JudikaturJustiz2Ob2326/96i

2Ob2326/96i – OGH Entscheidung

Entscheidung
17. Oktober 1996

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Melber als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Graf, Dr.Schinko, Dr.Tittel und Dr.Baumann als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Dietmar M*****, vertreten durch Dr.Clement Achammer ua Rechtsanwälte in Feldkirch, wider die beklagte Partei Seftone M*****, vertreten durch Dr.Paul Sutterlüty ua Rechtsanwälte in Dornbirn, wegen Zahlung von S 126.013 sA und Feststellung, infolge Rekurses der beklagten Partei gegen den Beschluß des Oberlandesgerichtes Innsbruck als Berufungsgerichtes vom 2.Juli 1996, GZ 1 R 144/96b-11, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichtes Feldkirch vom 13.März 1996, GZ 5 Cg 6/96d-6, aufgehoben wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluß

gefaßt:

Spruch

Dem Rekurs wird nicht Folge gegeben.

Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung:

Am 1.7.1995 ereignete sich im Gebiet des Vorsäß H***** auf der Bundesstraße B 200 ein Verkehrsunfall, an dem der Kläger als Lenker und Halter eines Motorrades und eine im Eigentum des Beklagten stehende Kuh beteiligt waren. Der Kläger begehrt den Ersatz der erlittenen Schäden, die Bezahlung eines Schmerzengeldes und die Feststellung der Haftung des Beklagten für künftige Schäden mit der Begründung, der Beklagte habe seine Verwahrungspflicht nach § 1320 ABGB verletzt; der Beklagte habe auch gegen § 81 Abs 1 StVO verstoßen, weil es sich bei der B 200 um eine stark frequentierte Vorrangstraße handle.

Der Beklagte wendete ein, es handle sich beim Vorsäß H***** um ein Weidegebiet nach altem Herkommen, es bestehe dort seit alters her ein unbeaufsichtigter Weidegang. Darauf werde auch durch das Gefahrenzeichen "Achtung Tiere" hingewiesen. Der Kläger habe dieses Zeichen mißachtet und trage daher das Alleinverschulden am Unfall. Zudem habe der Kläger die erforderliche Aufmerksamkeit und Sorgfalt nicht walten lassen und eine relativ überhöhte Geschwindigkeit eingehalten bzw verspätet reagiert. Der Beklagte habe darauf vertrauen dürfen, daß zufolge des Gefahrenzeichens nach § 50 Z 13a StVO eine Verordnung nach § 81 Abs 3 bzw Abs 4 StVO bestehe. Es sei ihm nicht zumutbar gewesen, sich über den Bestand einer derartigen Verordnung zu vergewissern.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab, wobei es im wesentlichen von folgenden Feststellungen ausging:

Der Kläger fuhr am 1.7.1995 gegen 16,00 Uhr mit seinem Motorrad gemeinsam mit zwei weiteren Motorradfahrern auf der als besondere Vorrangstraße gekennzeichneten Bundesstraße B 200 von S***** in Richtung Sch*****. Als die Gruppe das Vorsäß H***** erreichte, passierte er als letzter der Motorradgruppe das am Fahrbahnrand angebrachte Verkehrszeichen "Achtung Tiere".

Das Vorsäß H***** wird von den weideberechtigten Bauern, darunter auch vom Beklagten, als Weide für ihr Vieh in der Zeit vom 8.6. bis 8. bzw 10.7. und vom 14.9. bis 8.10. eines jeden Jahres verwendet. Schon von alters her, somit schon zu einer Zeit, als die Bundesstraße B 200 noch nicht existierte, erfolgte die Viehweide im Vorsäß H***** unbeaufsichtigt. Obwohl nach altem Herkommen der unbeaufsichtigte Weidegang in diesem Bereich üblich war, wurde eine Verordnung im Sinne des § 81 Abs 3 StVO nicht erlassen.

Der Beklagte, der seit 1971 sein Vieh auf dem Vorsäß H***** weiden ließ, vertraute auf die alten Bräuche und auf das Gefahrenzeichen "Achtung Tiere", das jeweils während der Zeiten angebracht wurde, in denen das Vieh auf dem Vorsäß H***** war.

Als sich der Kläger auf der Bundesstraße B 200, auf der vor allem im Sommer an schönen Tagen reger Ausflugsverkehr herrscht, der Unfallstelle näherte, hielt er eine Geschwindigkeit von 50 bis 60 km/h ein. Die B 200 verläuft vor der Kollisionsstelle über mehr als 100 m völlig gerade und übersichtlich. Eine besondere Geschwindigkeitsbeschränkung bestand nicht. Die Unfallstelle liegt außerhalb des Ortsgebietes.

Bei Annäherung an die Unfallstelle bemerkte der Kläger eine geringe, exakt nicht feststellbare Anzahl von Kühen am linken Fahrbahnrand. Eine dieser Kühe gehörte dem Beklagten. Die Kühe konnten von der an die Fahrbahn anschließenden Wiese ungehindert auf die Fahrbahn gelangen, da keine Abzäunung vorhanden war. Trotz der Kühe am Fahrbahnrand sah der Kläger keine Veranlassung zu besonderer Vorsicht. Er reduzierte lediglich seine Geschwindigkeit durch Gaswegnehmen und beabsichtigte, die Kühe zu passieren. Als sich dann die Kuh des Beklagten in Bewegung setzte und versuchte, die Fahrbahn von links nach rechts zu überqueren, leitete der Kläger eine Vollbremsung ein, konnte jedoch eine Kollision mit der Kuh auf seiner Fahrbahnhälfte nicht verhindern. Durch den Zusammenstoß kam der Kläger zu Sturz und verletzte sich. Auch die Kuh des Beklagten erlitt Verletzungen.

In rechtlicher Hinsicht vertrat das Erstgericht die Ansicht, daß der Kläger im Hinblick auf das Verkehrszeichen nach § 50 Z 13a StVO damit rechnen habe müssen, daß die für ihn weithin sichtbaren Kühe unbeaufsichtigt seien. Die geringfügige Geschwindigkeitsverringerung durch Gaswegnehmen entspreche nicht der gebotenen Sorgfalt. Dem Beklagten hingegen sei kein Verschulden am Unfall anzulasten. Auch wenn eine Verordnung nach § 81 Abs 3 StVO nicht erlassen worden sei, habe er wegen des Gefahrenzeichens "Achtung Tiere" und aufgrund des seit alters her üblichen unbeaufsichtigten Weideganges darauf vertrauen dürfen, daß auch er sein Vieh unbeaufsichtigt weiden lassen dürfe und eine entsprechende Verordnung erlassen worden sei. Der Beklagte habe darauf vertrauen dürfen, daß dem Gefahrenzeichen "Achtung Tiere" eine Verordnung nach § 81 Abs 3 StVO zugrundeliege, so daß ihm kein Fehlverhalten anzulasten sei.

Das vom Kläger angerufene Berufungsgericht hob das Urteil auf und verwies die Rechtssache zur Verfahrensergänzung und neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurück; der Rekurs an den Obersten Gerichtshof wurde für zulässig erklärt.

Das Berufungsgericht führte in rechtlicher Hinsicht aus, daß der Beklagte gegen § 81 Abs 1 StVO verstoßen habe; bei dieser Bestimmung handle es sich um eine Schutzvorschrift im Sinne des § 1311 ABGB für den fließenden Verkehr, sie sei bei der nach § 1320 ABGB zu beurteilenden Verwahrungs- und Beaufsichtigungspflicht des Tierhalters einzubeziehen.

Die besondere Aufsichtspflicht über weidendes Vieh auf nicht abgezäunten Grundstücken an Autobahnen oder Vorrangstraßen bestehe nur dann nicht, wenn durch eine Verordnung im Sinne des § 81 Abs 3 StVO diese Pflicht aufgehoben wurde. Eine derartige Verordnung sei aber nicht erlassen worden. Die Aufstellung des Gefahrenzeichens "Achtung Tiere" reiche aber nicht aus, um eine geeignete und notwendige Aufsicht des Weideviehs auf nicht abgezäunten Grundstücken an Autobahnen oder Vorrangstraßen zu ersetzen. Ein selbst nach altem Herkommen üblicher unbeaufsichtigter Weidegang von Tieren auf einer uneingefriedeten an eine Autobahn oder Vorrangstraße angrenzenden Fläche vermöge daher an der Aufsichtspflicht gemäß § 81 Abs 1 StVO nichts zu ändern. Der Beklagte habe auch wegen des aufgestellten Gefahrenzeichens nach § 50 Z 13 a StVO nicht darauf vertrauen dürfen, daß er sein Vieh unbeaufsichtigt weiden lassen dürfe und eine entsprechende Verordnung gemäß § 81 Abs 3 StVO vorliege. Das Gefahrenzeichen "Achtung Tiere" zeige nämlich nur den Beginn eines Gebietes an, in dem mit unbegleiteten Weidetieren zu rechnen sei; es sei insbesondere in Alpgebieten und in Gebieten, in denen der unbeaufsichtigte Weidegang nach altem Herkommen üblich sei, anzubringen. Dieses Gefahrenzeichen ersetze nicht die Erlassung einer Verordnung gemäß § 81 Abs 3 StVO und deren Kundmachung nach Abs 4. Es sei dem Beklagten daher die Kenntnis des unbeaufsichtigten Weidens der Kühe und sein diesbezügliches Dulden subjektiv vorwerfbar und daher gemäß § 1320 ABGB haftungsbegründend.

Im fortgesetzten Verfahren werde das Erstgericht nähere Feststellungen zum Unfallshergang zu treffen haben, die eine Beurteilung des Ausmaßes des Mitverschuldens des Klägers ermöglichen.

Der Rekurs an den Obersten Gerichtshof wurde für zulässig erklärt, weil eine jüngere Rechtsprechung zur Frage fehle, ob ein Tierhalter, der Kenntnis von der Ausübung eines unbeaufsichtigten Weideganges nach altem Herkommen und der Aufstellung des Gefahrenzeichens "Achtung Tiere" habe, subjektiv davon ausgehen könne, daß eine Verordnung nach § 81 Abs 3 StVO erlassen und somit die Verpflichtung zur Beaufsichtigung aufgehoben worden sei.

Dagegen richtet sich der Rekurs der beklagten Partei mit dem Antrag, die angefochtene Entscheidung dahingehend abzuändern, daß das Klagebegehren abgewiesen werde.

Die klagende Partei hat Rekursbeantwortung erstattet und beantragt, das Rechtsmittel des Beklagten zurückzuweisen, in eventu ihm keine Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Der Rekurs der beklagten Partei ist aus den vom Berufungsgericht aufgezeigten Gründen zulässig, er ist aber nicht berechtigt.

Der Beklagte macht in seinem Rechtsmittel geltend, er habe darauf vertrauen können, daß es sich beim aufgestellten Gefahrenzeichen "Achtung Tiere" gemäß § 50 Z 13 a StVO um die "Kundmachung" einer gemäß § 81 Abs 3 StVO erlassenen Verordnung handelte und er daher sein Vieh unbeaufsichtigt weiden lassen dürfe. Bis zur 6.StVO-Novelle 1976 habe nämlich das Aufstellen eines Gefahrenzeichens eine Verordnung ausgedrückt.

Da das unbeaufsichtigte Viehweiderecht schon zu einer Zeit bestand, als die Bundesstraße B 200 noch nicht existierte, hätte die zuständige Behörde eine Ausnahmeverordnung gemäß § 81 Abs 3 StVO erlassen müssen. Der Beklagte hätte darauf vertrauen dürfen, daß die Behörde ihrer Verpflichtung zur Erlassung der entsprechenden Verordnung nachkomme und sei ihm die Unterlassung der Überprüfung der Behörde subjektiv nicht vorwerfbar. Gerade weil das Gefahrenzeichen "Achtung Tiere" gemäß § 50 Z 13 a StVO den Beginn eines Gebietes anzeige, in dem mit unbegleiteten Weidetieren zu rechnen sei, hätte der Beklagte sein Vieh unbeaufsichtigt weiden lassen dürfen.

Diesen Ausführungen kann nicht gefolgt werden:

Für die Beurteilung der Haftung für die Beschädigung von Personen und Sachen durch Tiere auf Straßen kommen nicht nur die Regeln über die allgemeine Tierhalterhaftung nach § 1320 ABGB, sondern auch die Bestimmungen des § 81 StVO in Betracht (ZVR 1983/163). § 81 Abs 1 StVO normiert den Grundsatz, daß Vieh auf nicht abgezäunten Grundstücken an Autobahnen und Vorrangstraßen von geeigneten Hütern zu beaufsichtigen und von der Straße fernzuhalten ist. Dieser Verpflichtung ist der Beklagte ohne Zweifel nicht nachgekommen. Gemäß § 81 Abs 3 StVO hat die Behörde Alpgebiete und Gebiete, in denen der unbeaufsichtigte Weidegang nach altem Herkommen üblich ist, von den Bestimmungen des Abs 1 dann auszunehmen, wenn nicht erhebliche Bedenken aus Gründen der Verkehrssicherheit entgegenstehen. Eine Verordnung nach Abs 3 ist durch Anschlag auf der Amtstafel der Behörde kundzumachen (§ 81 Abs 4 StVO). Eine derartige Verordnung ist im vorliegenden Fall nicht ergangen, so daß eine Ausnahme von der Bestimmung des § 83 Abs 1 StVO nicht erfolgte. Der Beklagte durfte auch aufgrund des nach altem Herkommen üblichen unbeaufsichtigten Weideganges nicht auf das Vorliegen einer Verordnung im Sinne des § 81 Abs 3 StVO vertrauen, weil eine solche Verordnung nur zu erlassen ist, wenn nicht erhebliche Bedenken gegen die Verkehrssicherheit bestehen. Der nach altem Herkommen übliche unbeaufsichtigte Weidegang war daher kein (zwingendes) Indiz für das Vorliegen einer Verordnung im Sinne des § 81 Abs 3 StVO und bestand auch allein aufgrund dieses Umstandes keine Pflicht für die Behörde, eine solche Verordnung zu erlassen. Aber auch die Aufstellung des Gefahrenzeichens "Achtung Tiere" exkulpiert den Beklagten nicht, weil gemäß § 81 Abs 4 StVO eine Verordnung nach § 81 Abs 3 StVO (nur) durch Anschlag auf der Amtstafel der Behörde kundzumachen ist (Dittrich/Stolzlechner, Österr Straßenverkehrsrecht3 Rz 12 zu § 81 StVO). Der Beklagte hätte daher vor dem unbeaufsichtigten Weidegang sich darüber erkundigen können und müssen, ob eine Verordnung nach § 81 Abs 3 StVO ergangen ist.

Es bestand daher, wie das Berufungsgericht zutreffend ausgeführt hat, für den Beklagten keine Ausnahme von der Verpflichtung nach § 81 Abs 1 StVO und ist ihm der Verstoß gegen diese Bestimmung auch subjektiv vorwerfbar. Vielmehr muß ein selbst nach altem Herkommen üblicher unbeaufsichtigter Weidegang von Tieren auf einer uneingefriedeten Fläche, die an eine Autobahn oder Vorrangstraße grenzt, als Verstoß gegen die Verwahrungs- und Beaufsichtigungspflicht angesehen werden (ZVR 1977/59; 8 Ob 204/75); dies gilt auch dann, wenn ein Gefahrenzeichen nach § 50 Z 13 a StVO aufgestellt, aber keine Verordnung nach § 81 Abs 3 StVO erlassen wurde.

Zutreffend ist daher das Berufungsgericht von einer schuldhaften Verletzung der dem Beklagten gemäß § 81 Abs 1 StVO obliegenden Pflichten ausgegangen, so daß dessen Rekurs ein Erfolg zu versagen war.

Der Kostenvorbehalt gründet sich auf § 52 ZPO.