JudikaturJustiz5Ob565/93

5Ob565/93 – OGH Entscheidung

Entscheidung
23. November 1993

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Jensik als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Zehetner, Dr. Klinger, Dr. Schwarz und Dr. Floßmann als weitere Richter in der Pflegschaftssache des mj. Benjamin S*****, geboren am ***** 1980, infolge außerordentlichen Revisionsrekurses der Eltern des Minderjährigen Renato S***** und Gertraud S*****, beide *****, beide vertreten durch Dr. Reinhard Kohlhofer, Rechtsanwalt in Wien, gegen den Beschluß des Landesgerichtes Innsbruck als Rekursgerichtes vom 13. August 1993, GZ 2 b R 115/93-6, womit der Rekurs der Eltern des Minderjährigen gegen den Beschluß des Bezirksgerichtes Rattenberg vom 15. Juli 1993, GZ P 60/93-2, zurückgewiesen wurde, folgenden

Beschluß

gefaßt:

Spruch

Dem außerordentlichen Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Der Beschluß des Rekursgerichtes wird aufgehoben.

Dem Rekursgericht wird die neuerliche Entscheidung über den Rekurs der Eltern des Minderjährigen unter Abstandnahme von dem gebrauchten Zurückweisungsgrund aufgetragen.

Text

Begründung:

Am Nachmittag des 14. Juli 1993 teilte ein Arzt der Universitätsklinik Innsbruck dem Erstgericht mit, daß der minderjährige Benjamin S***** eine Oberschenkelfraktur links erlitten habe und am Freitag, dem 16. Juli 1993 in der Früh operiert werden müsse. Im Rahmen dieser Operation sei damit zu rechnen, daß eine Bluttransfusion erforderlich sein könnte. Die Eltern des Minderjährigen erteilten wohl ihre Zustimmung zur Operation selbst, sie verweigerten jedoch aufgrund ihrer religiösen Überzeugung als Zeugen Jehovas die Zustimmung zu der allfällig erforderlich werdenden Bluttansfusion. Es werde daher ersucht, bis Donnerstag die erforderliche Zustimmung zur allfälligen Bluttransfusion zu erteilen. Aufgrund telefonischer Rücksprachen mit der Bezirkshauptmannschaft Kufstein und dem Vorstand der Universitätsklinik für Unfallchirurgie Innsbruck hielt das Erstgericht in einem Amtsvermerk fest, daß die genannte Bezirkshauptmannschaft bereit sei, die Sachwalterschaft für diesen Bereich zu übernehmen und daß die Zustimmung zur allfälligen Verwendung von Blutkonserven ohne weitere Rücksprache mit den Eltern im Rahmen dieser Sachwalterschaft erteilt werden würde; die Eltern seien wiederholt darüber belehrt worden, daß die Maßnahme medizinisch erforderlich werden könnte und daß über Einschalten des Gerichtes diese Zustimmung der Eltern ersetzt werden könne.

Mit Beschluß des Erstgerichtes vom 15. Juli 1993 (ON 2 dA) wurde den Eltern des Minderjährigen für den Bereich der erforderlichen Zustimmung zur Vornahme der allenfalls bei der bevorstehenden Operation des Minderjährigen notwendig werdenden Bluttransfusion an der Universitätsklinik für Unfallchirurgie in Innsbruck die Obsorge teilweise entzogen (Punkt 1) und die Bezirkshauptmannschaft Kufstein, Referat für Jugendwohlfahrt zum Sachwalter für den den Eltern laut Punkt 1) dieses Beschlusses entzogenen Bereich der Obsorge bestellt. Den Eltern komme wohl grundsätzlich die Obsorge, somit u.a. die die Wahrung des körperlichen Wohles und der Gesundheit des Kindes umfassende Pflege sowie die gesetzliche Vertretung ihres Kindes zu (§§ 144, 146 ABGB). Gemäß § 176 Abs 1 ABGB habe jedoch das Gericht die zur Sicherung des Wohles des Kindes notwendigen Verfügungen zu treffen, wenn die Eltern durch ihr Verhalten das Wohl des mj. Kindes gefährden. Dabei dürfe das Gericht die Obsorge für das Kind, auch gesetzlich vorgesehene Einwilligungs- und Zustimmungsrechte ganz oder teilweise entziehen und erforderlichenfalls einen Sachwalter bestellen (§ 145 b ABGB). Diese gesetzlichen Voraussetzungen lägen im gegenständlichen Fall vor. Wenn die Eltern ihre Zustimmung zu einer nach dem derzeitigen Stand der Medizin allenfalls erforderlichen Bluttransfusion im Rahmen einer Operation verweigerten, liege eine solche Gefährdung des Kindeswohles vor. Die Wahrung des körperlichen Wohls und der Gesundheit des Kindes könne nicht von religiösen Handlungsgeboten der Eltern abhängig sein. Es könne weder die Glaubens- noch die Gewissensfreiheit ins Treffen geführt werden, weil sich niemand einer elterlichen Pflicht durch Berufung auf entgegenstehende religiöse Anschauungen entschlagen könne. Diese Pflicht bestehe darin, im Falle der Notwendigkeit der Bluttransfusion bei der bevorstehenden Operation dieser zuzustimmen. Es sei daher aufgrund der Weigerung der Eltern im Interesse des Kindeswohls für diesen Bereich der gesetzlichen Vertretung ein besonderer Sachwalter zu bestellen und insoweit den Eltern die gesetzliche Vertretungsbefugnis gemäß § 176 ABGB zu entziehen gewesen.

Das Gericht zweiter Instanz wies den von den Eltern des Minderjährigen gegen diesen Beschluß erhobenen Rekurs mangels Beschwer zurück, wobei es aussprach, daß der Revisionsrekurs nach § 14 Abs 1 AußStrG nicht zulässig sei.

Insoweit sich die Rekursausführungen mit der Möglichkeit von Alternativbehandlungsmethoden zu dem in der Unfallchirurgie in Innsbruck in Aussicht genommenen operativen Eingriff auseinandersetzten und geltend gemacht werde, daß die Operation gar nicht dringend notwendig gewesen wäre, sei zunächst darauf zu verweisen, daß das Erstgericht mit dem angefochtenen Beschluß ja nicht die erforderliche Zustimmung der Rekurswerber zur Vornahme der Operation an sich ersetzt habe bzw. diesen insoweit ihre gesetzliche Vertretungsbefugnis entzogen hätte, sondern vielmehr bei seiner Entscheidung das Einverständnis der Eltern zum operativen Eingriff an sich vorausgesetzt habe. Das Erstgericht habe den besonderen Sachwalter nur für den Fall bestellt, daß sich bei der mit Zustimmung der Eltern für 16. Juli 1993 angesetzten Operation die medizinisch begründete Notwendigkeit einer Bluttransfusion erweisen sollte und hiefür - also im Rahmen der Operation - von den behandelnden Ärzten eine Zustimmung benötigt werden würde. Trotz des hier bekämpften Beschlusses sei also den Eltern die pflichtgemäß im Interesse des Kindes vorzunehmende Entscheidung verblieben, ob überhaupt die Operation von der Unfallchirurgie in Innsbruck vorgenommen werden oder aber eben eine medizinisch gleichwertige Behandlungsmethode stattfinden solle, wie sie nun offenbar nach den Behauptungen der Rekurswerber von der Klinik in Graz durchgeführt worden sei. Die Rekursausführungen setzten rechtsirrtümlich voraus, daß dem Rekurswerber mit dem bekämpften Beschluß das Recht zur Entscheidung über die Vornahme der ärztlichen Behandlung überhaupt entzogen worden wäre.

Entgegen ihrer Auffassung seien die Rekurswerber durch die Entscheidung des Erstgerichts in ihrem durch Art 8 MRK, § 16 ABGB geschützten Persönlichkeitsrecht auf Achtung ihres Familienlebens nicht verletzt worden. Da die Rekurswerber sich nicht für die Vornahme des operativen Eingriffs an der Universitätsklinik Innsbruck entschieden hätten, sondern vielmehr die erforderliche Operation im Sinne einer nach ihrer Auffassung besseren Behandlung an der Universitätsklinik in Graz hätten durchführen lassen, habe der Beschluß des Erstgerichts keine Wirkung entfalten können und werde er auch in der Zukunft keinerlei Bedeutung haben. Der Beschluß stelle ausdrücklich auf die für 16. Juli 1993 in Aussicht genommene Operation an der Universitätsklinik in Innsbruck ab, sodaß die vom Erstgericht im Rahmen dieser Operation verfügte Entziehung der Entscheidungsbefugnis der Eltern für eine medizinisch erforderliche Bluttransfusion nicht mehr durchgeführt werden könne. Da somit bisher keine ärztliche Behandlung im Sinne des Beschlusses des Erstgerichts erfolgt sei und eine solche in Zukunft nicht erfolgen könne, bestehe kein Rechtsschutzinteresse mehr an einer Beseitigung des Beschlusses (vgl 2 Ob 550/91). Die von der Rechtsprechung im Fall der Verletzung von verfassungsgesetzlich geschützten Persönlichkeitsrechten durch Gerichtsbeschlüsse herausgearbeiteten Rechtsgrundsätze, wonach der davon in seinen Rechten Beeinträchtigte auch noch nach Aufhebung der durchgeführten Maßnahmen weiterhin ein rechtliches Interesse an der Feststellung der Rechtmäßigkeit oder Unrechtmäßigkeit des Eingriffes habe (vgl SZ 60/12; SZ 39/83; 1 Ob 776/82; 2 Ob 724/86; EFSlg 44.490, 64.557 ua), kämen im vorliegenden Fall nicht zum Tragen, weil letztlich die vom Erstgericht eventualiter verfügte Entziehung der Vertretungsbefugnis der Rekurswerber keine Wirkungen habe entfalten können. Da die in Aussicht genommene Operation nicht stattgefunden habe und im Sinne des bekämpften Beschlusses nie stattfinden werde, habe im Ergebnis kein Eingriff in das verfassungsgesetzlich geschützte Grundrecht stattgefunden, sodaß der Entscheidung des Rekursgerichts nur mehr theoretisch-abstrakte Bedeutung zukäme.

Da Voraussetzung für die Zulässigkeit eines Rechtsmittels eine Beschwer sei, die auch zur Zeit der Entscheidung über das Rechtsmittel vorhanden sein müsse (EFSlg 37.219, 44.484, 58.218 ua), sei der Rekurs zurückzuweisen gewesen. Demgemäß komme dieser Entscheidung qualifizierte Bedeutung iS des § 14 Abs 1 AußStrG nicht zu, weshalb auch keine Veranlassung bestanden habe, den ordentlichen Revisionsrekurs für zulässig zu erklären.

Gegen diese Entscheidung des Gerichtes zweiter Instanz richtet sich der außerordentliche Revisionsrekurs der Eltern des Minderjährigen, der zulässig und auch berechtigt ist.

Rechtliche Beurteilung

Vorweg ist festzuhalten, daß Gegenstand des vorliegenden Verfahrens - wie das Rekursgericht auch zutreffend erkannte - nicht die Frage ist, ob wegen der Knochenfraktur, die der Minderjährige erlitten hat, die in der Universitätsklinik für Unfallchirurgie in Innsbruck in Aussicht genommene Operation, in deren Verlauf die Durchführung einer Bluttransfusion möglich sein könnte, vorgenommen werden soll oder in einem anderen Krankenhaus eine Heilbehandlung durchzuführen sein werde, bei der eine Bluttransfusion auszuschließen ist, vielmehr nur zur Entscheidung stand, ob für den Fall, als im Zuge der vorgesehenen Operation eine Bluttransfusion erforderlich werden sollte, diese durchgeführt werden darf. Denn nach dem an das Erstgericht herangetragenen Sachverhalt - nach der Bestimmung des § 176 Abs 1 ABGB hat das Gericht tätig zu werden, "von wem immer es angerufen wird" - war davon auszugehen, daß die Eltern mit der Durchführung der vorgesehenen Operation einverstanden waren und lediglich ihre Zustimmung zu der vielleicht erforderlich werdenden Bluttransfusion verweigert haben. Damit gehen aber auch die im Revisionsrekurs zur Möglichkeit alternativer Behandlungsmethoden, die mit den religiösen Vorstellungen der Rechtsmittelwerber vereinbar seien, erstatteten Ausführungen am Kern der hier zu lösenden Rechtsfrage vorbei, sodaß auf sie nicht einzugehen ist.

Mit Recht wenden sich jedoch die Revisionsrekurswerber gegen die Ansicht des Rekursgerichtes, ihrem Rechtsmittel fehle eine Beschwer. Art 13 MRK gewährt im Falle der Verletzung von in der MRK festgelegten Rechten und Freiheiten dem Verletzten das Recht, von einer nationalen Instanz wirksam Abhilfe gegen die Verletzung zu suchen. Es handelt sich dabei um einen Rechtsweganspruch, der zu den materiellen, in Art 2 bis 12 MRK festgelegten Rechten hinzutritt (Eberhard in Ermacora-Nowak-Tretter, HdB zur MRK 524; EvBl 1993/33; 2 Ob 539/93) und jedermann zusteht, der behauptet, in einem solchen Recht verletzt worden zu sein (Eberhard aaO 526; EvBl 1993/33; 2 Ob 539/93; Aus Art 13 MRK erwächst aber nicht nur dem einzelnen ein entsprechendes Individualrecht, diese Bestimmung schafft vielmehr auch eine Verpflichtung des Staates zur Gewährung eines wirksamen Rechtsschutzes (vgl. Eberhard aaO 540, Komm zu VfSlg 5089/65; EvBl 1993/33; 2 Ob 539/93). Soll aber dem Verletzten im Falle der Behauptung einer Verletzung von Konventionsrechten ein wirksamer Rechtsweganspruch eingeräumt werden, dann sind die vom Staat gewährten Rechtsschutzeinrichtungen im Lichte des Art 13 MRK auszulegen. Daraus folgt, daß der Beeinträchtigte bei behaupteten Verstößen gegen die in der MRK festgelegten Rechte und Freiheiten auch noch nach Beendigung der gegen ihn - auch von Personen, die in amtlicher Eigenschaft gehandelt haben - getroffenen Maßnahme ein rechtliches Interesse an der Feststellung hat, ob die Maßnahme zu Recht geschehen ist (vgl EvBl 1993/33; 2 Ob 539/93).

Im vorliegenden Fall behaupten die Rechtsmittelwerber, das Erstgericht habe mit seiner Entscheidung ihre Persönlichkeitsrechte gemäß Art 8 MRK, § 16 ABGB und ihr Recht auf rechtliches Gehör (Art 6 MRK) verletzt. Nach Art 8 Abs 1 MRK hat jedermann Anspruch auf Achtung - unter anderem - seines Familienlebens. Art 8 Abs 2 MRK normiert die Grundlagen für die Einschränkungen (ua) dieses Konventionsrechtes. Nach der Rechtsprechung sowohl der Europäischen Kommission für Menschenrechte und des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte als auch des Verfassungsgerichtshofes umfaßt der Begriff "Familienleben" iS des Art 8 MRK jedenfalls auch die Beziehungen zwischen den Ehegatten und ihren ehelichen Kindern (VfGH 22.6.1989, G 142, 168/88 veröffentlicht in ZfRV 1990, 215; Dohr in Ermacora-Nowak-Tretter, Die EMRK in der Rechtsprechung der österreichischen Höchstgerichte, 400; Guradze, Die EMRK 119; Frowein-Peukert, EMRK-Kommentar 200 f). Die vom Erstgericht gesetzte Maßnahme stellte ohne Zweifel eine Beschränkung des Grundrechtes der Eltern auf Achtung ihres Familienlebens dar, zumal den Eltern im Rahmen einer dringlich und wichtig erscheinenden Angelegenheit die elterliche Obsorge teilweise entzogen wurde und insoweit die Rechte einem Sachwalter übertragen wurden. Daß es letztlich doch nicht zu einer Ausübung des dem Sachwalter übertragenen Rechtes gekommen ist, ändert nichst daran, daß den Eltern jedenfalls während der Zeit, in der die Operation noch im Raum stand, das Obsorgerecht zum Teil entzogen war. Den Revisionsrekurswerbern kann daher - entgegen der Ansicht des Rekursgerichtes - das rechtliche Interesse an der Feststellung nicht abgesprochen werden, ob diese Maßnahme des Gerichtes durch Art 8 Abs 2 MRK gedeckt oder zu Unrecht ergangen ist. Die Entscheidung 2 Ob 550/91, auf die sich das Rekursgericht zur Stützung seiner Rechtsmeinung berief, betraf einen anders gelagerten Sachverhalt. In jenem Fall hatte der Betroffene von der Möglichkeit keinen Gebrauch gemacht, die Zulässigerklärung einer bereits vorgenommenen Unterbringung in einer geschlossenen Abteilung eines Krankenhauses zu bekämpfen, weshalb insoweit der aus Art 13 MRK abzuleitende Feststellungsanspruch nicht zum Tragen gekommen war; anderseits ist der Ausspruch des Gerichtes über die Zulässigkeit einer in Aussicht genommenen Behandlung des Kranken nicht wirksam geworden, weil dem Rekurs gegen den diesbezüglichen Beschluß gemäß § 38 Abs 2 UbG aufschiebende Wirkung zugekommen war. Da die Behandlung wegen Aufhebung der Unterbringung nicht durchgeführt worden war und auf Grund des - nicht wirksam gewordenen - Beschlusses des Erstgerichtes auch in Zukunft nicht mehr hätte durchgeführt werden können, wurde das Rchtsschutzinteresse des Patientenanwaltes an der Bekämpfung des Beschlusses, mit dem die Heilbehandlung für zulässig erklärt wurde - die Feststellung, daß durch eine Behandlung das Recht der Patientin auf Freiheit und Sicherheit gemäß Art 5 MRK verletzt worden wäre, kam ja nicht in Frage - verneint.

Das Rekursgericht ist somit zu Unrecht vom Fehlen einer Beschwer und damit von der Unzulässigkeit des Rekurses der Eltern des Minderjährigen gegen den erstinstanzlichen Beschluß ausgegangen.

Es mußte daher dem Revisionsrekurs Folge gegeben, der Zurückweisungsbeschluß aufgehoben und dem Rekursgerichte die neuerliche Entscheidung über den Rekurs unter Abstandnahme von dem gebrauchten Zurückweisungsgrund aufgetragen werden.

Rechtssätze
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