JudikaturJustiz7Ob32/17g

7Ob32/17g – OGH Entscheidung

Entscheidung
18. Oktober 2017

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch die Senatspräsidentin Dr. Kalivoda als Vorsitzende, die Hofrätinnen und Hofräte Dr. Höllwerth, Dr. E. Solé, Mag. Malesich und MMag. Matzka als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei S* O*, vertreten durch Mag. Wolfgang Ammer, Rechtsanwalt in Graz, gegen die beklagte Partei U* AG, *, vertreten durch Dr. Bernhard Hundegger Rechtsanwalt GesmbH in Villach, wegen 135.660 EUR sA und Feststellung, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Graz als Berufungsgericht vom 2. Dezember 2016, GZ 2 R 181/16d 49, mit dem das Urteil des Landesgerichts Klagenfurt vom 25. August 2016, GZ 21 Cg 66/14m 42, abgeändert wurde, zu Recht erkannt:

Spruch

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die Entscheidung über die Kosten aller drei Instanzen bleibt dem Erstgericht vorbehalten.

Text

Entscheidungsgründe:

Der Kläger hat bei der Beklagten eine private Unfallversicherung abgeschlossen, bei der das Sportrisiko „Klettern, alpines Gelände ab Schwierigkeitsgrad V“ mitversichert war. Die maßgeblichen „Klipp-und-Klar-Bedingungen“ der Beklagten für die Unfallversicherung 2010 (UA00) lauten auszugsweise:

„Was ist ein Unfall? – Artikel 6

1. Ein Unfall liegt vor, wenn die versicherte Person durch ein plötzlich von außen auf ihren Körper einwirkendes Ereignis (Unfallereignis) unfreiwillig eine Gesundheitsschädigung erleidet.“

Der Kläger und sein Kletterpartner durchstiegen die Eiger-Nordwand über die Heckmaierroute. Nachdem sie über Nacht im „Schwalbennest“ biwakiert hatten, erreichten sie gegen 13:00 Uhr den „Götterquergang“. Als ein Stein, auf dem der Kläger mit den Frontalzacken seiner Steigeisen gestanden war, plötzlich ausbrach, stürzte der im Vorstieg befindliche Kläger in der letzten Seillänge des Quergangs ins Seil. Der Kläger rutschte ab und schlitterte den Fels entlang, bis er ca 4 m unterhalb der Zwischensicherung hängen blieb. Er zog sich am Seil bis zur Zwischensicherung hoch und stieg bis zum nächsten Standplatz weiter. Durch diesen Sturz traten in den Kniebereichen der Hose des Klägers 2 bis 4 cm lange Risse auf und im Bereich des Oberschenkels wurde die Hose abgeschürft. Der Kläger bemerkte gegen 17:00 Uhr, als er mit seinem Kletterpartner im Bereich der „Ausstiegsrisse“ erneut biwakieren wollte, dass er sowohl im Kniebereich als auch bei den Füßen durchnässt war. In der Folge stellte der Kläger die Beschädigungen an seiner Hose fest. Die Beschädigungen in den Kniebereichen der Hose waren die einzige Ursache für den Feuchtigkeitseintritt. Der Kläger zog während des Biwaks in den „Ausstiegsrissen“ seine Schuhe nicht aus, weil er befürchtete, es könnte Schnee in die Schuhe gelangen. Gegen 04:00 Uhr des Folgetags bemerkte der Kläger, dass seine Füße sehr kalt geworden waren. Während des Biwaks durch „Hängen im Seil“ war es dem Kläger nicht möglich, seine Schuhe auszuziehen und die Füße durch Massieren mit den Händen zu wärmen. Der Kläger und sein Kletterpartner erreichten gegen 12:00 Uhr den Gipfel; danach stiegen sie über den Südgrat ins Tal ab. Bei dieser Klettertour erlitt der Kläger Erfrierungen an beiden Vorfüßen, die deren Amputation notwendig machten.

Während des Biwakierens im Bereich der „Ausstiegsrisse“ und auch am Gipfel hatten der Kläger und sein Begleiter erwogen, einen Notruf an die Bergrettung abzusetzen. Dies war jedoch nicht möglich, weil die Bergsteiger keinen Empfang am Mobiltelefon hatten. Eine Rettungsaktion aus der Wand hätte wahrscheinlich – sofern überhaupt möglich – zumindest gleich lang gedauert, wie der selbständige Aufstieg zum Gipfel. Ein Rückzug aus der Wand war ebenfalls keine überlegenswerte Alternative. Der Aufstieg zum Gipfel war die einzig richtige Entscheidung.

Der Kläger begehrte von der Beklagten aus der Unfallversicherung die Zahlung von 135.660 EUR sA und er erhob ein Feststellungsbegehren. Der Kläger behauptete – soweit noch wesentlich –, dass sein Gesundheitsschaden direkt auf den Sturz ins Seil zurückzuführen gewesen sei und daher ein Unfall im Sinn der Versicherungsbedingungen vorgelegen habe.

Die Beklagte beantragte Abweisung der Klagebegehren. Der Kläger habe durch den Sturz ins Seil keinen Unfall im Sinn der Versicherungsbedingungen erlitten, er sei dabei weder verletzt noch durchnässt worden. Erst beim Weiterklettern sei nach dem eigenen Standpunkt des Klägers dessen Ausrüstung durchnässt und damit ein neuer Kausalverlauf in Gang gesetzt worden; die auf den Sturz folgenden Handlungen des Klägers (Übersehen der Risse in der Hose mangels ordentlicher Prüfung; falsche Beurteilung der Durchnässung; Weiterklettern trotz Durchnässung) hätten zu dessen Erfrierungen geführt.

Das Erstgericht verpflichtete die Beklagte zur Zahlung von 42.360 EUR und wies das Mehrbegehren an Leistung und Feststellung unbekämpft ab. Es führte rechtlich aus, dass der Sturz des Klägers ins Seil als plötzlich von außen einwirkendes Ereignis zu qualifizieren sei. Die Beschädigungen an der Hose hätten zwar nicht zu einer unmittelbaren Gesundheitsschädigung geführt, seien jedoch die Ursache für das Eindringen der Nässe und diese wiederum für die Erfrierungen des Klägers gewesen. Da der Kläger aufgrund der alpinen Gegebenheiten weder die Schuhe habe ausziehen können noch eine Hose zum Wechseln mitgeführt habe und eine Bergung durch die Bergrettung nicht möglich gewesen sei, habe der Kläger den Eintritt der „mittelbaren“ Gesundheitsschädigung nicht verhindern können und sei dieser unentrinnbar ausgesetzt gewesen. Es sei daher ein Unfall im Sinn der Versicherungsbedingungen vorgelegen.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Beklagten Folge und änderte das Urteil des Erstgerichts im Sinn der gänzlichen Klagsabweisung ab. Es war der Rechtsansicht, dass die einzige plötzliche Einwirkung von außen im Sinn eines Unfallgeschehens nicht auf den Körper, sondern nur auf die Hose des Klägers erfolgt sei. Erst durch die daraus resultierenden Risse in der Hose sei über Stunden jene Feuchtigkeit bis zu den Füßen des Klägers vorgedrungen, die dort zu Erfrierungen geführt habe. Die Gesundheitsschädigung sei demnach nicht durch ein plötzlich von außen auf den Körper des Klägers wirkendes Ereignis, sondern durch das allmählich in die aufgerissene Hose vordringende Wasser verursacht worden.

Das Berufungsgericht sprach aus, dass die ordentliche Revision zur Klärung der Frage zulässig sei, ob die plötzliche Beschädigung (nur) der Bekleidung durch einen Sturz dann ein plötzlich von außen auf den Körper wirkendes Ereignis sei, wenn sich der Versicherte aufgrund sonstiger äußerer Einflüsse (hier Abgeschiedenheit am Berg; Witterung) den Folgen des Ereignisses im Augenblick ihres Einwirkens „auf seine Person“ nicht mehr entziehen habe können.

Gegen das Urteil des Berufungsgerichts richtet sich die Revision des Klägers wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag auf Abänderung im Sinn der Wiederherstellung des Ersturteils. Hilfsweise stellt der Kläger auch einen Aufhebungsantrag.

Die Beklagte erstattete eine Revisionsbeantwortung mit dem Antrag, die Revision als unzulässig zurückzuweisen, hilfsweise ihr keine Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist zur Klarstellung der Rechtslage zulässig; sie ist aber nicht berechtigt.

1. Die §§ 179 ff VersVG enthalten keine Umschreibung des Unfallbegriffs. Das Berufungsgericht ist aber entsprechend Art 6.1. der vereinbarten UA00 und im Einklang mit der Rechtsprechung des Fachsenats zutreffend davon ausgegangen, dass es sich bei einem Unfall um ein plötzlich von außen auf den Körper der versicherten Person einwirkendes Ereignis handelt (7 Ob 213/16y; 7 Ob 57/17h), wodurch diese unfreiwillig eine Gesundheitsschädigung erleidet (7 Ob 79/16t; vgl RIS-Justiz RS0058130; RS0058077; ferner RS0084348). Zwischen dem Unfallereignis, der Gesundheitsschädigung (Unfallereignisfolge) und dem für den Leistungsanspruch relevanten Gesundheitsschaden (Unfallfolge) muss ein adäquater Kausalzusammenhang bestehen (7 Ob 186/04k = VR 2005, 216).

2. Dass eigenes Verhalten zum Unfall beitragen, ihn sogar herbeiführen kann, ist in der Unfallversicherung nicht zweifelhaft. Dabei wird zwar ein gewolltes und gesteuertes Verhalten des Versicherungsnehmers nicht als Unfallereignis angesehen werden können, ein Unfall liegt dagegen aber bei einem Vorgang vor, der vom Versicherten bewusst und gewollt begonnen und beherrscht wurde, sich dieser Beherrschung aber durch einen unerwarteten Ablauf entzogen und nunmehr schädigend auf den Versicherten eingewirkt hat (RIS Justiz RS0082008).

3. Zur „Plötzlichkeit“ des Unfalls gehört das Moment des Unerwarteten und des Unentrinnbaren. Für den Versicherten muss die Lage so sein, dass er sich bei normalem Geschehensablauf den Folgen des Ereignisses im Augenblick ihres Einwirkens auf seine Person nicht mehr entziehen kann (RIS Justiz RS0082022). „Plötzlich“ sind demnach alle jene Ereignisse, die sich in einem sehr kurzen Zeitraum unerwartet ereignen. Es können aber auch allmählich eintretende Ereignisse unter den Begriff fallen, wenn sie nur für den Versicherungsnehmer unerwartet und unvorhergesehen waren. Ein Unfallereignis liegt damit (nur) dann vor, wenn objektiv für den betroffenen Versicherungsnehmer kein Grund bestand, mit den konkret eingetretenen Umständen zu rechnen, er davon überrascht wurde und ihnen nicht entgehen konnte (RIS Justiz RS0131133).

4. Der Fachsenat hat sich jüngst zu 7 Ob 79/16t (= RIS Justiz RS0131134 VR 2017 H 6, 33 [ Schwaighofer/Wuelz ] = EvBl 2017/67 [ Perner ] = ecolex 2017/308 [ Ertl , ecolex 2017, 751]) mit der Frage beschäftigt, unter welchen Umständen eine Erfrierung beim Bergsteigen durch die Unfallversicherung gedeckt ist. Er ist dabei zusammengefasst zum Schluss gekommen, dass Erfrierungen zwar Gesundheitsschädigungen sind, aber – an sich – keine Unfallereignisse, weil Erfrierungen allmählich und gerade nicht „plötzlich“ auftreten. Sie können daher nur dann unter den Versicherungsschutz fallen, wenn sie durch ein Unfallereignis verursacht wurden, weil sich das Erfordernis der Plötzlichkeit lediglich auf das von außen auf den Körper wirkende Ereignis bezieht, nicht jedoch auf die Unfallfolge (Gesundheitsschädigung).

5. Zu klären ist daher, ob der Kläger einen Unfall iSd Art 6.1. UA00 erlitten hat, was unter dem Gesichtspunkt prüfungsbedürftig ist, dass bei dessen – unzweifelhaft plötzlich aufgetretenen – Sturz ins Seil nur seine Ausrüstung beschädigt (Risse in der Hose), nicht aber der Kläger selbst verletzt wurde. Zu entscheiden ist demnach, ob das einwirkende Ereignis (auch) unmittelbar zu einer körperlichen Schädigung des Versicherten führen muss, damit das Vorliegen eines Unfalls bejaht werden kann:

5.1. Zunächst lässt sich dem Wortlaut des Art 6.1. UA00 nicht ausdrücklich entnehmen, dass das von außen auf den Körper wirkende Ereignis auch unmittelbar zu einer körperlichen Schädigung des Versicherten führen muss.

5.2. Der Fachsenat hat allerdings bereits in den Entscheidungen 7 Ob 130/09g (VR 2010/844) und 7 Ob 103/15w (VR 2016/987) im Zusammenhang mit dem Unfallbegriff auf das Vorliegen wenngleich bloß geringfügiger Verletzungen abgestellt. Diese Ansicht ist dahin fortzuschreiben, dass gerade nach der Einschätzung eines durchschnittlich verständigen Versicherungsnehmers (RIS Justiz RS0017960) zum Vorliegen eines Unfalls grundsätzlich eine wenngleich auch nur geringfügige Verletzung des Versicherten gehört. Im Regelfall ist also eine Beeinträchtigung der körperlichen Integrität des Versicherten dem Unfallbegriff inhärent.

5.3. Von der Beeinträchtigung der körperlichen Integrität des Versicherten als Wesensmerkmal des Unfalls können im Einzelfall Ausnahmen geboten sein. So hat etwa der BGH in der Entscheidung II ZR 95/60 (= NJW 1962, 914) einen Unfall angenommen, als der Versicherungsnehmer an einer Bergwand festsaß, weil sich das Kletterseil verhängt hatte und er infolgedessen erfror. Der BGH führte dort aus, dass das äußere Ereignis nicht stets den Körper des Versicherten unmittelbar beeinträchtigen müsse. Unter besonderen Umständen könnten auch Vorgänge, die seine Ausrüstung (dort das Seil) betreffen würden, dann geeignet sein, ein Unfallereignis zu begründen, wenn es sich dabei etwa um ein unentbehrliches Fortbewegungsmittel handle, dessen Verlust den Versicherten in eine hilflose Lage bringe, im Anlassfall den Bergsteiger praktisch völlig lähme, was einem „echten“ Unfall gleichzuhalten sei. Eine solche Ausnahme sei allerdings nur zu erlauben, wenn der Versicherte durch ein hinzutretendes äußeres Ereignis in seiner Bewegungsfreiheit so beeinträchtigt werde, dass er den Einwirkungen von zB Kälte oder Hitze hilflos ausgesetzt sei (vgl BGH IV ZR 219/07 = NJW 2008, 3644 = VersR 2008, 1683 [Unfall oder gleichwertige Lage verneint]).

5.4. Dieser Rechtsprechung ist auch auf der Grundlage des hier maßgeblichen Unfallbegriffs zu folgen. Wenngleich also das Vorliegen eines Unfalls im Regelfall eine Beeinträchtigung der körperlichen Integrität des Versicherten voraussetzt, kann eine gleichwertige, ebenfalls zur Annahme eines Unfalls führende Situation dann vorliegen, wenn der Versicherte durch ein plötzlich von außen auf den Körper einwirkendes Ereignis – ohne eine Verletzung am Körper – in einer wesentlichen körperlichen Funktionalität (zB Fortbewegungsmöglichkeit) so beeinträchtigt wird, dass er dadurch in eine hilflose Lage gerät, die dann zumindest mitursächlich für einen relevanten Gesundheitsschaden ist. Eine darüber hinausgehende Berücksichtigung etwa der bloßen Beschädigung von Ausrüstungsgegenständen, mögen sie auch am Körper getragen werden, ist durch den Unfallbegriff nicht gedeckt.

6. Ein Unfall im zuvor beschriebenen Sinn liegt hier nicht vor:

Der Sturz des Klägers in das Kletterseil führte zu keiner Beeinträchtigung seiner körperlichen Integrität. Die aus diesem Sturz resultierende Einwirkung auf seine Ausrüstung (Hose) hat den Kläger nicht in einer wesentlichen körperlichen Funktionalität so beeinträchtigt, dass er dadurch in eine hilflose Lage geriet, konnte er doch die Klettertour fortsetzen und beenden. Es lag daher ein Unglücksfall, aber kein Unfall iSd Art 6.1. UA00 (keine Beeinträchtigung der körperlichen Integrität oder gleichwertige Einschränkung der körperlichen Funktionalität) vor, weshalb sich die gänzliche Klagsabweisung durch das Berufungsgericht als zutreffend erweist.

7. Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 3 ZPO.

Rechtssätze
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