JudikaturJustiz2Ob28/99b

2Ob28/99b – OGH Entscheidung

Entscheidung
11. Februar 1999

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Niederreiter als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Schinko, Dr. Tittel, Dr. Baumann und Hon. Prof. Dr. Danzl als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Wilhelm H*****, vertreten durch Dr. Wilfried Mayer, Rechtsanwalt in Gmunden, wider die beklagten Parteien 1.) Franz Josef K*****, 2.) P***** GmbH, ***** und 3.) ***** Versicherungs AG, ***** alle vertreten durch Dr. Manfred Trentinaglia und Dr. Clemens Winkler, Rechtsanwälte in Kitzbühel, wegen S 102.806,20 sA und Feststellung (Streitwert S 10.000,--), infolge Revision der klagenden und der zweit- und drittbeklagten Parteien gegen das Urteil des Landesgerichtes Wels als Berufungsgericht vom 28. Oktober 1998, GZ 22 R 377/98t-14, womit das Urteil des Bezirksgerichtes Gmunden vom 29. Juli 1998, GZ 2 C 1769/97v-7, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluß

gefaßt:

Spruch

Beide Revision werden zurückgewiesen.

Die zweit- und drittbeklagten Parteien haben der klagenden Partei die mit S 4.464,77 (darin enthalten S 744,13 USt) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen und die Kosten ihrer Revisionsbeantwortung selbst zu tragen.

Text

Begründung:

Am 25. 10. 996 ereignete sich im Ortsgebiet von Vorchdorf auf der Kreuzung der Lindacher-Bezirksstraße mit der Vorchdorfer-Bezirksstraße ein Verkehrsunfall zwischen dem Erstbeklagten als Lenker des von der zweitbeklagten Partei gehaltenen, bei der drittbeklagten Partei haftpflichtversicherten LKWs, und der Ehefrau des Klägers, die bei dem Unfall getötet wurde. Die Ehefrau des Klägers wollte die Lindacher-Bezirksstraße von rechts nach links überqueren, wobei sie von dem von der Lindacher-Bezirksstraße nach links in die Vorchdorfer-Bezirksstraße abbiegenden LKW erfaßt, zu Boden gestoßen und vom rechten Vorderreifen überrollt wurde.

Der Erstbeklagte wurde vom Vorwurf der fahrlässigen Tötung nach § 80 StGB rechtskräftig freigesprochen.

Der Erstbeklagte lenkte den LKW der zweitbeklagten Partei auf der Lindacher Bezirksstraße in Richtung zur Kreuzung mit der Vorchdorfer Bezirksstraße. Er kam zunächst hinter einem PKW zum Stillstand, der vor ihm in die Kreuzung einfuhr. Sodann fuhr der Erstbeklagte langsam soweit vor, daß er mit der Vorderfront des LKW die auf der Lindacher Bezirksstraße aufgetragene Haltelinie um ca 3 m überfuhr. Sodann hielt er den LKW in einer leichten Schrägstellung nach links an. In dieser Position stand der LKW rund zwei Minuten, weil auf der Vorchdorfer Bezirksstraße ein reger Querverkehr herrschte. Die Lindacher Bezirksstraße ist gegenüber der Vorchdorfer Bezirksstraße durch das Verkehrszeichen "Halt" abgewertet. Dieses Zeichen ist an der Ecke der westlichen Fassade des Hauses Lindacher Straße 1 angebracht. Zur gleichen Zeit stand Johann S***** mit seinem PKW rund 3 m vor einer Ordnungslinie, die sich auf einer rund 4 m breiten unbenannten Straße zwischen den Häusern Lambacher Straße 11 und Lindacher Straße 1 befindet. Auch diese Straße ist gegenüber der Vorchdorfer Bezirksstraße abgewertet. Die Ehefrau des Klägers überquerte vor dem haltenden PKW des Johann S***** die unbenannte Straße vor dem Hause Lambacher Straße 11 in Richtung zum Gehsteig vor dem Hause Lindacher Straße 1. Sie war im 64. Lebensjahr, 1,60 m groß und korpulent und wirkte für einen unbefangenen Beobachter eher gebrechlich, auch wenn sie keine Gehbehinderung aufwies und keinen Stock trug. Sie überquerte sodann vom Gehsteig vor dem Haus Lambacher Straße 11 weg die unbenannte Straße geradlinig in Richtung Westen und hielt ein unterdurchschnittlich langsames Gehtempo von etwa einem Meter pro Sekunde ein. Nach einer Strecke von rund 3 m schwenkte sie etwas nach rechts, ging an der Rundung des Gehsteiges vor dem Hause Lindacher Straße 1 in einer Entfernung von rund 1 m vorbei und sodann in nordwestlicher Richtung geradlinig auf die rechte vordere Ecke des LKW der zweitbeklagten Partei zu. Sie wollte die Kreuzung zum Hause Lambacher Straße 15 überqueren. Die Ehefrau des Klägers legte von dem genannten Rechtsschwenk bis zur Höhe der Frontmitte des LKW eine Wegstrecke von 5,2 m zurück und benötigte dafür 5,2 Sekunden. Sie war über 3,2 Sekunden für den Erstbeklagten nicht sichtbar, weil eine 1,60 m große Person, die auf die rechte vordere Ecke des LKW zugeht, vom erhöhten Fahrersitz aus ab einer Entfernung von 2 m seitlich der rechten vorderen Fahrzeughälfte des LKW nicht mehr gesehen werden kann, wenn ihr Abstand von der Front nur bis zu etwa 0,75 m beträgt. Der Erstbeklagte hätte die beginnende Überquerung der Kreuzung durch die Ehefrau des Klägers nur auf den ersten zwei Metern wahrnehmen können, wenn er in diesen zwei Sekunden in diese Richtung geschaut hätte. Die Ehefrau des Klägers wollte in einem Abstand von rund 40 cm zur Front des LKW die Kreuzung überqueren. Nachdem die Erstbeklagte rund zwei Minuten in der beschriebenen Stellung gestanden war, erkannte er eine Lücke in dem von links kommenden Verkehr. Er beobachtete den sich aus gerader Richtung auf der Vorchdorfer Bezirksstraße herannahenden Verkehr und blickte auch zum Fahrzeug des Zeugen S***** auf der unbenannten Straße zwischen den Häusern Lambacher Straße 11 und Lindacher Straße 1. Nach neuerlichem Blick nach links fuhr er rund eine Sekunde vor der Berührung mit der Fußgängerin an, wobei er eine Beschleunigung von 0,6 m/s2 erreichte. Der Erstbeklagte legte in rund einer Sekunde die Wegstrecke von 40 cm bis zu der die Kreuzung vor der Front des LKW überquerenden Ehefrau des Klägers zurück. Sie wurde vom LKW etwa mit der Mitte der Front erfaßt, zu Boden gestoßen und vom rechten Vorderreifen überrollt. Der Erstbeklagte hatte sie vor dem Wegfahren überhaupt nicht gesehen. Bei ordnungsgemäß eingestellten Außenspiegeln kann ein neben dem Fahrerhaus befindlicher Fußgänger nicht erkannt werden. Der Oberkörper eines solchen Fußgängers kann erstmalig erkannt werden, wenn er sich 6,70 m von der Front des LKW entfernt, seitlich rechts in einem Abstand von rund 0,5 m zum LKW befindet.

Rechtlich erörterte das Erstgericht, daß den Erstbeklagten kein Verschulden treffe. Er habe nicht damit rechnen müssen, daß eine Fußgängerin versuchen werde, ganz knapp vor dem LKW die Kreuzung zu überqueren. Als der Erstbeklagte losgefahren sei, habe sich die Ehefrau des Klägers nicht in seinem Sichtbereich befunden. Andererseits sei der Unfall im Sinne des § 9 Abs 2 EKHG nicht unabwendbar gewesen, weil ein besonders aufmerksamer Kraftfahrer die Getötete sowohl beim Überqueren der Straße als auch während der ersten beiden Sekunden nach deren Rechtsschwenk auf die Fahrbahn der Lindacher Bundesstraße sehen hätte können, wenn er in diese Richtung geschaut hätte. Insgesamt sei die Fußgängerin über rund fünf Sekunden sichtbar gewesen. Er habe im Kreuzungsbereich auch mit den die Kreuzung überquerenden, bzw sich dort aufhaltenden Fußgängern rechnen müssen. Ein besonders umsichtiger Kraftfahrer hätte somit auch im Sichtbereich befindlichen Fußgängern Beachtung schenken müssen. Der zweit- und drittbeklagten Partei treffe daher die Haftung nach § 11 EKHG. Auch die Fußgängerin treffe ein Mitverschulden, weil sie nicht den kürzesten Weg zum Überqueren der Lindacher Bundesstraße gewählt habe und daher hinter dem LKW die Fahrbahn überqueren hätte müssen.

Das Berufungsgericht bestätigte dieses Urteil. Es verneinte beim vorliegenden Sachverhalt ebenfalls ein Verschulden des Erstbeklagten am Zustandekommen des Unfalles und erachtete den Entlastungsbeweis nach § 9 Abs 2 EKHG nicht für erbracht, weil auch ein besonders sorgfältiger Kraftfahrer über zwei Sekunden lang hätte erkennen können, daß die Fußgängerin auf die rechte vordere Ecke des LKW zugegangen sei. Auch die Ehefrau des Klägers treffe ein Mitverschulden, weil sie sich sorglos gegenüber den eigenen Gütern verhalten habe. Sie habe sich nämlich nicht nur dem Kläger im toten Winkel angenähert, sondern die Fahrbahn im unmittelbaren Nahbereich des LKW überqueren wollen, ohne einen Blickkontakt zum LKW-Lenker herzustellen und diesem gegenüber zu bekunden, daß sie ungeachtet seines unmittelbar erwartbaren Wegfahrens an dem LKW vorbeigehen wolle, um die Fahrbahn zu überqueren. Sie habe sich daher besonders sorglos verhalten und im Sinn des § 76 Abs 5 StVO auch rechtswidrig gehandelt, weil sie durch ihre Gehlinie den Fahrzeugverkehr behindert habe. Die Fußgängerin sei ihrer Verpflichtung, vor Betreten der Fahrbahn sorgfältig zu überprüfen, ob sie die Straße noch vor dem Eintreffen von Kraftfahrzeugen mit Sicherheit überqueren könne, nicht nachgekommen. Sie habe angesichts des zum Einbiegen nach links an der Kreuzung angehaltenen LKW damit rechnen müssen, daß sich dieser wenn die sonstige Verkehrslage es ermögliche, in Bewegung setzen würde.

Das Berufungsgericht sprach aus, daß die ordentliche Revision zulässig sei, weil dem Sorgfaltsmaßstab von Fahrzeuglenkern bei der Beobachtung von Fußgängern im Kreuzungsbereich eine über den vorliegenden Einzelfall hinausgehende rechtserhebliche Bedeutung beizumessen und eine auf den vorliegenden Fall unmittelbar übertragbare Judikatur des Höchtsgerichtes nicht auffindbar sei.

Rechtliche Beurteilung

Die vom Kläger sowie der zweit- und drittbeklagten Partei erhobenen Revisionen sind entgegen dem nicht bindenden Ausspruch des Berufungsgerichtes unzulässig im Sinne des § 502 Abs 1 ZPO.

Zutreffend hat zunächst das Berufungsgericht darauf verwiesen, daß nach ständiger Rechtsprechung ein Kraftfahrer verpflichtet ist, während der Fahrt - und auch vor dem Losfahren - die vor ihm liegende Fahrbahn in ihrer ganzen Breite einschließlich der beiden Fahrbahnrändern und etwa anschließender Verkehrsflächen im Auge zu behalten (ZVR 1964/55, ZVR 1964/93, ZVR 1964/150, ZVR 1970/19, zuletzt ZVR 1987/124; RIS-Justiz RS0074923). Ob dieser Verpflichtung im Einzelfall entsprochen wurde, kann nur aufgrund der konkreten Umstände des Einzelfalls beurteilt werden. Der vom Berufungsgericht angeführte Grund rechtfertigt daher die Zulassung der Revision nicht. Aber auch keiner der Parteien mag mit ihrer Revision Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung aufzuzeigen.

Richtig ist, daß die Ehefrau des Klägers für den Erstbeklagten während eines Zeitraumes von fünf Sekunden wahrnehmbar gewesen wäre. Dabei wäre lediglich während des kurzen Zeitraumes von zwei Sekunden auffällig geworden, daß sie sich (von rechts hinten der vorderen Ecke des LKW genähert hätte. Für den weiteren Zeitraum von 3,2 Sekunden war sie allerdings für den Erstbeklagten nicht sichtbar. Berücksichtigt man, daß sich die Ehefrau des Klägers einem wegfahrbereiten LKW aus dem toten Winkel heraus genähert hat und ohne Sichtkontakt mit dem Lenker aufzunehmen, den LKW in einer Entfernung von 40 cm zu passieren beabsichtigte, dann zeigt die Revision des Klägers sowohl zum Verschulden des Erstbeklagten als auch zum Verschulden seiner Ehefrau keine erhebliche Rechtsfrage auf.

Der zweit- und drittbeklagten Partei ist entgegenzuhalten, daß der Entlastungsbeweis nach § 9 Abs 2 EKHG nur dann als erbracht gilt, wenn die äußerste nach den Umständen des Falles mögliche Sorgfalt aufgewendet wurde (vgl für alle ZVR 1992/10). Daß die äußerste Sorgfaltspflicht hier nicht eingehalten wurde, hat das Berufungsgericht ohne Verkennung der Rechtslage aufgezeigt.

Da somit Rechtsfragen von erheblicher Bedeutung nicht zu entscheiden waren, waren beide Revision zurückzuweisen.

Da der Kläger auf die Unzulässigkeit der Revision der zweit- und drittbeklagten Parteien hingewiesen hat, waren die Kosten seiner Revisionsbeantwortung zuzusprechen.