JudikaturJustiz7Ob238/00a

7Ob238/00a – OGH Entscheidung

Entscheidung
08. November 2000

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Schalich als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Tittel, Hon. Prof. Dr. Danzl, Dr. Schaumüller und Dr. Kalivoda als weitere Richter in der Pflegschaftssache der mj. Rejana F*****, geboren am 19. 11. 1990, in Obsorge und vertreten durch ihre Mutter Regiane F*****, Deutschland, infolge des Revisionsrekurses des Vaters Ing. Johannes O*****, gegen den Beschluss des Landesgerichtes für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 12. Mai 2000, GZ 43 R 244/00a-134, womit infolge Rekurses des Vaters der Beschluss des Bezirksgerichtes Donaustadt vom 9. März 2000, GZ 33 P 78/98k-128, teilweise abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Dem Revisionsrekurs des Vaters wird Folge gegeben.

Die Entscheidung des Rekursgerichtes wird dahin abgeändert, dass der Beschluss des Erstgerichtes (und insoweit auch der bestätigende Beschluss des Rekursgerichtes) ersatzlos behoben und dem Erstgericht die Fortsetzung des Pflegschaftsverfahrens samt Entscheidung über die Anträge des Vaters auf Unterhaltsherabsetzung aufgetragen wird.

Text

Begründung:

Die Minderjährige entstammt aus der mit Urteil des Bezirksgerichtes Donaustadt vom 20. 6. 1996, 17 C 113/93k-29, geschiedenen Ehe des österreichischen Staatsbürgers Ing. Johannes O***** und der brasilianischen Staatsbürgerin Regiane F***** (ON 81), nunmehr wiederum verehelichte F*****. Das Kind besitzt die österreichische und die brasilianische Staatsbürgerschaft. Die Obsorge steht der Mutter zu. Mutter und Kind haben seit August 1995 ihren ständigen Aufenthalt in Deutschland, wo die Mutter nunmehr in zweiter Ehe wiederum verheiratet ist und dem Kind demgemäß auch der neue Familienname übertragen wurde (ON 145).

Bereits seit dem 23. 6. 1994 ist beim Bezirksgericht Donaustadt das Pflegschaftsverfahren über die Minderjährige anhängig. Der in Österreich wohnhafte Vater ist derzeit zu monatlichen Unterhaltszahlungen von S 1.800,-- verpflichtet. Über diverse Herabsetzungsanträge des Vaters (zuletzt ON 137) liegt bisher noch keine rechtskräftige Entscheidung vor. Ein Antrag auf Besuchsrechtseinräumung wurde zuletzt mit Beschluss vom 8. 1. 1999 abgewiesen (ON 117).

Unter Bezug auf den mehrjährigen Aufenthalt der Minderjährigen und ihrer obsorgeberechtigten Mutter in der BRD sprach das Erstgericht - nach Anhörung der Magistratsabteilung 11, Amt für Jugend und Familie, 1020 Wien, als zuständiger Bezirksverwaltungsbehörde - aus, dass (1.) von der Einleitung eines Unterhaltsherabsetzungsverfahrens abgesehen wird und das Bezirksgericht Donaustadt (für die weitere Führung des Pflegschaftsverfahrens) unzuständig ist, sowie (2.) der Antrag des Vaters auf Unterhaltsherabsetzung zurückgewiesen wird. Zur Begründung führte das Erstgericht aus, dass für die getroffene Entscheidung - zu welcher sich auch die Bezirksverwaltungsbehörde zustimmend geäußert habe - die Voraussetzungen des § 110 Abs 2 JN erfüllt seien. Die gepflogenen Erhebungen hätten ergeben, dass die Rechte und Interessen des Kindes durch die Behörden seines neuen Heimatstaates ausreichend gewahrt würden. Da es sich beim offenen Antrag des Vaters um einen Unterhaltsherabsetzungsantrag handle, seien Interessen des Kindes durch die Ablehnung einer Verfahrensfortsetzung hierüber nicht gefährdet; der Vater könne vielmehr seinen Antrag neuerlich bei dem für den nunmehrigen Wohnsitz des Kindes zuständigen deutschen Gericht einbringen.

Das vom Vater angerufene Rekursgericht gab seinem Rekurs teilweise Folge, indem es den angefochtenen Beschluss in seinem Punkt 1.) dahin abänderte, dass der Ausspruch, dass das Bezirksgericht Donaustadt unzuständig sei, ersatzlos behoben wurde; im übrigen Umfang wurde die Entscheidung des Erstgerichtes bestätigt. Das Rekursgericht führte aus, dass auch nach seiner Auffassung die Voraussetzungen des § 110 Abs 2 JN in der vorliegenden Pflegschaftssache erfüllt seien. Dass in Deutschland noch kein Pflegschafts- bzw Unterhaltsverfahren gerichtlich anhängig sei, schade hiefür nicht. Die diesbezügliche Lehrmeinung von Mayr in Rechberger2 (JN § 110 Rz 3) werde nicht geteilt. Allerdings beende das Vorliegen der Voraussetzungen des § 110 Abs 2 JN nicht die inländische Gerichtsbarkeit schlechthin, sondern ermächtige nur die österreichischen Gerichte, von ihrer Juristiktionsbefugnis insoweit und solange keinen Gebrauch zu machen, als durch ausländische Maßnahmen das Kindeswohl ausreichend gewahrt werde. Daher sei der Ausspruch des Erstgerichtes, wonach es unzuständig sei, ersatzlos zu beheben, weil das an sich zuständige Erstgericht gemäß der zitierten Gesetzesstelle eben lediglich ermächtigt werde, unter den darin näher umschriebenen Voraussetzungen seine Entscheidungsbefugnis nicht wahrzunehmen.

Das Rekursgericht ließ den ordentlichen Revisionsrekurs zu, weil - soweit überblickbar - eine höchstgerichtliche Rechtsprechung zur Frage fehle, ob die Ermessensentscheidung nach § 110 Abs 2 JN zumindest ein vor den ausländischen Behörden bereits konkret anhängiges Verfahren voraussetze.

Gegen diese Entscheidung richtet sich der - nach fristgerechter Verbesserung - Revisionsrekurs des Vaters mit dem Antrag, das Erstgericht "anzuweisen", das dort behängende Verfahren zur Herabsetzung seiner Unterhaltspflicht zu eröffnen bzw weiter zu führen. Durch die gewählte Vorgangsweise der Vorinstanzen samt Verweisung seiner Person an ein deutsches Gericht würde ihm das Recht genommen, die Höhe des Unterhalts nach österreichischem Recht und unter Zugrundelegung österreichischer Lebenshaltungskosten etc überprüfen zu lassen.

Der Revisionsrekurs ist zulässig und auch berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

Hat ein (wie hier jedenfalls auch) österreichischer Minderjähriger oder sonstiger Pflegebefohlener seinen gewöhnlichen Aufenthalt (oder Vermögen) im Ausland, so kann das Gericht gemäß § 110 Abs 2 JN von der Einleitung oder Fortsetzung eines im Inland geführten Pflegschaftsverfahrens absehen, soweit und solange durch die im Ausland getroffenen oder zu erwartenden Maßnahmen die Rechte und Interessen des Minderjährigen oder sonstigen Pflegebefohlenen ausreichend gewahrt werden; im Falle eines österreichischen Minderjährigen ist vor der Entscheidung die Bezirksverwaltungsbehörde zu hören, in deren Sprengel das Gericht seinen Sitz hat. Ob trotz bestehender inländischer Gerichtsbarkeit (deren Voraussetzungen sich nach Abs 1 des § 110 JN richten) ein Verfahren nicht eingeleitet oder nicht fortgesetzt wird, liegt im (gebundenen) Ermessen des Gerichtes, das sich stets am Wohl des Pflegebefohlenen, wie dies im § 178a ABGB umschrieben wird, orientieren muss (Mayr in Rechberger, JN-ZPO2 Rz 3 zu § 110; Fucik in Fasching I2 Rz 3 zu § 110, jeweils mwN). Die Verweigerung der Einleitung oder Fortsetzung des Verfahrens ist somit nur statthaft, wenn gesichert ist, dass die Rechte und Interessen des Pflegebefohlenen durch die Behörde des ausländischen Staates eindeutig und ausreichend gewahrt sind (EFSlg 66.878; 6 Ob 96/00m; Fucik aaO).

Nicht nur Mayr (aaO Rz 4), sondern auch Fucik (aaO) vertreten übereinstimmend die Auffassung, dass eine Vorgangsweise nach § 110 Abs 2 JN erst dann in Betracht kommen dürfe, wenn bereits eine Entscheidung der ausländischen Behörden vorliegt oder eine solche auf Grund eines anhängigen Verfahrens konkret und in angemessener Zeit zu erwarten ist; zudem müsse eine solche Entscheidung für den inländischen Rechtsbereich entsprechende Wirkungen entfalten können, also im Inland (kraft völkerrechtlicher Verträge) anerkannt oder zumindest anerkennungsfähig sein. Ungeachtet der - auch aus den Gesetzesmaterialien zur Zivilverfahrens-Novelle 1983 BGBl 135, durch die § 110 JN seine nunmehr in Geltung stehende Fassung erhielt - nicht klar und verbindlich zu beantwortenden Frage, ob tatsächlich unter erst "zu erwartenden Maßnahmen" unter Umständen auch überhaupt erst einzuleitende Verfahren im Ausland vom Gesetzgeber gemeint waren, entspricht es doch jedenfalls der ständigen und einhelligen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes, dass die Durchsetzung von Unterhaltsansprüchen dann, wenn der Unterhaltsschuldner im Inland seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, durch eine inländische Entscheidung eines inländischen Gerichtes eindeutig gefördert wird;

die Rechte eines Kindes können daher schon deshalb unter Umständen

nicht ausreichend gewahrt sein, wenn die Durchsetzung seiner

Unterhaltsansprüche im Heimatstaat längere Zeit in Anspruch nimmt und

sodann erst auf Grund eines ausländischen Titels im Inland Exekution

geführt werden müsste (3 Ob 513/85 = EFSlg 49.264; 8 Ob 681/86 = ÖA

1987, 139; 3 Ob 552/88 = RZ 1989/90 = JBl 1989, 394; RIS-Justiz

RS0046849).

Auch wenn bezüglich des Unterhaltsanspruches der Minderjährigen hier ein rechtskräftiger inländischer Unterhaltstitel schon seit längerem vorliegt, so darf doch nicht übersehen werden, dass der Vater in etwa zeitgleich und durch Folgeanträge laufend perpetuiert eine Herabsetzung dieses Betrages anstrebt. Das österreichische Pflegschaftsgericht, das schon seit vielen Jahren die persönlichen und speziell auch einkommensmäßigen Verhältnisse des Vaters erhoben hat und damit kennt, ist daher jedenfalls in einer gegenüber jedem ausländischen Gericht vorteilhafteren Lage, über diese Anträge des Vaters rasch(er) und effizient(er) eine Entscheidung zu Gunsten - oder zu Lasten - des Kindes zu treffen. Auch wenn es zutrifft, dass es sich bei diesem offenen Antrag um einen solchen auf Herabsetzung und nicht um einen gerichtet auf Erhöhung handelt, so erscheint doch - in Anwendung des bereits hervorgehobenen und durch den Gesetzgeber dem Gericht abgeforderten gebundenen Ermessens - die Abstandnahme von der Fortsetzung des bereits viele Jahre anhängigen inländischen Pflegschaftsverfahrens zu Gunsten eines nach der Aktenlage noch gar nicht anhängig gemachten im Ausland in Abwägung aller sonstigen aktenkundigen Aspekte keineswegs dem Wohl des mj. Mädchens förderlicher als die Fortsetzung eben dieses Verfahrens vor dem Erstgericht.

In zusammenfassender Abwägung aller dieser Umstände haben daher die österreichischen Gerichte, sohin das Erstgericht als Pflegschaftsgericht, die Kompetenz in der vorliegenden Pflegschaftssache bis auf weiteres wahrzunehmen. Wie der Oberste Gerichtshof in der Entscheidung 6 Ob 96/00m erst jüngst hervorgehoben hat, ist es Sinn und Zweck des § 110 JN, die inländische Gerichtsbarkeit mit einem allfälligen ausländischen Rechtsschutz zu koordinieren, indem er es dem in Inland befassten Gericht ermöglicht, von der Einleitung oder Fortsetzung des Verfahrens abzusehen, aber eben nur soweit und solange durch die im Ausland getroffenen oder zu erwartenden Maßnahmen die Rechte und Interessen des Minderjährigen ausreichend gewahrt werden; da - unstrittig - ein derartiges Verfahren im Ausland (noch) gar nicht anhängig ist, ist selbstredend auch eine solche Koordination zwischen in- und ausländischem Gericht - jedenfalls derzeit und nach jetziger Aktenlage - nicht möglich. Da zur Durchsetzung von Unterhaltsansprüchen auch die Abwehr (allfälliger) unberechtigter Unterhaltsherabsetzungsanträge eines Unterhaltspflichtigen gehört, deren Entscheidung hierüber vorliegendenfalls jedenfalls vor dem inländischen Pflegschaftsgericht als eindeutig dem Kindeswohl förderlicher erachtet werden muss, war somit die Entscheidung des Rekursgerichtes - wie aus dem Spruch ersichtlich - zu beheben und in gleichzeitiger Behebung auch der Entscheidung des Erstgerichtes diesem die Weiterführung des bereits anhängigen Pflegschaftsverfahrens aufzutragen.

Rechtssätze
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