JudikaturJustiz8Ob8/23v

8Ob8/23v – OGH Entscheidung

Entscheidung
23. Februar 2023

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Hon. Prof. Dr. Kuras als Vorsitzenden sowie die Hofrätinnen Dr. Tarmann-Prentner und Mag. Korn und die Hofräte Dr. Stefula und Dr. Thunhart in der Pflegschaftssache der mj P*, geboren * 2018, wegen Obsorge, über den außerordentlichen Revisionsrekurs der Kindesmutter V*, vertreten durch die Weh Rechtsanwalt GmbH in Bregenz, gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Graz vom 23. Dezember 2022, GZ 1 R 288/22p, 1 R 289/22k 103, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Der außerordentliche Revisionsrekurs wird zurückgewiesen.

Text

Begründung:

[1] Die Minderjährige ist sowohl österreichische als auch amerikanische Staatsbürgerin und lebte mit ihren Eltern in Kalifornien. Im Sommer 2021 entschloss sich die Kindesmutter während eines Aufenthalts in Österreich, mit der Minderjährigen gegen den Willen des Kindesvaters dauerhaft in Österreich zu bleiben. Aufgrund einer rechtskräftigen Rückführungsentscheidung nach dem HKÜ befindet sich die Minderjährige seit 10. 6. 2022 wieder in den USA und hat dort ihren gewöhnlichen Aufenthalt. Beim Superior Court Los Angeles ist ein Pflegschaftsverfahren anhängig, in welchem dem Kindesvater am 28. 4. 2022 vorläufig die alleinige Obsorge übertragen wurde. Diese Entscheidung wurde mit rechtskräftigem Beschluss des Erstgerichts vom 9. 5. 2022 anerkannt.

[2] Mit den angefochtenen Beschlüssen wies das Erstgericht den Antrag der Kindesmutter, ihr die (vorläufige) alleinige Obsorge zu übertragen, zurück und ihren Antrag auf Bewilligung der Verfahrenshilfe für das Pflegschaftsverfahren ab. Da die Minderjährige ihren gewöhnlichen Aufenthalt in den USA habe, keine Zuständigkeit nach der Brüssel IIb-VO gegeben sei und ihre Interessen durch das in den USA anhängige Pflegschaftsverfahren ausreichend gewahrt würden, sei nach § 110 Abs 2 JN von der Einleitung eines Pflegschaftsverfahrens in Österreich abzusehen. Dementsprechend bestehe auch kein Anspruch auf Verfahrenshilfe.

[3] Das Rekursgericht bestätigte diese Entscheidungen, wobei es jene Rekursanträge, die sich gegen die rechtskräftige Rückführungsentscheidung nach dem HKÜ richteten, zurückwies.

Rechtliche Beurteilung

[4] Der dagegen erhobene außerordentliche Revisionsrekurs der Kindesmutter ist unzulässig.

[5] 1. Die Revisionsrekurswerberin macht geltend, dass sie beim Verfassungsgerichtshof einen Parteiantrag auf Normenkontrolle gestellt habe, sodass das Rekursgericht nicht in der Sache entscheiden hätte dürfen. Tatsächlich hat der Verfassungsgerichtshof das Erstgericht am 30. 11. 2022 davon verständigt, dass die Revisionsrekurswerberin einen auf Art 140a iVm 140 Abs 1 Z 1 lit b B VG gestützten Antrag gestellt habe, Art 1 und 16 HKÜ wegen Verstoßes gegen Art 6 und 8 EMRK als verfassungswidrig aufzuheben.

[6] 2. Die Vorinstanzen haben die Zurückweisung des Obsorgeantrags der Kindesmutter aber nicht auf das HKÜ, sondern auf die Brüssel IIb-VO und § 110 Abs 2 JN gestützt, sodass der beim Verfassungsgerichtshof gestellte Normprüfungsantrag für die Entscheidung über den Obsorgeantrag der Mutter nicht präjudiziell ist. § 62 Abs 6 VfGG sieht ausdrücklich vor, dass in dem beim Rechtsmittelgericht anhängigen Verfahren solche Entscheidungen getroffen werden dürfen, die durch das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofs nicht beeinflusst werden können.

[7] 3. Es wird die Auffassung vertreten, dass das Rechtsmittelgericht mit der Entscheidung in der Sache zuwarten müsse, wenn eine abweichende rechtliche Beurteilung durch den Obersten Gerichtshof möglich ist ( Grabenwarter / Musger , Praxisfragen der Gesetzesbeschwerde im Zivilverfahren, ÖJZ 2015/75, 558; Musger in Fasching / Konecny 3 § 528b ZPO Rz 48; Gitschthaler in Gitschthaler / Höllwerth 2 § 80a AußStrG Rz 18). Damit wäre für die Revisionsrekurswerberin aber nichts gewonnen. Ein solcher Verstoß gegen die Wartepflicht des § 62a Abs 6 VfGG bliebe nämlich folgenlos, wenn das anhängige Normprüfungsverfahren auch nach Ansicht des Obersten Gerichtshofs nicht präjudiziell ist ( Musger in Fasching / Konecny 3 § 528b ZPO Rz 49).

[8] 4. Soweit die Revisionsrekurswerberin bemängelt, dass das Erstgericht keine Feststellungen zum gewöhnlichen Aufenthalt der Minderjährigen im Zeitpunkt der Rückführungsentscheidungen nach dem HKÜ getroffen habe, ist ihr auch hier entgegenzuhalten, dass die Entscheidungen über den Rückführungsantrag des Kindesvaters rechtskräftig und hier nicht verfahrensgegenständlich sind. Entscheidungswesentlich ist vielmehr, dass die Minderjährige nach den Feststellungen des Erstgerichts nunmehr in den USA lebt.

[9] 5. Angesichts des gewöhnlichen Aufenthalts der Minderjährigen im Ausland konnte das Erstgericht auch nach § 110 Abs 2 JN von der Einleitung des Pflegschaftsverfahrens absehen, soweit und solange durch die im Ausland getroffenen oder zu erwartenden Maßnahmen die Rechte und Interessen der Minderjährigen ausreichend gewahrt werden. Die Entscheidung, ob von der Einleitung eines inländischen Verfahrens abgesehen wird oder nicht, liegt im Ermessen des Gerichts, das sich am Wohl des Kindes orientieren muss (RIS Justiz RS0099363). Ob die Voraussetzungen des § 110 Abs 2 JN vorliegen, kann daher nur anhand der Umstände des konkreten Einzelfalls beurteilt werden, sodass der Entscheidung keine darüber hinausgehende Bedeutung zukommt.

[10] 6. Der gegen die Zurückweisung ihres Obsorgeantrags gerichtete Revisionsrekurs war daher mangels Vorliegens einer Rechtsfrage iSd § 62 Abs 1 AußStrG zurückzuweisen. Soweit die Revisionsrekurswerberin die Abweisung ihres Verfahrenshilfeantrags bekämpft, ist das Rechtsmittel nach § 62 Abs 2 Z 2 AußStrG jedenfalls unzulässig.