JudikaturJustiz6Ob96/22v

6Ob96/22v – OGH Entscheidung

Entscheidung
22. Juni 2022

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Hon. Prof. Dr. Gitschthaler als Vorsitzenden sowie die Hofrätinnen und Hofräte Dr. Nowotny, Dr. Hofer Zeni Rennhofer, Dr. Faber und Mag. Pertmayr als weitere Richter in der Pflegschaftssache des Minderjährigen A*, geboren am * 2018, über den Revisionsrekurs der Krisenpflegemutter M*, vertreten durch Kunz Wallentin Rechtsanwälte GmbH in Wien, gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 8. März 2022, GZ 44 R 383/21f 65, mit dem der Beschluss des Bezirksgerichts Innere Stadt Wien vom 19. August 2021, GZ 4 Ps 154/20s 43, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Der Revisionsrekurs wird zurückgewiesen .

Begründung:

Rechtliche Beurteilung

[1] Entgegen dem – den Obersten Gerichtshof nicht bindenden (§ 71 Abs 1 AußStrG) – Ausspruch des Rekursgerichts ist der ordentliche Revisionsrekurs nicht zulässig:

[2] 1. Dass oberste Richtschnur bei der Obsorgeentscheidung stets das Kindeswohl ist, wurde vom Gesetzgeber durch Festlegung dieses Grundsatzes im Verfassungsrang verdeutlicht (Artikel 1 des Bundesverfassungsgesetzes über die Rechte von Kindern, BGBl I 2011/4). Selbstverständlich sind daher immer nur unter der Voraussetzung der Wahrung des Kindeswohls entsprechend §§ 204, 209 ABGB vorrangig (Pflege )Eltern oder Großeltern und nachrangig Verwandte, andere nahestehende oder sonst besonders geeignete Personen und bloß subsidiär der Kinder und Jugendhilfeträger (RS0123509) mit der Obsorge zu betrauen.

[3] 2. Im vorliegenden Fall kann die Krisenpflegemutter, bei der das Kind vom Kinder und Jugendhilfeträger im Rahmen der Wahrnehmung der Interimskompetenz nach § 211 Abs 1 ABGB vorübergehend untergebracht worden war (um der Mutter wegen des damals angestrebten Verbleibs des Kindes bei ihr die Möglichkeit ihrer Stabilisierung einzuräumen) und die daher kein Pflegeelternteil iSd §§ 184 f ABGB ist (vgl 8 Ob 54/11s), im Revisionsrekurs keine Bedenken gegen die Entscheidung der Vorinstanzen, dem Kinder- und Jugendhilfe die (gesamte) Obsorge zu übertragen, wecken:

[4] 2.1. Es sind weder Eltern noch Großeltern vorhanden, die in der Lage wären, das Kindeswohl zu wahren, noch hat ein Pflegeelternpaar (Pflegeelternteil) die Obsorge beantragt (vgl § 185 Abs 1 ABGB). Eine Person aus dem im § 204 ABGB genannten Personenkreis steht daher für die Übernahme der Obsorge nicht zur Verfügung.

[5] 2.2. Das vierjährige Kind befindet sich seit 1. 4. 2021 bei Dauerpflegeeltern und hat seither große Entwicklungsfortschritte gemacht. Es finden auch Kontakttreffen zwischen der leiblichen Mutter und dem Kind statt.

[6] 2.3. Bei der Krisenpflegemutter befand sich das damals rund eineinhalb Jahre alte Kind dagegen schon vor längerer Zeit und von vorneherein vorübergehend, nämlich zuerst für die Dauer von vier Monaten und ein weiteres Mal für eineinhalb Monate, nachdem der – nach zwei Monaten gescheiterte – Versuch unternommen worden war, es gemeinsam mit der Mutter im Rahmen einer stationären Therapie unterzubringen.

[7] 3. Aufgrund des (im Vergleich zu Erwachsenen anderen) Zeitgefühls von Kleinkindern hat das Rekursgericht ohne Fehlbeurteilung bezweifelt, dass das Kriterium „nahestehend“ iSd § 209 ABGB auf die Krisenpflegemutter zutrifft.

[8] Dies stellt der Revisionsrekurs auch gar nicht in Abrede. Die Krisenpflegemutter meint vielmehr, es komme nach dem Wortlaut des Gesetzes auf die Nahebeziehung gar nicht an, weil sie eine besonders geeignete Person iSd § 209 ABGB sei. Dazu verweist sie aber bloß darauf, dass sich das aus dem Beschluss des Erstgerichts ableiten lasse, ohne dazulegen, inwiefern dies der Fall sein sollte. Das Rekursgericht hat sie (bloß) als eine für die Ausübung der Obsorge im Bereich Pflege und Erziehung „grundsätzlich“ „geeignete Person“ angesehen. Es hat auch berücksichtigt, dass wegen des von der Mutter ausgesprochenen fehlenden Vertrauens zur Krisenpflegemutter die regelmäßigen Kontakte zur leiblichen Mutter ausnehmend fraglich seien. Zudem hat es auf den Bruch von bestehenden Bindungen, die mit einem erneuten Betreuungswechsel einhergingen, verwiesen.

[9] 4. Wenn im Revisionsrekurs weder aufgezeigt wird, warum die Krisenpflegemutter in Bezug auf das Kind „eine besonders geeignete Person“ wäre (und aufgrund welcher konkreten Umstände es zur Wahrung des Kindeswohls bei seiner Obsorge besonderer fachlicher Kenntnisse bedürfte), noch aus welchen Gründen das Kindeswohl durch eine Übertragung der gesamten Obsorge an sie gewahrt wäre, begegnet die Entscheidung des Rekursgerichts, die gesamte Obsorge dem Kinder und Jugendhilfeträger zu übertragen, keinerlei Bedenken. Die Frage eines Spannungsverhältnisses zwischen § 209 ABGB und der „besseren“ Wahrung des Kindeswohls bei Verbleib bei der Dauerpflegemutter stellt sich somit gar nicht.

[10] 5. Angemerkt sei zuletzt, dass die Krisenpflegemutter einem Missverständnis bei der Auslegung des Begriffs „besonders geeignete Person“ iSd § 209 ABGB unterliegen dürfte. Mit „besonders geeigneten Personen“ iSd § 209 ABGB, die bei der Betrauung mit der Obsorge dem Kinder und Jugendhilfeträger vorgehen, sind nämlich solche Personen gemeint, die über die für die im konkreten (Ausnahms )Fall zu besorgenden besonderen Angelegenheiten erforderliche Fachkenntnis verfügen. Dazu wird in den Gesetzesmaterialien als Beispiel etwa auf die für die Verwaltung eines dem Kind im Erbweg zugekommenen Miets hauses erforderlichen Fachkenntnisse eines Hausverwalters verwiesen (vgl ErläutRV 296 BlgNR 21. GP 71 zum Kindschaftsrechts Änderungsgesetz 2001 – KindRÄG 2001; BGBl I 2000/135, mit dem diese später in §§ 206 und 209 ABGB gleichlautend übernommene Wendung bei Neufassung der §§ 189 und 213 ins ABGB aufgenommen wurde). In der Regel ergibt sich daher die „besondere Eignung“ aus dem „Bezug auf die Art der im Rahmen der (partiellen) Obsorge zu besorgenden Angelegenheiten“ ( Stabentheiner in Rummel, ABGB³ [2003] § 188 Rz 1 mwN; s auch Cohen/Tschugguel in Kletečka/Schauer , ABGB-ON 1.04 [2019] § 209 Rz 1 zur Bestellung von Rechtsanwälten, wenn es primär um Rechtsangelegenheiten geht). Diese eben nur in besonderen Fällen erforderliche besondere fachliche Eignung (und die damit einhergehende eingeschränkte Anzahl an „Experten“, die zur Auswahl stehen können) rechtfertigt es, dass eine solcherart „besonders geeignete Person“ die (partielle) Betrauung mit der Obsorge nur ablehnen darf, wenn ihr diese unzumutbar wäre (§ 206 Abs 2 ABGB). Dagegen kann den – den besonders geeigneten Personen sogar „vorgehenden“ (vgl § 204 ABGB) – „allgemein“ geeigneten Pflegeeltern die generelle wie partielle Obsorge (etwa auch nur im Bereich Pflege und Erziehung) nicht aufgezwungen werden (s § 185 Abs 1 ABGB: „auf Antrag“). Dass der vorliegende Fall ein Sonderfall wäre, bei dem im Rahmen der Obsorge des Kindes eine nach diesem Verständnis zu besorgende „besondere“ Angelegenheit vorläge, für die es derartige Fachkenntnisse bedürfte, ist weder ersichtlich, noch behauptet worden.