JudikaturJustiz2Ob295/97i

2Ob295/97i – OGH Entscheidung

Entscheidung
09. Oktober 1997

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Angst als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Graf, Dr.Schinko, Dr.Tittel und Dr.Baumann als weitere Richter in der Pflegschaftssache der am 23.August 1985 geborenen Leopoldine W***** und der am 28.April 1988 geborenen Jacqueline R*****, infolge der Revisionsrekurse der Mutter Andrea B*****, vertreten durch DDr.Peter Stern, Rechtsanwalt in Wien, sowie des Amtes für Jugend und Familie für den 3.Bezirk, ***** gegen den Beschluß des Jugendgerichtshofes Wien als Rekursgerichtes vom 22. August 1997, GZ 1 R 39/97v-158, womit der Beschluß des Jugendgerichtshofes Wien vom 13.Mai 1997, GZ 8 P 1243/95h-126, bestätigt wurde, den

Beschluß

gefaßt:

Spruch

Den Rekursen wird nicht Folge gegeben.

Text

Begründung:

Die am 23.8.1985 geborene Leopoldine ist eine eheliche Tochter der Andrea B***** und des Otmar W*****, die am 28.4.1988 geborene Jacqueline entstammt der Lebensgemeinschaft der Mutter mit einem anderen Mann. Beide Kinder lebten zunächst im Haushalt der Mutter, wo sie jedoch wiederholt körperlichen Mißhandlungen des Lebensgefährten der Mutter und Vaters von Jacqueline ausgesetzt waren. Im Jahre 1990 wurden die Kinder bei einer Pflegefamilie untergebracht und der Mutter mit Beschluß vom 1.3.1991 die Obsorge im Bereich der Pflege und Erziehung entzogen und in diesem Umfange dem zuständigen Jugendwohlfahrtsträger übertragen und die volle Erziehung im Rahmen der Gemeindepflege angeordnet. Dies geschah im wesentlichen mit der Begründung, die Mutter sei äußerst einfach strukturiert, lebensuntüchtig und willensschwach; sie sei nicht in der Lage, die Kinder zu schützen und ihre Lebensumstände zu ändern. Beide Kinder lebten in der Folge bei den Pflegeeltern im Burgenland.

Am 2.9.1996 wurden die Pflegebefohlenen über Auftrag des Jugendwohlfahrtsträgers zur psychologischen Behandlung nach Wien gebracht. Am 31.10.1996 wurde den Pflegeeltern eröffnet, daß die Kinder für immer aus ihrer Pflege herausgenommen und in Heimpflege übernommen werden, um sie später zur leiblichen Mutter zurückzuführen. Jeglicher Kontakt zwischen Pflegeeltern und Kindern werde abgebrochen. Am 14.11.1996 wurden die Pflegebefohlenen in ein Landesjugendheim in Niederösterreich überstellt.

Das Erstgericht übertrug die Obsorge über die beiden Mädchen im vollen Umfang des § 144 ABGB den (früheren) Pflegeeltern und wies den Antrag der Mutter, ihr die Obsorge rückzuübertragen, ab. In Unterstützung der Erziehung der Minderjährigen wurde den Pflegeeltern der Auftrag erteilt, die Kinder unverzüglich einer psychotherapeutischen Betreuung zur Aufarbeitung ihrer Beziehungsproblematik zuzuführen, wobei an dieser Psychotherapie auch die frühere Pflegemutter teilzunehmen habe. Die laufende psychotherapeutische Behandlung der Kindesmutter wurde pflegschaftsbehördlich zustimmend zur Kenntnis genommen und derzeit jedes weitere Besuchsrecht der Kindesmutter und ihres jetzigen Gatten aufgehoben.

Nach den vom Erstgericht getroffenen und vom Rekursgericht übernommenen Feststellungen erfuhren die beiden Pflegebefohlenen erstmals von ihren Pflegeeltern Liebe und Geborgenheit in einer intakten Familie, sie wurden in diese wie auch in die Ortsgemeinschaft voll integriert und mit äußerstem Bemühen aufgezogen und gefördert. Zufolge dieser Zuwendung entwickelten sie enge familiäre Beziehungen zu den Pflegeeltern und zu deren, nun schon erwachsenen Söhnen, aus denen eine enge gegenseitige Bindung erwuchs. Die Mitglieder der Pflegefamilie sind die einzigen Bezugspersonen, denen die beiden Pflegebefohlenen in Liebe zugetan sind und in deren Kreis und Lebensumfeld sie ihre alleinige Zukunftsperspektive sehen. Versuche der leiblichen Mutter, durch ein Besuchsrecht wieder Kontakte zu den Kindern aufzubauen, hatten eine psychische Destabilisierung der Minderjährigen zur Folge, die ihre leidvolle Vergangenheit mehr oder minder der leiblichen Mutter anlasten und ausgesprochenen Haß auf diese erkennen lassen. Die Problematik wird noch durch erhebliche Beziehungsprobleme zwischen den beiden "Müttern" verstärkt, die nicht beseitigt werden konnten und bei den Minderjährigen zu einem Solidaritätskonflikt führten. Dies veranlaßte schließlich den Jugendwohlfahrtsträger, die Mädchen aus der Pflegefamilie herauszunehmen und in Heimpflege unterzubringen. Die abrupte Unterbrechung der langjährigen familiären Beziehung zwischen Pflegeeltern und Kindern stieß auf völliges Unverständnis, entwurzelte die beiden Mädchen, hinderte deren weitere harmonische Entwicklung und verstärkte geradezu die Abneigung gegen die leibliche Mutter. Wiederholte Äußerungen der Kinder ließen erkennen, wie sehr sie unter der Trennung von der Pflegefamilie litten.

In rechtlicher Hinsicht führte das Erstgericht aus, die vom Jugendwohlfahrtsträger getroffene Maßnahme der Herausnahme der beiden Mädchen aus der Pflegefamilie nach mehrjähriger Unterbringung diene keinesfalls dem Kindeswohl. Auch nach den Ausführungen des Sachverständigen sei eine Übernahme der Kinder durch die Mutter nicht sicher und erst nach einer Persönlichkeits- und Erziehungsberatung überhaupt denkbar. Daraus ergebe sich aber, daß die Kinder auf unbestimmte Zeit das Leben von Heimkindern zu führen hätten. Diese ungewisse Zukunft sei ihnen nicht zuzumuten. Vielmehr seien die Kinder in die Obsorge der Pflegeeltern zurückzuführen, um ihre ruhige erzieherische Entwicklung fortzusetzen, wobei es jedoch zur Bewältigung der Vergangenheit und zur Aufarbeitung der Beziehungsproblematik einer psychologischen Therapierung der Kinder und auch der Pflegemutter bedürfe. Ein Besuchsrecht der leiblichen Mutter sei im gegenwärtigen Zeitpunkt zufolge der Abneigung seitens beider Kinder wie auch im Hinblick auf das gestörte Verhältnis zwischen leiblicher Mutter und Pflegemutter abzulehnen, um neuerliche, auch psychosomatische Schäden der Pflegebefohlenen hintanzuhalten. Durch die Übertragung der Obsorge auch im Bereich der gesetzlichen Vertretung an die Pflegeeltern solle im Interesse der Kinder den zu erwartenden massiven Animositäten und Anfeindungen zwischen Mutter und Pflegeeltern vorgebeugt werden.

Das von der Mutter und vom Amt für Jugend und Familie angerufene Rekursgericht bestätigte diese Entscheidung und sprach aus, der ordentliche Revisionsrekurs sei zulässig.

Das Rekursgericht wies darauf hin, daß die beiden Pflegebefohlenen praktisch sechs Jahre voll integriert in der Familie der Pflegeeltern wohlversorgt aufwuchsen. Die Pflegeeltern seien allerdings lediglich als Erfüllungsgehilfen des Jugendwohlfahrtsträgers tätig geworden und daher weisungsgebunden gewesen. Demzufolge habe der obsorgeberechtigte Jugendwohlfahrtsträger auch die Ausübung der Obsorge wieder zurückfordern und anderen Personen übertragen können.

Gemäß § 186 a ABGB habe das Gericht Pflegeeltern auf ihren Antrag die Obsorge für das Kind ganz oder teilweise zu übertragen, wenn eine dem Verhältnis zwischen leiblichen Eltern und Kindern nahekommende Beziehung bestehe, das Pflegeverhältnis nicht nur für kurze Zeit beabsichtigt sei und die Übertragung dem Wohl des Kindes entspreche. Diese Voraussetzungen seien im vorliegenden Fall gegeben. Die Pflegebefohlenen seien jahrelang bei den Pflegeeltern in behüteten Verhältnissen aufgewachsen, sie seien sehr gut integriert und versorgt und den Pflegeeltern emotional sehr zugetan. Wenngleich die Pflegemutter als emotionell wenig aus sich herausgehend beschrieben worden sei, seien ihr jedoch in pflegerischer Hinsicht keine Vorwürfe gemacht worden. Erst mit der Wiederaufnahme persönlicher Kontakte der leiblichen Mutter habe sich eine Beziehungsproblematik, vor allem zwischen den beiden "Müttern", entwickelt, die letztlich auch die Kinder psychisch belastet und in einen Loyalitätskonflikt hineingetrieben habe. Es sei auch nicht zu übersehen, daß die beiden Pflegebefohlenen in ein positives Lebensumfeld hineingewachsen seien, in das zurückzukehren sie sich wünschten, wie aus wiederholten Äußerungen zu entnehmen sei. Demgegenüber bestehe zur leiblichen Mutter nur wenig emotionale Beziehung, weshalb auf längere Zeit eine Rückführung zu dieser nicht in Betracht komme und demgemäß eine "Heimkarriere" zu befürchten sei. Es sei nicht abzusehen, ob und wann eine Übernahme der Kinder durch die Kindesmutter in Frage komme, weshalb die Gefahr eines länger dauernden, dem Kindeswohl sicher nicht förderlichen Heimaufenthaltes gegeben sei.

Die vom Erstgericht beschlossene Übertragung der Obsorge auf die Pflegeeltern entspreche dem Wunsch der Pflegebefohlenen, während das vom Jugendwohlfahrtsträger ins Auge gefaßte Ziel einer Rückführung der Kinder in den Haushalt der Mutter derzeit nur als eine in weiterer Zukunft liegende Möglichkeit zu sehen sei, weshalb die bis dahin vorgesehene Heimunterbringung als dem Kindeswohl dienend in Frage gestellt werden müsse.

Dagegen richten sich die Revisionsrekurse des Jugendwohlfahrtsträgers und der Mutter. Die Rechtsmittel sind nicht berechtigt.

In beiden Rechtsmitteln wird darauf hingewiesen, daß die Mutter die Obsorge hatte und der Übertragung an die Pflegeeltern nicht zustimmte. In einem solchen Fall setze die Übertragung der Obsorge im vollen Umfang des § 144 ABGB gemäß § 186 a Abs 2 ABGB voraus, daß ohne diese Übertragung der Obsorge auf die Pflegeeltern das Wohl der Kinder gefährdet wäre. Eine derartige Gefährdung des Kindeswohles liege aber nicht vor. Die Übertragung der gesamten Obsorge solle nur in Ausnahmefällen als letztes Mittel der Kindeswohlförderung in Betracht kommen.

Rechtliche Beurteilung

Im Revisionsrekurs des Jugendwohlfahrtsträgers wird noch beantragt, der Mutter ein Besuchsrecht im Sinne des Sachverständigengutachtens einzuräumen und wird schließlich noch die Frage releviert, ob das Verbringen der Kinder durch die Pflegeeltern aus dem Heim gegen den Willen des Wohlfahrtsträgers durch § 12 AußStrG gedeckt sei.

Hiezu wurde erwogen:

Gemäß § 186 a Abs 1 ABGB hat das Gericht Pflegeeltern auf ihren Antrag die Obsorge für das Kind ganz oder teilweise zu übertragen, wenn eine dem Verhältnis zwischen leiblichen Eltern und Kindern nahekommende Beziehung besteht, das Pflegeverhältnis nicht nur für kurze Zeit beabsichtigt ist und die Übertragung dem Wohl des Kindes entspricht. Diese allgemeinen Voraussetzungen der Obsorgeübertragung an die Pflegeeltern sind im vorliegenden Fall ohne jeden Zweifel gegeben, wenngleich die Übertragung der gesamten Obsorge nur in Ausnahmefällen als letztes Mittel der Kindeswohlförderung in Betracht kommt (SZ 64/119). Hiezu kann auf die zutreffenden Ausführungen der Vorinstanzen verwiesen werden.

Gemäß § 186 a Abs 2 ABGB darf aber ohne Zustimmung der Eltern oder Großeltern, die die Obsorge haben oder sie gehabt haben, die Übertragung nur verfügt werden, wenn ohne sie das Wohl des Kindes gefährdet wäre. Das Gesetz räumt also den Eltern, die vor dem Pflegschaftsvertrag obsorgeberechtigt waren, ein relatives Vetorecht ein. Dieses kann nur übergangen werden, wenn anders die Gefahr für

das Kindeswohl bestünde (SZ 63/204 = IPrax 1992, 106 = ZfRV 1991, 476

[Pichler] = EFSlg 62.975; EFSlg 66.157; 6 Ob 525/94 [zum Teil

veröffentlicht in EFSlg 75.211]). Der Begriff des Kindeswohls hat mehrere Dimensionen, er umfaßt das körperliche, geistige und seelische Wohl des Kindes. Elternliebe, Fürsorge und Vermittlung von Geborgenheit sind Grundlagen für die Verwirklichung des Kindeswohls (SZ 59/184 = EFSlg 51.358 = AV 1987, 53 = JBl 1987, 39 = ÖA 1987, 53; 1 Ob 2396/96a). Eine Gefährdung des Kindeswohles droht im vorliegenden Fall, wenn nicht die Obsorge den Pflegeeltern übertragen wird. Die vom bisher obsorgeberechtigten Jugendwohlfahrtsträger geplanten Maßnahmen entsprechen nämlich nach Ansicht des erkennenden Senates nicht dem Wohl der Pflegebefohlenen. Wie die Vorinstanzen bereits zutreffend ausgeführt haben, kann derzeit noch nicht gesagt werden, ob und wann die Mutter der beiden Pflegebefohlenen in der Lage sein wird, selbst die Obsorge zu übernehmen. Die beiden Pflegebefohlenen nun auf ungewisse Zeit in einem Heim unterzubringen und aus ihrer bisherigen Umgebung, in der sie eine liebevolle Pflege und Erziehung erfahren haben und in der sie sich auch wohl fühlen, herauszureißen, widerspricht nach Ansicht des erkennenden Senates dem Kindeswohl und gefährdet dieses. Dieser Gefährdung des Kindeswohles kann nur dadurch wirksam begegnet werden, daß die Obsorge den Pflegeeltern im vollen Umfang übertragen wird, wodurch auch die Kinder noch mehr als vorher in die Pflegefamilie integriert werden können (s SZ 64/119). Den Problemen, die von seiten der Pflegemutter ausgehen, sind die Vorinstanzen dadurch begegnet, daß sie angeordnet haben, diese habe an der psychotherapeutischen Betreuung der Kinder zur Aufarbeitung ihrer Beziehungsproblematik aktiv teilzunehmen.

Im Hinblick auf die nach Ansicht des erkennenden Senates gegebene Gefährdung des Kindeswohles braucht auf die Frage, ob es nicht im vorliegenden Fall der Zustimmung der Mutter gar nicht bedurft hätte, weil § 186 a Abs 2 teleologisch zu reduzieren wäre (siehe hiezu Pichler in Rummel2 Rz 2 zu § 186a und Schwimann in Schwimann, Rz 4 zu § 186 a), nicht eingegangen zu werden.

Wegen der emotional besonders aufgeladenen Situation bestehen auch keine Bedenken, derzeit der Mutter kein Besuchsrecht einzuräumen, um auf diese Weise eine Beruhigung der Kinder wieder herbeiführen zu können.

Auf die Frage der Vollstreckbarkeit der Entscheidung des Rekursgerichtes ist nicht einzugehen, diese ist nicht Gegenstand des angefochtenen Beschlusses.

Den Revisionsrekursen der Mutter und des Jugendwohlfahrtsträgers war deshalb keine Folge zu geben.

Rechtssätze
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