JudikaturJustiz6Ob8/19y

6Ob8/19y – OGH Entscheidung

Entscheidung
25. April 2019

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Schramm als Vorsitzenden und durch die Hofräte Dr. Gitschthaler, Univ. Prof. Dr. Kodek, Dr. Nowotny sowie die Hofrätin Dr. Faber als weitere Richter in der Pflegschaftssache der Minderjährigen 1. N*****, geboren am *****, 2. C*****, geboren am *****, über den außerordentlichen Revisionsrekurs der Mutter Mag. H*****, vertreten durch Dr. Marco Nademleinsky, Rechtsanwalt in Wien, gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 19. November 2018, GZ 45 R 391/18k 34, mit dem der Beschluss des Bezirksgerichts Hernals vom 13. Juli 2018, GZ 2 Ps 137/16h 29, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben. Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, dass die Entscheidung einschließlich der bereits in Rechtskraft erwachsenen Teile insgesamt lautet:

„Die Anträge der Mutter, die hauptsächliche Betreuung der Kinder in ihrem Haushalt festzulegen und die Verlegung des Wohnorts der Kinder nach E*****, Deutschland, zu genehmigen, werden abgewiesen.

Der Antrag des Vaters, die hauptsächliche Betreuung der Kinder in seinem Haushalt festzulegen, wird abgewiesen.

Die Anträge beider Eltern, den Kontakt der Kinder zum jeweils anderen Elternteil zu regeln, werden abgewiesen.“

Text

Begründung:

Die Eltern der beiden Minderjährigen waren nie verheiratet. Sie lebten bis zur Trennung im Juli 2016 mit den Kindern im gemeinsamen Haushalt. Seit der Trennung erfolgt die Betreuung durch beide Elternteile je zur Hälfte („Doppelresidenzmodell“).

Am 13. 7. 2016 langten beim Erstgericht Mitteilungen des Standesamts über die gemeinsame Obsorge der Eltern hinsichtlich beider Kinder ein. Am 7. 2. 2017 trafen die Eltern vor dem Erstgericht eine Vereinbarung über die Obsorge, nach der ihnen die Obsorge über die Kinder gemeinsam zukommt, die faktische Betreuung der Kinder durch beide Elternteile im zeitlich gleichen Ausmaß erfolgt und die hauptsächliche Betreuung im Sinn der primären Wahrnehmung jener Aufgaben, deren Grundlage ein bestimmter Aufenthaltsort der Minderjährigen ist, wie beispielsweise die Bestimmung des Hauptwohnsitzes und [der Bezug von] Familien- oder Wohnbeihilfe, nicht jedoch die alleinige Bestimmung des Wohnorts der Kinder im In- und Ausland iSd § 162 Abs 2 ABGB, der Mutter zukommt.

Mit Protokoll vom 5. 9. 2017 und Eingabe vom 5. 3. 2018 beantragte die Mutter , ihr die hauptsächliche Betreuung der Kinder zuzuweisen und ihr zu gestatten, „gemeinsam mit den Kindern nach E*****, Deutschland, zu übersiedeln“. Weiters beantragt sie die Regelung des Kontaktrechts des Vaters.

Sie bringt vor, das Doppelresidenzmodell sei für die Kinder nicht ideal. Sie strebe an, mit den Kindern nach E***** in Deutschland zu übersiedeln. Dort habe sie familiäre Unterstützung durch ihre Eltern und die väterlichen Großeltern der Kinder. Sie habe an ihrem Wohnort in Österreich keine Arbeitsstelle gefunden, verfüge aber über eine Arbeitsplatzzusage in E*****. Der Vater habe seine zunächst erklärte Zustimmung zu einer gemeinsamen Übersiedlung nach E***** wieder zurückgezogen.

Der Vater trat den Anträgen entgegen und beantragte seinerseits, die hauptsächliche Betreuung der Kinder in seinem Haushalt festzulegen und den Kontakt der Mutter zu den Kindern zu regeln. Die Aufrechterhaltung der bisherigen Betreuungssituation entspreche dem Kindeswohl. Sollte die Mutter ihre Meinung ändern und am bisherigen Wohnort in Österreich bleiben, sei er damit einverstanden, dass die bisherige Regelung so, wie sie vereinbart und auch gelebt worden sei, aufrecht bleibe. Eine Übersiedlung nach E***** widerspreche dem Kindeswohl, da die Kinder an ihrem derzeitigen Wohnort sozial integriert seien.

Das Erstgericht sprach aus, dass die Obsorge über die beiden Minderjährigen weiterhin beiden Eltern zukomme und die hauptsächliche Betreuung der Minderjährigen durch den Vater erfolge. Es wies sämtliche Anträge der Mutter sowie den Antrag des Vaters auf Regelung des Kontaktrechts ab.

Es traf folgende weitere Tatsachenfeststellungen: Beide Eltern stammen aus Deutschland. Der Vater verfügt in Österreich seit dem Jahr 2008 über einen Arbeitsplatz. Die Bewerbungen der Mutter verliefen nach dem Verlust ihres Arbeitsplatzes erfolglos. Im Jänner 2018 teilte sie dem Vater ihren Entschluss mit, mit den Kindern nach E***** zu ziehen. Sie verfügt über eine Arbeitsplatzzusage in E*****. Dort könnten ihre Eltern sie in der Kinderbetreuung unterstützen. Sie hat in E***** eine Wohnung angemietet und das ältere Kind für den Schuleintritt im Herbst 2018 in einer Schule angemeldet; für das jüngere Kind bestünde nach einem Monat Wartezeit ein Kindergartenplatz. Sie meldete beide Kinder ohne Rücksprache mit dem Vater vom Kindergarten ab. Der Vater meldete das jüngere Kind daraufhin wieder an; hinsichtlich des älteren Kindes war dies wegen des bevorstehenden Schuleintritts nicht mehr notwendig.

Die Aufrechterhaltung der Beziehung der Kinder zu beiden Elternteilen ist eine wesentliche Komponente für deren positive Entwicklung. Beide Eltern sind sehr reflektiert bezüglich der Bedürfnisse der Kinder und der hohen Relevanz des jeweils anderen Elternteils für deren Entwicklung. Die Weiterführung des Doppelresidenzmodells entspricht – unabhängig vom Wohnort – am ehesten dem Bedürfnis der Kinder nach Nähe zu beiden Eltern.

Rechtlich führte das Erstgericht aus, trotz des evidenten Interesses der Mutter am Wohnortwechsel nach Deutschland sprächen die Umstände insgesamt für einen Verbleib der Kinder am bisherigen Wohnort, sodass keine Zustimmung zum Wohnsitzwechsel zu erteilen sei. Die Anträge auf Regelung des Kontaktrechts seien abzuweisen, weil die Eltern voraussichtlich zu einer einvernehmlichen Regelung in der Lage seien. Die hauptsächliche Betreuung sei dem Vater zuzuweisen, weil nach den Feststellungen naheliegend sei, dass die Mutter ihren Wohnsitz auch ohne die Kinder nach E***** verlegen werde. Übersiedle die Mutter nicht, entspreche eine Betreuung im bisherigen gleichteiligen Ausmaß dem Kindeswohl. Für die Zuweisung der hauptsächlichen Betreuung der Kinder an den Vater spreche auch die einseitige Kindergartenabmeldung durch die Mutter.

Das Rekursgericht gab dem dagegen erhobenen Rekurs der Mutter nicht Folge. Rechtlich führte es aus, die von der Mutter geplante Wohnsitzverlegung bedürfe gemäß § 162 Abs 3 ABGB der Zustimmung des Vaters, die nicht vorliege. Maßstab einer gerichtlichen Entscheidung sei das Kindeswohl, das gegen die Interessen der Eltern auf Freizügigkeit und Berufsfreiheit abzuwägen sei.

Das Rekursvorbringen der Mutter, sie würde ohne die Kinder nicht nach Deutschland übersiedeln, sei als unzulässige Neuerung zu qualifizieren. Zentraler Aspekt für das Kindeswohl sei die Beibehaltung des Doppelresidenzmodells, das im Fall der Trennung der Wohnorte nicht aufrecht erhalten werden könne. Eine Gesamtabwägung ergebe, dass das Interesse der Mutter an einem Umzug unter Mitnahme der Kinder nicht als vorrangig gegenüber den Interessen des Vaters an seinem Verbleib am bisherigen Wohnort und den Interessen der Kinder an der Aufrechterhaltung des Doppelresidenzmodells und ihres sozialen Umfelds einzustufen sei. Daher sei die Beurteilung des Erstgerichts nicht zu beanstanden.

In ihrem Revisionsrekurs wendet sich die Mutter ausschließlich gegen die Übertragung der hauptsächlichen Betreuung der Kinder auf den Vater. Sie strebt die Abänderung der angefochtenen Entscheidung im Sinn der Abweisung des darauf gerichteten Antrags des Vaters an; hilfsweise stellt sie einen Aufhebungsantrag. Hingegen wird die Abweisung ihrer eigenen Anträge von der Mutter nicht mehr bekämpft.

Der Vater beantragt, den Revisionsrekurs der Mutter zurückzuweisen, hilfsweise, ihm nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs ist zulässig , er ist auch berechtigt.

1. Gemäß § 177 Abs 4 ABGB haben die Eltern, wenn sie beide mit der Obsorge betraut sind, aber nicht in häuslicher Gemeinschaft leben, festzulegen, bei welchem Elternteil sich das Kind hauptsächlich aufhalten soll.

Im Fall gemeinsamer Obsorge und Betreuung des Kindes zu gleichen Teilen soll die Festsetzung des Hauptaufenthalts aber – wie der Verfassungsgerichtshof in seinem Erkenntnis vom 9. 10. 2015, G 152/2015, klargestellt hat – nur als nomineller Anknüpfungspunkt für andere Rechtsfolgen dienen, deren Grundlage ein bestimmter Aufenthaltsort ist, wie insbesondere die Bestimmung des Hauptwohnsitzes des Kindes im Sinn des Melderechts oder die Geltendmachung von Familienleistungen (RS0130981; jüngst 3 Ob 213/18x).

Bei erstmaliger Bestimmung des (nominellen) Hauptaufenthalts des Kindes bei Praktizieren eines Doppelresidenzmodells stellt der Oberste Gerichtshof darauf ab, von welchem Elternteil die mit der dargestellten nominellen Anknüpfung verbundenen Aufgaben bisher ausgeübt wurden und ob dieser Elternteil dazu geeignet ist (6 Ob 149/16d; vgl 9 Ob 82/16y).

Besteht hingegen bereits eine Obsorgeregelung, kann die Obsorge nur unter den Voraussetzungen des § 180 Abs 3 ABGB neu geregelt werden. Ist also die Obsorge bereits – gerichtlich oder aufgrund einer Vereinbarung zwischen den Eltern (vgl Hopf in KBB 5 § 180 ABGB Rz 15) – festgelegt, so setzt eine Änderung der bestehenden Regelung eine nachträgliche Änderung der Verhältnisse voraus, die derart gewichtig ist, dass das zu berücksichtigende Postulat der Erziehungskontinuität in den Hintergrund tritt (RS0132056 = 8 Ob 152/17m; RS0128809 [T2, T5]).

2. Im vorliegenden Fall haben die Eltern mit der Vereinbarung vom 7. 2. 2017 eine Obsorgeregelung getroffen, mit der sie die gemeinsame Obsorge, die gleichteilige Betreuung und den nominellen Hauptaufenthalt der Kinder festlegten.

3. Die Vorinstanzen erblickten eine Änderung der Verhältnisse, die ein Abgehen von der bestehenden Obsorgeregelung und die Zuweisung der hauptsächlichen Betreuung an den Vater rechtfertige, darin, dass eine Übersiedlung der Mutter ohne die Kinder nach Deutschland nahe liege.

Derartiges kann dem festgestellten Sachverhalt jedoch nicht entnommen werden. Eine Absicht der Mutter, ohne die Kinder zu übersiedeln, steht nicht fest und war zu keinem Zeitpunkt Gegenstand des Verfahrens. Dem festgestellten Sachverhalt lässt sich vielmehr klar entnehmen, dass die Mutter den Wunsch hegte und konkrete Vorbereitungen dafür traf, gemeinsam mit den Kindern nach Deutschland zu übersiedeln, indem sie für das ältere Kind einen Schulplatz in Deutschland organisierte und die Kinder vom Kindergarten in Österreich abmeldete. Hingegen liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass sie eine Übersiedlung auch alleine anstreben würde. Ihrem Bemühen um eine Arbeitsstelle und eine Wohnung in Deutschland kann derartiges jedenfalls nicht entnommen werden, handelt es sich dabei doch um Vorbereitungen, die auch für eine allfällige Übersiedlung gemeinsam mit den Kindern notwendig wären.

Die zwar ganz allgemein bestehende, aber nicht konkretisierte Möglichkeit, die Mutter könnte in der Zukunft ohne die Kinder nach Deutschland übersiedeln, begründet keine Änderung der Verhältnisse, die gemäß § 180 Abs 3 ABGB bereits vorsorglich eine Änderung der bestehenden Obsorgeregelung im Sinn der (von den Vorinstanzen vorgenommenen) Zuweisung der hauptsächlichen Betreuung der Kinder an den Vater rechtfertigen würde.

Es besteht auch keine Grundlage für eine Neuregelung der hauptsächlichen Betreuung im Sinn der Änderung nur des nominellen Anknüpfungspunkts bei faktisch weiterhin gleichteiliger Betreuung durch beide Eltern.

Die Eltern haben in ihrer Vereinbarung vom 7. 2. 2017 die Mutter als Domizilelternteil für die Aspekte der nominellen Anknüpfung festgelegt. Dass sie diese Kompetenzen auch tatsächlich ausgeübt hat und über die dazu erforderlichen Fähigkeiten verfügt, wurde im Verfahren nicht in Zweifel gezogen. Vielmehr ist in diesem Zusammenhang zu berücksichtigen, dass der Vater sich für den Fall des Verbleibs der Mutter am bisherigen Wohnort mit der Aufrechterhaltung der Vereinbarung vom 7. 2. 2017 ausdrücklich einverstanden erklärte.

Zusammengefasst liegt keine maßgebliche Änderung der Verhältnisse vor, die ein Abgehen von der von den Eltern am 7. 2. 2017 getroffenen Vereinbarung rechtfertigen würde. Dem Revisionsrekurs der Mutter, mit dem sie im Ergebnis die Beibehaltung dieser Regelung anstrebte, war daher Folge zu geben.

Aufgrund der Abweisung von sämtlichen von beiden Elternteilen im Verfahren gestellten Anträgen bleibt die Obsorgeregelung vom 7. 2. 2017 unverändert aufrecht .