erwächst aus dem innerstaatlichen Recht keine besondere Verpflichtung zur Begründung dieser Entscheidung, weil die Antwort des Staatsanwalts auf den Antrag der Bf. nicht in Form eines Beschlusses im Sinne der Strafprozessordnung erging.

Der GH hat in früheren Entscheidungen anerkannt, dass ein Rechtsmittelgericht in einem Verfahren über die Zulassung einer Nichtigkeitsbeschwerde keine detaillierte Begründung abgeben muss, wenn es einfach eine spezifische Norm anwendet, um diese wegen mangelnder Aussicht auf Erfolg zurückzuweisen. Der gleiche Grundsatz kann im Fall eines Staatsanwalts beim Kassationsgericht anwendbar sein, der von einer privatbeteiligten Partei aufgefordert wird, in seinem eigenen Namen eine Nichtigkeitsbeschwerde einzubringen.

Die handgeschriebene Anmerkung auf dem Antrag der Bf. informiert über die Ermessensentscheidung des Staatsanwalts. Aus dieser Perspektive betrachtet und unter Berücksichtigung der bestehenden gerichtlichen Praxis ist der Staatsanwalt nur verpflichtet, der privatbeteiligten Partei zu antworten, nicht aber, diese Antwort zu rechtfertigen. Eine detailliertere Begründung zu verlangen würde dem Staatsanwalt beim Kassationsgericht eine zusätzliche Last aufbürden, die ihm durch den Charakter des Antrags der privatbeteiligten Partei auf Erhebung einer Nichtigkeitsbeschwerde gegen einen Freispruch nicht auferlegt wird.

Nach Ansicht des GH hat der Staatsanwalt seine Entscheidung ausreichend begründet, weshalb keine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK vorliegt (13:4 Stimmen; Sondervoten von Richter Casadevall und Richterin Kalaydjieva, Sondervotum von Richter Malinverni, gefolgt von Richter Sajó).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK bezüglich der Dauer des Verfahrens:

Die Große Kammer stellt unter Verweis auf die Begründung des Urteils der Kammer vom 14.6.2007 eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK hinsichtlich der Dauer des Verfahrens fest (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK:

€ 4.000,– für immateriellen Schaden, € 2.300,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Perez/F v. 12.2.2004 (GK), NL 2004, 23.

Vilho Eskelinen u.a./FIN v. 19.4.2007 (GK), NL 2007, 94; ÖJZ 2008, 35.

Anm.: Die I. Kammer hatte in ihrem Urteil vom 14.6.2007 einstimmig eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK hinsichtlich der Dauer des Verfahrens festgestellt und eine Verletzung dieser Bestimmung hinsichtlich der Fairness des Verfahrens mit 4:3 Stimmen verneint.

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 20.3.2009, Bsw. 12686/03, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2009, 89) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/09_2/Gorou.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rechtssätze
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