JudikaturJustiz7Ob598/93

7Ob598/93 – OGH Entscheidung

Entscheidung
02. Februar 1994

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Warta als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Niederreiter, Dr.Schalich, Dr.Tittel und Dr.I.Huber als weitere Richter in der Pflegschaftssache der mj. Kinder Eva B*****, und Lukas B*****, Neuseeland, infolge Revisionsrekurses des Vaters Dipl.Ing. Eugen B*****, Neuseeland, vertreten durch Dr.Ralph Forcher, Rechtsanwalt in Graz, gegen den Beschluß des Landesgerichtes für ZRS Graz als Rekursgericht vom 24. August 1993, GZ 2 R 391/93-41, womit der Beschluß des Bezirksgerichtes für ZRS Graz vom 5.Juli 1993, GZ 13 P 47/93-37, teilweise aufgehoben wurde, den

Beschluß

gefaßt:

Spruch

Dem Rekurs wird Folge gegeben.

Der angefochtene Beschluß wird dahin abgeändert, daß der Beschluß des Erstgerichtes - dessen Punkt 1. als unangefochten aufrecht ist - zur Gänze wiederhergestellt wird.

Text

Begründung:

Eva und Lukas B***** sind die ehelichen Kinder der Christine und des Dipl.Ing.Eugen B*****. Die Familie übersiedelte im Jahr 1990 nach R*****, in Neuseeland. Die Eltern und Eva sind österreichische Staatsbürger, der bereits in Neuseeland geborene Lukas hat sowohl die österreichische als auch die neuseeländische Staatsbürgerschaft.

Am 23.4.1993 kehrte die Mutter mit den beiden Kindern ohne Wissen und ohne Einverständnis des Vaters nach Österreich zurück. Der Vater brachte daraufhin beim District Court A***** den Antrag auf Zuerkennung des Sorgerechtes an ihn ein. Er erwirkte am 24.4.1993 eine Verfügung des neuseeländischen Gerichtes, wonach die Kinder nicht ohne vorherige Zustimmung des Gerichtes aus dem Zuständigkeitsbereich der Gerichtshoheit verbracht werden dürfen. In einer weiteren Entscheidung dieses Gerichtes wurde vorläufig verfügt, daß die Kinder bis zu einer weiteren Entscheidung des Gerichtes der Obhut des Vaters unterstehen. Es wurde ausgesprochen, daß diese Anordnung innerhalb von sieben Tagen nach der Rückkehr der Mutter und der Kinder nach Neuseeland zu überprüfen sein wird. Die Mutter beantragte die Aufhebung dieser Verfügungen.

Im Mai 1993 kam der Vater nach Österreich nach. Am 9.6.1993 reiste der Vater seinerseits mit den Kindern ohne Wissen und Willen der Mutter nach Neuseeland. Inzwischen hält sich auch die Mutter wieder in Neuseeland auf. Das Pflegschaftsverfahren wird derzeit vor dem District Court A***** fortgeführt.

Während des Aufenthaltes der Kinder in Österreich stellten sowohl die Mutter als auch der Vater Anträge betreffend die Übertragung der Obsorge. Die Mutter begehrte, ihr während aufrechter Ehe die Pflege und Obsorge für die beiden Kinder einzuräumen. Der Vater begehrte, die Pflegeverhältnisse bei der Mutter zu überprüfen, ihr die Kinder allenfalls abzunehmen und auf einem Pflegeplatz unterzubringen. Er beantragte weiters die Erlassung einer einstweiligen Verfügung dahin, der Mutter aufzutragen, die Kinder nach Neuseeland zurückzubringen oder hilfsweise, der Mutter die Obsorge zu entziehen und ihm die Obsorge bis zu einer endgültigen Entscheidung zu übertragen. Schließlich begehrte er auch, ihm (endgültig) die Obsorge zuzuerkennen.

Das Erstgericht beschloß, von einer Entscheidung über diese Anträge abzusehen, weil durch die in Neuseeland vom District Court A***** getroffenen und noch zu treffenden Maßnahmen die Rechte und Interessen der Minderjährigen ausreichend gewahrt seien (§ 110 Abs 2 JN).

Das Erstgericht stellte noch fest, daß die mj. Eva in A***** seit 1991 die Schule und der mj. Lukas den Kindergarten besuchen. Entgegen der Behauptungen der Mutter liegt beim Vater weder eine Alkoholerkrankung noch ein relevanter, ständiger Alkoholmißbrauch vor. Es ist jedoch nicht auszuschließen, daß der Vater Alkohol als Entspannungsmittel einsetzte und versuchte, damit seine Probleme zu bekämpfen. Es kann nicht festgestellt werden, daß der Vater - wie die Mutter behauptete - die mj.Eva sexuell mißbraucht oder belästigt und die Mutter unterdrückt oder genötigt hätte. Die Kinder sind weder im Fall der Pflege durch die Mutter noch durch den Vater gefährdet. Eva ist durch den Loyalitätskonflikt zu ihren Eltern überfordert. Ende Mai 1993 war sie eher im Einflußbereich der Mutter und fühlte sich in der Nähe der Mutter etwas sicherer. Lukas hat die Situation intellektuell nicht erfaßt und war daher emotional weniger in einem Zwiespalt als seine Schwester.

Das Erstgericht vertrat die Ansicht, daß die bereits getroffenen und noch zu treffenden pflegschaftsgerichtlichen Maßnahmen des neuseeländischen Gerichtes ausreichten, um die Interessen der beiden Kinder zu wahren. Da sich die Vorwürfe der Mutter gegen den Vater nicht verifiziert hätten, sei eine Gefährdung des Kindeswohls nicht anzunehmen, wenn die Pflegschaftsentscheidungen dem neuseeländischen Gericht überlassen würden. Die Wahrung des Kindeswohles sei auch im neuseeländischen Rechtsbereich die oberste Richtschnur.

Das Gericht zweiter Instanz gab dem Rekurs der Mutter, der gegen die Abweisung ihres Obsorgeantrages gerichtet war, Folge, hob den Beschluß insoweit auf und trug dem Erstgericht die neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung auf. Es bestehe zwar nach den zu billigenden Feststellungen des Erstgerichtes kein Anlaß, in Österreich dringende vorläufige Maßnahmen im Sinn des § 176 ABGB zu setzen. Es sei jedoch eine Entscheidung des österreichischen Pflegschaftsgerichtes, das aufgrund der österreichischen Staatsbürgerschaft der Kinder gemäß § 110 Abs 1 Z 1 JN zuständig sei, über den Antrag der Mutter auf Zuteilung der Obsorge nach § 177 Abs 2 ABGB unentbehrlich. Schließlich werde eine derartige Entscheidung mangels entsprechender Einigung der Eltern auch nach Durchführung des hier anhängigen Scheidungsverfahrens erforderlich sein. Für eine solche Entscheidung fehlten jedoch wesentliche Verfahrensergebnisse und Feststellungen. Der Rekurs an den Obersten Gerichtshof sei zulässig, weil zur Frage, ob auch eine Entscheidung über die endgültige Zuteilung der Obsorge nach § 177 ABGB bei den vorliegenden Umständen dem ausländischen Gericht überlassen werden könne, keine Rechtsprechung vorliege.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs des Vaters ist zulässig und berechtigt.

Das Haager Minderjährigenschutzabkommen, BGBl 1975/446, gilt nach Zurückziehung des österreichischen Vorbehaltes zu Art 13 Abs 3 (BGBl 1990/439) seit 7.8.1990 für alle Minderjährigen - selbst für solche aus Nichtvertragsstaaten - mit gewöhnlichem Aufenthalt in einem Vertragsstaat. Eine perpetuatio fori tritt nicht ein. Maßgebend für die Beurteilung der Frage, ob nach den Bestimmungen des MSA die inländische Gerichtsbarkeit zu bejahen ist, ist der Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichtes erster Instanz (2 Ob 609/89 mwN). Da zu diesem Zeitpunkt (5.7.1993) die Kinder bereits wieder in Neuseeland waren und sich seither dort aufhalten, stellt sich die im Revisionsrekurs aufgeworfene Frage, ob die Kinder während ihres etwa sechswöchigen Aufenthaltes in Österreich hier ihren "gewöhnlichen Aufenthalt" hatten, nicht. Da Neuseeland kein Vertragsstaat ist (vgl die Zusammenstellung bei Schwimann in Rummel2 II zu § 24 IPRG), findet das MSA auf vorliegenden Fall keine Anwendung.

Das Erstgericht wurde nicht zur Entscheidung über die Rückgabe der Kinder im Sinn des Art 8 des Übereinkommens über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung (BGBl 1988/512) angerufen, so daß weder die in diesem Übereinkommen enthaltenen Zuständigkeitsregeln heranzuziehen sind noch überhaupt zu klären ist, ob das Abkommen zwischen Österreich und Neuseeland gilt.

Mangels der Anwendbarkeit von Sondernormen ist daher die Frage der inländischen Gerichtsbarkeit ausschließlich nach § 110 JN zu prüfen. Danach ist die inländische Gerichtsbarkeit für die im § 109 JN genannten Angelegenheiten bezüglich beider Kinder infolge ihrer österreichischen Staatsbürgerschaft grundsätzlich gegeben. Hat jedoch der österreichische Minderjährige seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Ausland, kann das Gericht - nach Anhörung der Bezirksverwaltungsbehörde - von der Einleitung oder Fortsetzung des Verfahrens absehen, soweit und solange durch die im Ausland getroffenen oder zu erwartenden Maßnahmen die Rechte und Interessen des Minderjährigen ausreichend gewahrt werden.

Zum zentralen Anwendungsbereich des § 110 JN gehören alle Maßnahmen im Zusammenhang mit der Obsorge über die Kinder (Schwimann in JBl 1990, 765). Die Entscheidung über den Antrag eines Elternteils, ihm die elterlichen Rechte allein zu übertragen, gehört jedenfalls zu den in § 109 Abs 1 JN genannten und damit zu den von § 110 JN umfaßten Angelegenheiten (3 Ob 582/83 = EFSlg 44.700). Es ist daher nicht zu unterscheiden, ob eine die Obsorge regelnde Maßnahme vorläufig oder endgültig, ob sie vor oder nach Scheidung der Eltern zu treffen ist und ob das Gericht gemäß § 176 ABGB angerufen wurde oder ob es gemäß § 177 Abs 2 ABGB zu entscheiden hat.

Die Ermessensentscheidung, ob trotz des Bestehens der inländischen Gerichtsbarkeit das Verfahren über die Zuteilung der Obsorge an den einen oder anderen Elternteil nicht eingeleitet oder nicht fortgeführt wird, hat sich daher nur am Wohl des Kindes, nämlich der ausreichenden Wahrung seiner Interessen durch die Behörden des ausländischen Staates, zu orientieren (EFSlg 49.264, 3 Ob 582/83 = EFSlg 44.700; ÖAV 1987, 139).

Wie die in Neuseeland aufgrund der dort gestellten, Fragen der Obsorge betreffenden Anträge des Vaters ergangenen, im Akt befindlichen Entscheidungen zeigen, hat die Beachtung des Kindeswohls auch nach neuseeländischem Recht vorrangige Bedeutung. Es ist aufgrund der sich in diesen Entscheidungen widerspiegelnden Gesetzeslage und des Bemühens des in Neuseeland befaßten Gerichtes, dieser Maxime gerecht zu werden, keineswegs zu befürchten, daß eine den Interessen der Kinder zuwiderlaufende Entscheidung über die Obsorge getroffen wird. Da das Verfahren in Neuseeland bereits anhängig und mit einem ständigen Betreiben seitens der Eltern zu rechnen ist, kann auch ausgeschlossen werden, daß mit weiteren Entscheidungen in absehbarer Zeit nicht zu rechnen ist (vgl Schwimann in JBl 1990, 767).

Eine Fortführung des Verfahrens in Österreich wäre im übrigen schon aufgrund der faktischen Gegebenheiten problematisch, weil sich sämtliche Betroffenen wieder in Neuseeland aufhalten und mit ihrer baldigen Rückkehr derzeit nicht zu rechnen ist (inzwischen werden sämtliche Reisepässe beim neuseeländischen Gericht verwahrt). Eine realitätsbezogene Prüfung der Frage, welchem Elternteil der Vorrang bei der Obsorgeentscheidung einzuräumen ist, kann unter diesen Umständen von einem österreichischen Gericht gar nicht vorgenommen werden.

Der zutreffende Beschluß des Erstgerichtes war daher wiederherzustellen. Bei einer wesentlichen Änderung der derzeitigen Situation, die ein Eingreifen des österreichischen Gerichtes angezeigt erscheinen läßt, steht dieser Beschluß einer Fortführung des Verfahrens ohnehin nicht im Wege.

Rechtssätze
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