JudikaturJustiz5Os1190/54

5Os1190/54 – OGH Entscheidung

Entscheidung
09. November 1954

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 27. November 1954 unter dem Vorsitze des Senatspräsidenten Dr. Sommer, in Gegenwart der Räte des Obersten Gerichtshofes Dr. de Pers-Susans und Dr. Mironovici sowie der Räte des Oberlandesgerichtes Dr. Hammer und Dr. Estl als Richter, dann des Richteramtsanwärters Dr. Tades als Schriftführers, in der Strafsache gegen Rudolf P***** wegen des Verbrechens der Schändung nach dem § 128 StG und einer anderen strafbaren Handlung über die von der Generalprokuratur gegen die Entscheidung des Präsidenten des Oberlandesgerichtes Wien vom 4. März 1954, GZ Jv 3228-16 d/54, erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung, nach Anhörung des Vortrages des Berichterstatters, Rates des Obersten Gerichtshofes Dr. de Pers-Susans, und der Ausführungen des Vertreters der Generalprokuratur, Generalanwaltes Dr. Pallin, zu Recht erkannt:

Spruch

Die Entscheidung des Präsidenten des Oberlandesgerichtes Wien vom 4. März 1954, Jv 3228-16 d/54, mit der der Beschwerde des Strafgefangenen Rudolf P***** gegen die Verfügung des Präsidenten des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 19. Februar 1954, 7 b S Vr 9086/53-19, nicht Folge gegeben wurde, verletzt das Gesetz in den Bestimmungen der §§ 15 und 398 StPO.

Text

Gründe:

Rudolf P*****, der mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 28. Jänner 1954, 7 b S Vr 9086/53-14, wegen Verbrechens der Schändung und der Verführung zur Unzucht zu acht Monaten schweren Kerkers, verschärft durch ein hartes Lager und einen Fasttag monatlich, unter Anrechnung der Untersuchungshaft vom 12. Dezember 1953 bis 28. Jänner 1954, verurteilt worden war, trat am 28. November 1954 die Strafe an. Am 19. Februar 1954 wurde er über Antrag seines Verteidigers vom Chefarzt des Gefangenenhausspitales I des Landesgerichtes für Strafsachen Wien auf seine Haftfähigkeit untersucht. Das Gutachten stellte fest, daß bei P***** eine seropositive Lues latens und ein Zustand nach Gallenoperation mit einer chronischen Leberschädigung bestehe, daß Rudolf P***** dauernd einer entsprechenden Gallendiät bedürfe, jedoch derzeit nicht als körperlich schwer krank im Sinne der Bestimmungen des § 398 StPO zu bezeichnen sei. Auf Grund dieses Gutachtens ordnete der Präsident des Landesgerichtes für Strafsachen Wien mit Verfügung vom 19. Februar 1954 an, daß die Vollziehung der über Rudolf P***** verhängten Strafe aus einem der im § 398 StPO angeführten Grunde nicht zu unterbleiben habe, da Rudolf P***** nicht schwer krank sei. Der gegen diese Verfügung erhobenen Beschwerde des Rudolf P***** wurde vom Präsidenten des Oberlandesgerichtes Wien mit Entscheidung vom 4. März 1954, Jv 3228 - 16 d/54, keine Folge gegeben. Die Entscheidung stützt sich dabei ausschließlich auf das schon genannte Gutachten des Chefarztes des Gefangenenhausspitales.

Gegen diese Entscheidung des Präsidenten des Oberlandesgerichtes Wien hat der Generalprokurator gemäß dem § 33 StPO die Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes mit der Begründung erhoben, daß der Präsident des Oberlandesgerichtes Wien in der angefochtenen Entscheidung als Organ eines Strafgerichtes aufgetreten sei, als solches aber zu Unrecht über eine gegen eine auf Grund des § 398 StPO erflossene Entscheidung des Präsidenten des Landesgerichtes für Strafsachen Wien ergriffene Beschwerde des Strafgefangenen Rudolf P***** entschieden habe, da gegen eine Entscheidung des Gerichtsvorstehers auf Grund des § 398 StPO ein weiterer Rechtszug nicht zulässig sei.

Rechtliche Beurteilung

Die Beschwerde ist begründet.

Die Strafprozeßordnung spricht im § 398 StPO aus, daß die Vollziehung, wenn der zum Tode oder zu einer Freiheitsstrafe Verurteilte zur Zeit, wo das Strafurteil in Vollzug gesetzt werden soll, geisteskrank oder körperlich schwer krank oder die Verurteilte schwanger ist, solange zu unterbleiben habe, bis dieser Zustand aufgehört hat. Nur dann kann der Vollzug einer Freiheitsstrafe auch gegen eine Schwangere eingeleitet werden, wenn die bis zu ihrer Entbindung fortdauernde Haft für sie härter sein würde als die zuerkannte Strafe. Die Strafprozeßordnung sagt aber im § 398 nichts darüber, wer diese Entscheidung zu treffen hat, noch auch, ob gegen eine solche Entscheidung ein Rechtsmittel offen steht und wer gegebenenfalls über ein solches Rechtsmittel zu entscheiden hat. Da der Wortlaut des § 398 StPO über diese Fragen nichts aussagt, muß gemäß dem § 7 ABGB der Rechtsfall nach dem natürlichen Sinn des Gesetzes entschieden und notfalls auf ähnliche, in den Gesetzen bestimmt entschiedene Fälle und auf die Gründe anderer damit verwandter Gesetze Rücksicht genommen werden.

Wie auch aus der Überschrift des XXIII sten Hauptstückes der Strafprozeßordnung, zu dem der § 398 gehört, ersichtlich ist, enthält der § 398 StPO die Regelung einer bei der Vollstreckung der Urteile auftauchenden Frage. Nach dem § 397 StPO wird die Vollstreckung des Strafurteiles, soweit nicht in der Strafprozeßordnung etwas anderes bestimmt ist, was aber, wie sich aus den Zitierungen anderer Gesetzesstellen im § 397 StPO ausdrücklich ergibt, für den § 398 StPO nicht zutrifft, von dem Vorsteher des Gerichtes angeordnet, welches in der Sache in erster Instanz erkannt hat. Nach der grundsätzlichen Regelung des § 397 StPO, und da dieser für die Fälle des § 398 StPO nichts anderes bestimmt, hat die im § 398 StPO vorgesehene Entscheidung der Vorsteher jenes Gerichtes zu treffen, welches in der Sache in erster Instanz erkannt hat. Diese Rechtsansicht hat auch der Oberste Gerichtshof in wiederholten Entscheidungen (vgl insbesondere die zu SSt IX/70 und XXII/89 veröffentlichten) ständig vertreten. Diese Rechtsansicht steht auch mit der Rechtslehre im Einklang (Lohsing-Serini, Österr. Strafprozeßrecht, Seite 638 ff, Roeder, System des österr. Strafverfahrensrechtes, Seite 455 ff, S.Mayer, Commentar zur österreichischen Strafprozeßordnung, IV.Band, Seite 540 ff, insbesondere Seite 545).

Es ergibt sich nun, vor allem im Hinblick auf die von der Generalprokuratur in der Nichtigkeitsbeschwerde aufgeworfene Frage, ob gegen eine solche Entscheidung des Gerichtsvorstehers überhaupt ein Rechtsmittel offensteht, und wer etwa über ein solches Rechtsmittel zu entscheiden hat, die Notwendigkeit, zu prüfen, ob der Gerichtsvorsteher, wenn er über die Frage entscheidet, ob der Strafvollstreckung eines der im § 398 StPO angeführten Hindernisse entgegensteht, in seiner Eigenschaft als unabhängiger Richter im Sinne des Artikel 87 des Bundesverfassungsgesetzes oder als diesfalls gemäß dem Absatz 2 des vorgenannten Artikels weisungsgebundenes Justizverwaltungsorgan tätig wird. Diese Frage ist im ersten Sinn zu entscheiden.

Aus den Bestimmungen der §§ 397 Abs. 2, 400, 401, 401 a, 409, 410 und 411 der Strafprozeßordnung und den verwandten Bestimmungen des Gesetzes über die bedingte Verurteilung 1949, des Arbeitshausgesetzes 1951 und des Jugendgerichtsgesetzes 1949, insbesondere seines § 51, ergibt sich, daß der Gesetzgeber zwar die Strafvollstreckung und den Strafvollzug grundsätzlich als Justizverwaltungssache ansieht, aber immer dann unabhängige Richter zur Entscheidung beruft, wenn sich die Notwendigkeit ergibt, zu der Frage Stellung zu nehmen, ob dem Verurteilten ein gesetzlich anerkanntes Interesse an einer Entscheidung in einem bestimmten Sinn, also ein subjektives Recht auf eine bestimmte Maßnahme zusteht, wie z.B. von der Vollstreckung der Strafe abzusehen oder sie erst nachträglich zu vollziehen, auf die Anrechnung einer Vorhaft auf die Strafe, auf die Gewährung eines Strafaufschubes oder einer Strafunterbrechung, auf die Verlängerung der Zahlungsfrist für die Entrichtung einer Geldstrafe oder auf Entrichtung einer Geldstrafe in Teilbeträgen, auf die Strafmilderung, auf die Befürwortung eines Gnadengesuches, auf die endgültige Nachsicht einer Strafe und ihrer Rechtsfolgen, auf die bedingte Entlassung aus der Strafhaft, auf das Endgültigwerden dieser Entlassung, auf den Aufschub der Unterbringung in einem Arbeitshaus, auf die vorläufige oder endgültige Entlassung aus dem Arbeitshaus, auf die Berücksichtigung der Eigenart des Strafgefangenen beim Strafvollzug usw.

Ein solches Recht auf eine bestimmte Maßnahme räumt auch der § 398 StPO dem Verurteilten ein, wie insbesondere die Fortbildung dieser Bestimmung im Arbeitshausgesetz 1951 (§ 6 Abs. 1 und 2 und im Gegensatz hiezu die Bestimmung des Absatzes 3 dieses Paragraphen) zeigt. Das Arbeitshausgesetz 1951 läßt aber auch klarer, als dies für den Fall des § 398 StPO zutrifft, erkennen, daß die Entscheidung darüber, ob ein Hindernis gegen die Vollziehung der Unterbringung im Arbeitshaus im Sinne der §§ 5 Abs. 2 und 3 und 6 Abs. 1 des Arbeitshausgesetzes 1951 vorliegt, Sache des Gerichtes ist. Dies ergibt sich insbesondere aus dem letzten Satz des § 9 Abs. 2 des genannten Gesetzes, wonach der Leiter des Arbeitshauses, also unzweifelhaft ein Justizverwaltungsorgan, wenn er in dringenden Fällen eine Verfügung auf Grund des § 6 des Arbeitshausgesetzes 1951 vorläufig trifft, über die Frage, ob und wielange etwa zwingende Gründe der Verwaltung ein vorläufiges Unterbleiben der Unterbringung geboten erscheinen lassen, die Entscheidung des Bundesministeriums für Justiz einzuholen hat, während die Entscheidung darüber, ob die Vollziehung aus den im § 6 Abs. 1 des Arbeitshausgesetzes 1951 angeführten Gründen unzulässig ist, dem zuständigen Richter zusteht. Trotzdem also der § 398 StPO ein Organ zur Entscheidung beruft, das vornehmlich mit Aufgaben der Justizverwaltung beschäftigt ist, ist doch die von diesem Organ in den Fällen des § 398 StPO getroffene Entscheidung eine richterliche Entscheidung im Sinne des Artikels 87 Absatz 1 des Bundesverfassungsgesetzes.

Auch die weitere Frage, ob gegen eine nach dem § 398 StPO ergangene Entscheidung des Gerichtsvorstehers ein ordentliches Rechtsmittel offensteht, läßt sich aus den übrigen Bestimmungen der Strafprozeßordnung, insbesondere den vorhin erwähnten, und jenen der neueren Strafverfahrensnebengesetze verläßlich beantworten. Vor allem spricht für die Bejahung dieser Frage die Bestimmung des § 114 StPO, derzufolge auch dort, wo in der Regel ein weiterer Rechtszug gegen die Entscheidung eines Gerichtes nicht stattfindet, ein solcher zulässig ist, wenn es sich um die Verhängung oder Aufhebung der Haft handelt. Daß es sich im § 114 StPO um einen für das gesamte Gebiet des Strafverfahrensrechtes geltenden Grundsatz handelt, dem ungeachtet der Regel, daß § 15 StPO kein allgemeines subsidiäres Beschwerderecht gegen Entscheidungen der Gerichtshöfe erster Instanz einräumt (vgl die unter SSt VIII/158, X/75 und XI/34 veröffentlichten Entscheidungen des Obersten Gerichtshofes), über das Vorverfahren hinaus im gesamten Gebiet des Strafverfahrensrechtes Bedeutung zukommt, zeigen gleichfalls die Bestimmungen der §§ 400, 401, 401 a, 410 und 411 StPO ebenso wie die der §§ 7 Abs. 1 und 17 des Gesetzes über die bedingte Verurteilung 1949 und der auf dieses Bezug nehmenden Bestimmungen des Arbeitshausgesetzes 1951 und im gewissen Sinn auch die der allerdings, da es sich hier um Jugendliche handelt, sogar noch weitergehenden Bestimmungen der §§ 21 Abs. 2 und 3 und 51 des Jugendgerichtsgesetzes 1949. Denn eines ausdrücklichen Ausschlusses eines solchen Rechtsmittels in den Fällen der §§ 401, 401 a, 410 und 411 StPO hätte es nicht bedurft, wenn nicht bei Fehlen einer ausdrücklichen gegenteiligen Bestimmung, wie sie die §§ 401, 401 a, 410 und 411 StPO aus praktischen Gründen enthalten, um einer endlosen und mutwilligen Befassung des Rechtsmittelgerichtes mit Beschwerden der Verurteilten und Strafgefangenen zu steuern, nach den allgemeinen Grundsätzen des österreichischen Strafverfahrensrechtes eine Beschwerde an sich zulässig wäre. Die ausdrückliche Aufnahme von Bestimmungen über das Beschwerderecht in den § 400 StPO und in die genannten strafverfahrensrechtlichen Nebengesetze dagegen ist durch die Normierung der Rechtsmittelfrist geboten. Daß es sich aber im Falle des § 398 StPO um eine Entscheidung über die Verhängung oder Aufhebung der Haft handelt, erhellt nicht nur daraus, daß die Anordnung des Unterbleibens der Strafvollziehung in allen jenen Fällen, wo nicht der nach Rechtskraft eines Strafurteils allein in Frage kommende Haftgrund des § 175 Z 2 StPO vorliegt, notwendig zur Enthaftung des Verurteilten oder dem Unterbleiben seiner Inhaftnahme führen muß, sondern auch aus der ausdrücklichen Bestimmung des letzten Satzes des § 398 StPO, der dem Gerichte eine Abwägung der für die Schwangere mit der Vollziehung der zuerkannten Strafe verbundenen Härten gegenüber den mit einer etwa bis zu ihrer Entbindung fortdauernden Haft zur Pflicht macht.

Nach den bisherigen Ausführungen ist aber auch unzweifelhaft erkennbar, daß über das den Parteien nach dem Gesetz gegen die Entscheidung des Gerichtsvorstehers in den Fällen des § 398 StPO offenstehende Rechtsmittel der Beschwerde, wenn die Entscheidung vom Vorsteher des Gerichtshofes erster Instanz getroffen wurde, im Sinne des § 15 StPO ein Drei-Richter-Senat des Oberlandesgerichtes zu entscheiden hat, soweit nicht die Bestimmungen des § 21 Abs. 3 des Jugendgerichtsgesetzes 1949 Anwendung zu finden haben, gegen die vom Vorsteher eines Bezirksgerichtes getroffene Entscheidung aber der Gerichtshof erster Instanz im Sinne des § 481 StPO, soweit nicht die Bestimmungen des § 21 Abs. 2 des Jugendgerichtsgesetzes Anwendung zu finden haben. Daß gegen deren Entscheidungen den Parteien kein weiteres ordentliches Rechtsmittel mehr offensteht, kann aus den Bestimmungen der §§ 295 Abs. 2 und 479 StPO abgeleitet werden. Dagegen findet das außerordentliche Rechtsmittel der Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes, da es sich in allen Fällen einer auf dem § 398 StPO beruhenden Entscheidung um die Entscheidung eines Strafgerichtes in einer bestimmten Strafsache handelt, auch in solchen Fällen Anwendung.

Dadurch, daß über die Beschwerde des Strafgefangenen Rudolf P***** gegen die Verfügung (richtig: den Beschluß) des Präsidenten des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 19. Februar 1954, 7 b S Vr 9086/53-19, der Präsident des Oberlandesgerichtes Wien und nicht ein Strafsenat des Oberlandesgerichtes Wien im Sinne des § 15 letzter Satz StPO entschieden hat, ist daher das Gesetz in den Bestimmungen der §§ 15 und 398 StPO verletzt worden.