JudikaturJustiz2Ob219/17w

2Ob219/17w – OGH Entscheidung

Entscheidung
27. Februar 2018

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch die Vizepräsidentin Hon. Prof. Dr. Lovrek als Vorsitzende, die Hofräte Dr. Veith und Dr. Musger, die Hofrätin Dr. E. Solé sowie den Hofrat Dr. Nowotny als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei WIENER LINIEN GmbH Co KG, Erdbergstraße 202, Wien 3, vertreten durch Dr. Ralph Mayer, Rechtsanwalt in Wien, wider die beklagte Partei Alfred B*****, vertreten durch Anzböck Brait Rechtsanwälte GmbH in Tulln, wegen 13.549,88 EUR sA, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Berufungsgericht vom 26. April 2017, GZ 34 R 166/16p 18, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Bezirksgerichts Fünfhaus vom 4. Oktober 2016, GZ 23 C 125/16i 13, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Der Revision wird Folge gegeben.

Die angefochtene Entscheidung wird dahingehend abgeändert, dass sie folgendermaßen zu lauten hat:

„1. Die Klageforderung besteht mit 13.549,88 EUR zu Recht.

2. Die Gegenforderung besteht nicht zu Recht.

3. Die beklagte Partei ist daher schuldig, der klagenden Partei 13.549,88 EUR samt 4 % Zinsen seit 16. 2. 2016 sowie die mit 5.723,70 EUR (darin enthalten 1.293,80 EUR Barauslagen) bestimmten Prozesskosten erster und zweiter Instanz binnen 14 Tagen zu bezahlen.“

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 2.210,25 EUR (darin enthalten 1.362 EUR Pauschalgebühr) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Am 11. 9. 2015 ereignete sich in Wien ***** auf der H***** Straße auf Höhe des Hauses mit der Hausnummer 213 ein Verkehrsunfall, an dem der vom Beklagten gelenkte Hubstapler der Marke Jungheinrich TFG 5 sowie ein der klagenden Partei gehörender Straßenbahnzug der Linie 49 beteiligt waren.

Der Beklagte lenkte im Unfallsbereich den Gabelstapler, der mit einem Polyestertank mit einem Fassungsvermögen von 40.000 l beladen war, sodass der Beklagte selbst nur eine äußerst eingeschränkte bzw keine Sicht auf die vor ihm liegenden Geschehnisse hatte; er bediente sich dabei mehrerer Einweiser.

Nach dem Herausfahren des Gabelstaplers aus der Liegenschaft H***** Straße 213 und dem Reversieren auf Höhe dieser Liegenschaft hielt der Beklagte den Gabelstapler mit dem auf der Gabel liegenden Tank vor der Hausnummer 213 parallel zum Gehsteig an. Dort befand sich der Stapler während eines nicht feststellbaren Zeitraums im Stillstand. Die exakte Position des Tanks bezogen auf den Gehsteigrand bzw auf die Straßenbahngleise kann nicht festgestellt werden.

Zum gleichen Zeitpunkt näherte sich der Straßenbahnzug der späteren Unfallstelle. Der Straßenbahnfahrer nahm die Geschehnisse auf Höhe des Hauses mit der Hausnummer 213 wahr, reduzierte daraufhin die Geschwindigkeit, sodass er 46 Meter vor der Kollisionsstelle mit lediglich 0,9 km/h fuhr, in weiterer Folge in Annäherung an die spätere Kollisionsstelle die Geschwindigkeit auf 11,4 km/h erhöhte und sodann mittels starker Betriebsbremsung absenkte.

Auf Höhe des Hauses mit der Hausnummer 213 kam es zum Zusammenstoß der rechten Seitenwand des Straßenbahnzuges mit dem straßenseitigen vorderen Eck des Tanks. Die exakte Position des Tanks bezogen auf die Fahrbahn, insbesondere der Abstand zum Gehsteig, kann nicht festgestellt werden. Es kann nicht festgestellt werden, ob ein gefahrloses Vorbeifahren am stillstehenden Tank durch die Straßenbahn möglich gewesen wäre, wäre es nicht zu einer Bewegung des Tanks aufgrund eines Manövers des Beklagten am Gabelstapler gekommen, bzw ob der Tank derartig abgestellt war, dass ohne weitere Manipulation ein kontaktfreies Vorbeifahren durch die Straßenbahn nicht möglich gewesen wäre.

Durch die Kollision wurde der Straßenbahnzug beschädigt, wodurch die eingeklagten Reparatur und Personalmehrkosten entstanden.

Die Klägerin begehrte an Reparatur und Personalmehrkosten aufgrund des Unfalls 13.549,88 EUR sA und brachte vor, das Alleinverschulden am Unfall treffe den Beklagten, da dieser während der Vorbeifahrt des Straßenbahnzuges das Ladegut bewegt und dadurch den Zusammenstoß verursacht habe; der Zusammenstoß sei trotz rascher Bremsung nicht mehr zu verhindern gewesen.

Der Beklagte wendete ein, er habe den Tank verladen wollen und parallel zu den Straßenbahngleisen noch vor Annäherung der Straßenbahn abgestellt. Er habe sich zweier Einweiser bedient, weil er aufgrund der Größe des Tanks keine Sicht über diesen nach vorn gehabt habe. Noch während des Verladevorgangs, somit während des Stillstands des Staplers, habe sich die Straßenbahn angenähert. Das Alleinverschulden treffe den Straßenbahnfahrer, der sich nicht versichert habe, ob ein gefahrloses Vorbeifahren an dem im Stillstand befindlichen Tank möglich wäre. Der Beklagte wendete den durch den Zusammenstoß am Tank eingetretenen Schaden von 4.400 EUR als Gegenforderung ein.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Es traf die wiedergegebenen Feststellungen und vertrat die Ansicht, da der Unfallablauf nicht aufgeklärt habe werden können, sei ein Verschulden eines der beiden Lenker nicht ableitbar. Die Beweislast für den Unfallablauf treffe die klagende Partei. Der Beklagte sei nicht Halter des Staplers, sodass „mangels anderer Haftungsgrundlage“ das Klagebegehren abzuweisen sei.

Das Berufungsgericht bestätigte das Ersturteil. Es ging zusätzlich zu den erstgerichtlichen Feststellungen in tatsächlicher Hinsicht davon aus, dass der Beklagte vor Erreichen der Kollisionsposition zweimal den Schienenbereich queren musste und dabei Sicht auf die „zum gleichen Zeitpunkt“ herannahende Straßenbahn hatte. In rechtlicher Hinsicht meinte das Berufungsgericht, der Beklagte habe gegen § 28 Abs 2 Satz 1 StVO verstoßen, und zwar entweder dadurch, dass er den Tank vor der herannahenden Straßenbahn nicht aus deren Lichtraumprofil entfernt, oder dadurch, dass er den Tank während der Vorbeifahrt der Straßenbahn in das Lichtraumprofil des Schienenfahrzeugs bewegt habe. Dem Beklagten sei aber der Nachweis gelungen, dass ihm die Einhaltung der Schutznorm des § 28 StVO ohne sein Verschulden nicht möglich gewesen sei. Er habe nämlich aufgrund des Tanks keine Sicht auf die vor ihm liegenden Geschehnisse gehabt und von den eingesetzten Einweisern keine Anweisungen erhalten. Der Beklagte habe aufgrund der Sichtbehinderung nicht erkennen können, ob der Tank im Anhaltezeitpunkt in das Lichtraumprofil der Straßenbahn hineingeragt habe. Diesfalls treffe den Beklagten kein Verschulden, zumal es für ein Auswahl- bzw Überwachungsverschulden hinsichtlich der Einweiser keine Anhaltspunkte gebe. Der für ein Verschulden des Beklagten beweispflichtigen klagenden Partei sei dieser Beweis nicht gelungen, weshalb das Klagebegehren unberechtigt sei.

Das Berufungsgericht ließ die Revision nachträglich zu, weil seine Entscheidung möglicherweise der Entscheidung 8 Ob 180/77 = ZVR 1978/281 widerspreche.

Gegen das Urteil des Berufungsgerichts richtet sich die Revision der klagenden Partei wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag auf Abänderung im Sinne der Klagestattgebung; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Der Beklagte beantragt in der Revisionsbeantwortung, der Revision nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist zulässig, weil dem Berufungsgericht eine Fehlbeurteilung unterlaufen ist; sie ist auch berechtigt.

Die Revisionswerberin macht geltend, der Beklagte habe gegen die Schutznorm des § 28 Abs 2 StVO verstoßen und nicht vorgebracht, dass ihm die Übertretung dieser Norm ohne sein Verschulden nicht möglich gewesen wäre. Der Lenker eines Fahrzeugs müsse den Platzbedarf seines Fahrzeugs und denjenigen des Schienenfahrzeugs soweit kennen, um eine Halteposition zu wählen, die ein kollisionsfreies Vorbeifahren des Schienenfahrzeugs ermögliche. Ein Kfz-Lenker dürfe vor einem nachkommenden Straßenbahnzug die Gleise nur dann überqueren, wenn er ganz sicher sei, die Straßenbahn in ihrer Weiterfahrt nicht zu behindern.

Hierzu wurde erwogen:

1. Das Berufungsgericht hat die Tatsachenfeststellungen ohne (unmittelbares) Beweisverfahren dahingehend ergänzt, dass der Beklagte vor Erreichen der Kollisionsposition zweimal den Schienenbereich queren musste und dabei Sicht auf die „zum gleichen Zeitpunkt“ herannahende Straßenbahn hatte.

Es kann dahingestellt bleiben, ob das Berufungsgericht dadurch den Unmittelbarkeitsgrundsatz verletzt hat (vgl RIS Justiz RS0043057; RS0043026; aber auch RS0043093). Selbst wenn man dies bejahte, läge keine von Amts wegen aufzugreifende Nichtigkeit, sondern bloß ein Mangel des Berufungsverfahrens vor (RIS Justiz RS0043082; 5 Ob 262/01t; vgl auch RS0041949; RS0041480). Dieser müsste, damit er vom Revisionsgericht aufgegriffen werden könnte, im Revisionsverfahren gerügt werden (vgl RIS Justiz RS0043140), was aber weder in der Revision noch in der Revisionsbeantwortung erfolgt ist. Davon abgesehen geht auch der von diesen ergänzenden Feststellungen in rechtlicher Hinsicht belastete Beklagte in der Revisionsbeantwortung von diesen Feststellungen aus. Die vom Berufungsgericht ergänzte Tatsachengrundlage ist daher der rechtlichen Beurteilung zugrundezulegen.

2. Sofern sich aus den Bestimmungen des § 19 Abs 2 bis 6 StVO über den Vorrang nichts anderes ergibt, haben andere Straßenbenutzer gemäß § 28 Abs 2 Satz 1 StVO beim Herannahen eines Schienenfahrzeugs die Gleise jedenfalls so rasch wie möglich zu verlassen, um dem Schienenfahrzeug Platz zu machen. Unmittelbar vor und unmittelbar nach dem Vorüberfahren eines Schienenfahrzeugs dürfen gemäß § 28 Abs 2 Satz 2 StVO die Gleise nicht überquert werden.

3. Wird ein Schadenersatzanspruch auf die Verletzung eines Schutzgesetzes gestützt, dann hat der Geschädigte den Schadenseintritt und die Verletzung des Schutzgesetzes als solche zu beweisen. Für Letzteres reicht der Nachweis aus, dass die Schutznorm objektiv übertreten wurde. Der Geschädigte hat demnach den vom Schutzgesetz erfassten Tatbestand zu beweisen. Den Nachweis, dass ihm die objektive Übertretung des Schutzgesetzes nicht als schutzgesetzbezogenes Verhaltensunrecht anzulasten ist, hat jedoch der Schädiger zu erbringen (RIS Justiz RS0112234 [T2]). Dem Schädiger obliegt also der Beweis, dass er sich entweder vorschriftsmäßig verhalten hat oder dass der Schaden auch im Falle vorschriftsmäßigen Verhaltens eingetreten wäre (rechtmäßiges Alternativverhalten) oder ihn an der Übertretung dieses Schutzgesetzes keine subjektive Sorgfaltswidrigkeit, also kein Verschulden, traf (RIS Justiz RS0112234 [T5]).

Die klagende Partei hat den Beweis der objektiven Verletzung der Schutznorm des § 28 Abs 2 Satz 1 StVO erbracht. Das ergibt sich zwingend daraus, dass der Tank im Kollisionszeitpunkt in das Lichtraumprofil der Straßenbahn ragte und der Beklagte die Gleise nicht so rasch wie möglich verlassen hat, um dem Schienenfahrzeug Platz zu machen.

4. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts ist dem Beklagten aber der Entlastungsbeweis nicht gelungen. Die Unklarheit über den genauen Unfallablauf geht hier nach der dargestellten Beweislast zu Lasten des Beklagten: Geht man von derjenigen möglichen Unfallvariante aus, wonach der Tank in der Stillstandsposition nicht in das Lichtraumprofil der Straßenbahn ragte, gilt nämlich Folgendes: Nach den Feststellungen der Vorinstanzen (vgl Punkt 1.) war die herannahende Straßenbahn für den Beklagten während des zweimaligen Überquerens des Schienenbereichs wahrnehmbar. Er hätte sie zu Beginn dieses Vorgangs schon deshalb beachten müssen, um abschätzen zu können, ob er entsprechend § 28 Abs 2 Satz 2 StVO die Gleise vor dem Vorüberfahren der Straßenbahn überhaupt überqueren durfte oder nicht (vgl dazu RIS Justiz RS0075150; RS0075170; 8 Ob 169/79 ZVR 1980/140 = RIS Justiz RS0075182).

Der Beklagte hätte somit bei dieser Unfallvariante im Wissen um die herannahende Straßenbahn ungeachtet dessen, dass er sie in der gehsteigparallelen Stillstandsposition aufgrund der Sichtbehinderung durch den Tank möglicherweise nicht sehen konnte, eine Ortsveränderung des Tanks in Richtung der Gleise so lange unterlassen müssen, bis die Straßenbahn kollisionsfrei vorbeigefahren wäre. Dass ihm dieses Verhalten subjektiv nicht möglich gewesen wäre, hat er gar nicht behauptet, geht er doch von einem Stillstand des Tanks vor der Kollision aus.

5. Bei dieser Unfallvariante ist der Umstand, dass der Beklagte Einweiser beigezogen hat, entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts nicht schuldbefreiend. Denn zur Unterlassung eines Bewegens des Tanks in den Schienenbereich bedurfte es keines Zeichens eines Einweisers. Dass ein Einweiser ihm gedeutet hätte, er könne den Tank in Richtung Gleiskörper bewegen, was unter Umständen ein Verschulden des Beklagten ausschließen könnte (vgl aber RIS Justiz RS0073957; RS0073966), steht nicht fest und hat der Beklagte auch nicht behauptet.

6. Der Beklagte hat das Alleinverschulden des Straßenbahnfahrers an der Kollision behauptet. Die Einwendung des Alleinverschuldens enthält auch jene des Mitverschuldens (RIS Justiz RS0027044). Da nach den vorstehenden Erwägungen von einem Verschulden des Beklagten auszugehen ist, ist daher ein allfälliges Mitverschulden des Straßenbahnfahrers zu prüfen. Für ein solches ist der Beklagte beweispflichtig (RIS Justiz RS0022783). Ein Mitverschulden des Straßenbahnfahrers könnte nur darin bestehen, dass er trotz Erkennbarkeit, dass der Tank in das Lichtraumprofil der Straßenbahn hineinragte, den Straßenbahnzug nicht rechtzeitig vor dem Tank anhielt. Nach den Feststellungen ist nicht auszuschließen, dass der Tank erst so kurz vor dem Herannahen der Straßenbahn in deren Lichtraumprofil bewegt wurde, dass dem Straßenbahnfahrer trotz prompter Reaktion ein kollisionsfreies Anhalten der Straßenbahn nicht mehr möglich war. Diesfalls träfe ihn kein Verschulden. Dem Beklagten ist daher der Beweis eines der klagenden Partei zurechenbaren Verschuldens nicht gelungen, weshalb vom Alleinverschulden des Beklagten auszugehen ist.

7. Der Beklagte hat sich für eine allfällige Haftung der klagenden Partei als Betriebsunternehmerin der Straßenbahn (vgl 2 Ob 68/13h uva) zwar nicht auf das EKHG berufen. Die beschränkte Haftung nach dem EKHG ist aber gegenüber der unbeschränkten Haftung nach §§ 1295 ff ABGB kein aliud, sondern ein minus (RIS Justiz RS0038123). Eine auf behauptetes Verschulden gestützte Klage (hier: Gegenforderung) schließt die Haftung aus Gefährdung mit ein (RIS Justiz RS0038123 [T1]). Eine Haftung der klagenden Partei nach EKHG ist daher zu prüfen. Hier ist der klagenden Partei nur die gewöhnliche Betriebsgefahr der Straßenbahn zuzurechnen. Nach ständiger Rechtsprechung wird die gewöhnliche Betriebsgefahr durch das (hier anzunehmende) Verschulden des Schädigers in der Regel ganz zurückgedrängt (RIS Justiz RS0058551). Es besteht daher kein Anlass, die klagende Partei haftungsmäßig heranzuziehen, weshalb der Beklagte der klagenden Partei deren ganzen, der Höhe nach nicht mehr strittigen, Schaden ersetzen muss. Die Gegenforderung besteht demgemäß nicht zu Recht.

8. Die Kostenentscheidung gründet auf den §§ 41, 50 ZPO.