JudikaturJustiz23Rs55/23v

23Rs55/23v – OLG Innsbruck Entscheidung

Entscheidung
25. Januar 2024

Kopf

Beschluss

Das Oberlandesgericht Innsbruck hat als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Oberlandesgerichts Dr. Kohlegger als Vorsitzenden und die Richterin des Oberlandesgerichts Dr. Pirchmoser sowie den Richter des Oberlandesgerichts MMag. Dr. Dobler und die fachkundigen Laienrichter:innen Mag. a Sarah Haider (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und AD RR Jürgen Fiedler (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Mitglieder des Senats in der Sozialrechtssache der klagenden Partei A* , geb am **, **, **, vertreten durch Dr. B*, Mitarbeiterin der C* D*, E*, **straße **, gegen die beklagte Partei F* , G* D*, E*, **-Straße **, vertreten durch ihren Mitarbeiter Mag. H*, wegen Rehabilitationsgeld, über die Berufung der beklagten Partei (ON 16) gegen das Urteil des Landesgerichts Innsbruck als Arbeits- und Sozialgericht vom 17.8.2023, 48 Cgs 128/23v 14, in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen:

Spruch

Der Berufung wird dahin F o l g e gegeben, dass die bekämpfte Entscheidung aufgehoben und die Sozialrechtssache an das Erstgericht zur neuerlichen Entscheidung z u r ü c k v e r w i e s e n wird.

Text

BEGRÜNDUNG :

Am 26.5.2020 erließ die Beklagte einen Bescheid, mit dem der Antrag der Klägerin vom 21.1.2020, der auf die Gewährung einer unbeschränkten Invaliditätspension abzielte, mit der Begründung abgewiesen wurde, dass keine dauerhafte Invalidität vorliege. Zugleich sprach die Beklagte in diesem Bescheid aus, es liege auch vorübergehende Invalidität im Ausmaß von mindestens sechs Monaten nicht vor und bestehe daher kein Anspruch auf Rehabilitationsgeld aus der Krankenversicherung, kein Anspruch auf medizinische Maßnahmen der Rehabilitation und kein Anspruch auf berufliche Maßnahmen der Rehabilitation.

Diesen Bescheid bekämpfte die Klägerin mit der zu 79 Cgs 81/20f des Landesgerichts Innsbruck als Arbeits- und Sozialgericht geführten Bescheidklage, in der sie die Gewährung einer (unbefristeten) Invaliditätspension, in eventu von Rehabilitationsgeld beantragte.

Im Verfahren 79 Cgs 81/20f LG Innsbruck als ASG holte das Erstgericht ein neurologisch-psychiatrisches Gutachten bezogen auf den Stichtag 1.2.2020 (den durch die Antragstellung der Klägerin ausgelösten Stichtag) ein. Gemäß diesem Gutachten war die Klägerin aus neurologisch-psychiatrischer Sicht in der Lage, folgende Tätigkeiten auszuüben (dort ON 7 S 25 ff):

Leichte körperliche Arbeiten nach Pap c und mittelschwere geistige Arbeiten mit durchschnittlichem Zeitdruck; Arbeiten im Gehen, Sitzen und Stehen sowie im Wechsel dieser Körperhaltungen, wobei nach Ablauf einer Stunde ein Wechsel der Körperhaltung für die Dauer von einigen Minuten möglich sein sollte. Dazu war die Unterbrechung der Arbeitstätigkeit nicht erforderlich. Die Arbeiten müssen in geschlossenen Räumen ohne Exposition von Kälte, Nässe und Zugluft ausgeführt werden. Die zulässige Arbeitszeit betrug 4 Stunden pro Tag, wobei ganztägige Urlaubs- und Krankenstandsvertretungen zumutbar waren.

Die Klägerin musste demnach folgende Tätigkeiten vermeiden:

Arbeiten verbunden mit

Bezogen auf den Anmarschweg zur Arbeitsstätte ergaben sich keine Einschränkungen. Die Klägerin war in der Lage, einen Fußweg von 500 m in 10 bis 15 Minuten ohne Pause im Stehen zurückzulegen und ein öffentliches Verkehrsmittel zu benutzen. Tagespendeln war der Klägerin zumutbar. Ein Wohnsitzwechsel und Wochenpendeln waren hingegen nicht zumutbar.

Dieser Gesundheitszustand war zumindest seit der Antragstellung (21.1.2020) gegeben.

Aus diesem Gesundheitszustand resultierende regelmäßige Krankenstände im Gesamtausmaß von 7 oder mehr Wochen pro Jahr waren mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht zu erwarten.

Durch eine zumutbare Therapie in Form von psychiatrischen, psychotherapeutischer Behandlung war eine Stabilisierung des Gesundheitszustands zu erwarten.

Gleichzeitig sprach sich der neurologisch-psychiatrische Sachverständige für die Durchführung einer (nach jener aus dem Jahr 2016 neuerlichen) neuropsychologischen Testung (zB bei einem berufspsychologischen Sachverständigen) aus, um die Einschätzung der Tätigkeitsmöglichkeiten der Klägerin auf dem ersten Arbeitsmarkt zu verbessern.

In der Folge holte das Erstgericht im Verfahren 79 Cgs 81/20f LG Innsbruck als ASG ein berufspsychologisches Gutachten ein. Diesem Gutachten war zu entnehmen, dass die Klägerin aus berufspsychologischer Sicht nicht mehr dazu in der Lage war, seit der Antragstellung (21.1.2020) irgendeine Arbeit zu bewältigen. Gleichzeitig führte der berufspsychologische Sachverständige aus, dass der gegenwärtige Gesundheitszustand durch Therapiemaßnahmen aus dem psychologisch-psychotherapeutischen Bereich verbesserbar sei, sodass binnen zwei Jahren eine Veränderung des Leistungskalküls und somit ein Wiedererreichen der Arbeitsfähigkeit erzielbar sei (dort ON 10 S 11 ff).

Auf der Grundlage dieses berufspsychologischen Gutachtens wurde ohne neuerliche Befassung des neurologisch-psychiatrischen Sachverständigen in der Tagsatzung zur mündlichen Streitverhandlung vom 11.2.2021 zwischen den Parteien folgender Vergleich abgeschlossen (dort ON 13):

Mit dem nunmehr bekämpften Bescheid vom 2.5.2023 entzog die Beklagte der Klägerin das Rehabilitationsgeld mit Stichtag 30.6.2023. Unter einem sprach die Beklagte aus, dass vorübergehende Invalidität nicht mehr vorliege, medizinische Maßnahmen der Rehabilitation nicht mehr zweckmäßig seien und kein Anspruch auf berufliche Maßnahmen der Rehabilitation bestehe. Die Wiederbegutachtung habe ergeben, dass sich der Gesundheitszustand der Klägerin kalkülsrelevant so weit gebessert habe, dass vorübergehende Invalidität nicht mehr gegeben sei.

Von diesem Sachverhalt muss das Berufungsgericht - als von der Berufung nicht tangiert - im Rechtsmittelverfahren ausgehen (§§ 2 Abs 1 ASGG, 498 Abs 1 ZPO).

Den Bescheid vom 2.5.2023 bekämpft die Klägerin mit ihrer fristgerecht erhobenen Bescheidklage , mit der sie die Feststellung begehrt, bei ihr liege weiterhin vorübergehende Invalidität vor und ihr komme daher ein Anspruch auf Rehabilitationsgeld aus der Krankenversicherung auch über den 30.6.2023 hinaus zu. Die Klägerin habe während des maßgeblichen Zeitraums 15 Jahre vor dem Stichtag als Zimmermädchen gearbeitet. Sie genieße daher keinen Berufsschutz. Ausgehend von diesem Tätigkeitsspektrum habe sich aber keine kalkülsrelevante Besserung des Gesundheitszustands seit dem Verfahren 79 Cgs 81/20f LG Innsbruck und dem dort am 11.2.2021 abgeschlossenen Vergleich ergeben.

Die Beklagte bestreitet, beantragt Klagsabweisung und wendet über den im Anstaltsverfahren eingenommenen Standpunkt hinaus ein: Aus dem neurologisch-psychiatrischen Gutachten vom 16.5.2023 (Nachuntersuchung am 14.4.2023) ergebe sich, dass sich das der Klägerin zumutbare Tätigkeitsfeld erheblich verbessert habe und eine Arbeitsfähigkeit wiederhergestellt worden sei. Es liege daher weder eine vorübergehende noch eine dauernde Invalidität vor. Das vom Erstgericht im vorliegenden Verfahren eingeholte berufspsychologische Gutachten stelle lediglich einen Hilfsbefund zur Austestung einzelner Fähigkeiten der Klägerin dar, wenn dies ein medizinischer Sachverständiger, insbesondere ein psychiatrischer Sachverständiger - dessen Bestellung begehrt werde - wie im Vorverfahren für notwendig erachte (ON 11). Die Ausführungen des berufspsychologischen Sachverständigen würden zur Gänze bestritten. Die Beurteilung bzw die Einstufung des der Klägerin zumutbaren Leistungskalküls sei durch das vorliegende Gutachten nicht möglich.

Mit dem bekämpften Urteil gab das Erstgericht dem Klagebegehren vollinhaltlich statt. Diesem Erkenntnis legte das Erstgericht folgende im Berufungsverfahren umkämpfte Urteilsannahmen zugrunde:

Aus dem im vorliegenden Verfahren eingeholten berufspsychologischen Gutachten sei abzuleiten, dass die Klägerin auch über den 30.6.2023 hinaus nicht mehr dazu in der Lage sei, auch nur halbtägig leichte Arbeiten auszuüben. Im Vergleich zu dem Gutachten im Verfahren 79 Cgs 81/20f LG Innsbruck als ASG kam es zu keiner nachvollziehbaren Verbesserung im Gesundheitszustand der Klägerin und damit auch zu keiner Verbesserung im Leistungskalkül der Klägerin.

Im Gutachten werden jedenfalls weiterhin Therapiemaßnahmen aus dem psychologisch-psychotherapeutischen, insbesondere verhaltenstherapeutischen Bereich empfohlen. Inwieweit damit eine Veränderung des Leistungskalküls und somit eine Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit erreicht werden kann, sei erst bei einer neuerlichen Evaluierung nach Ablauf von zwei Jahren einschätzbar.

In rechtlicher Beurteilung vertrat das Erstgericht die Auffassung, dass nach dem eingeholten berufspsychologischen Gutachten keine Verbesserung des gesamtmedizinischen Leistungskalküls der Klägerin eingetreten sei, weshalb dem Klagebegehren stattgegeben werden müsse.

Gegen diese Entscheidung wendet sich nunmehr die (rechtzeitige) Berufung der Beklagten aus den Rechtsmittelgründen der Mangelhaftigkeit des Verfahrens, der unrichtigen Tatsachenfeststellung aufgrund unrichtiger Beweiswürdigung sowie der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag, die bekämpfte Entscheidung im Sinne einer vollständigen Klagsabweisung abzuändern; hilfsweise wird ein Aufhebungs- und Zurückverweisungsantrag gestellt (ON 16 S 9).

Die Klägerin hat sich am Berufungsverfahren nicht weiter beteiligt (ON 18).

Nach Art und Inhalt der geltend gemachten Anfechtungsgründe war die Anberaumung einer öffentlichen, mündlichen Berufungsverhandlung entbehrlich. Über das Rechtsmittel war daher in nichtöffentlicher Sitzung zu befinden (§§ 2 Abs 1 ASGG, 480 Abs 1 ZPO). Dabei erwies es sich aus nachstehenden Erwägungen als berechtigt:

Rechtliche Beurteilung

1.: Die Berufung macht - ohne Bezugnahme auf § 87 ASGG, aber immerhin unter Hinweis auf die (teilweise) amtswegige Beweisaufnahmepflicht des Sozialgerichts - zutreffend geltend, dass im vorliegenden Verfahren zum der Klägerin zumutbaren Leistungskalkül keine dem Vorverfahren 79 Cgs 81/20f LG Innsbruck als ASG vergleichbare Sachverhaltsgrundlage, insbesondere durch Einholung eines neurologisch-psychiatrischen Gutachtens geschaffen wurde (ON 14 S 2 f):

2.: Das sozialgerichtliche Verfahren ist zwar nicht vom Amtswegigkeitsgrundsatz beherrscht; § 87 Abs 1 ASGG ordnet aber die amtswegige Beweisaufnahme für solche Umstände an, für deren Vorliegen sich aus den Verfahrensergebnissen ausreichende Anhaltspunkte ergeben (RIS Justiz RS0103347; RS0086455). Das Gericht hat die Pflicht, selbst alle Tatsachen von Amts wegen zu erwägen und zu erheben, die für die begehrte Entscheidung erforderlich sind, und die zum Beweis dieser Tatsachen notwendigen Beweise von Amts wegen aufzunehmen (RIS Justiz RS0042477). Demgemäß ist auch das medizinische Leistungskalkül des betroffenen Versicherten in Fällen, in denen es darauf ankommt, wie etwa beim Entzug von Rehabilitationsgeld (§§ 99, 143a ASVG) von Amts wegen vollständig zu erheben (RIS Justiz RS0042477 [T3, T9]). Gegenüber qualifiziert vertretenen Parteien bewegt sich die amtswegige Beweisaufnahmepflicht gemäß § 87 Abs 1 ASGG wohl innerhalb der - weit zu steckenden - Grenzen des Parteivorbringens (RIS Justiz RS0042477 [T8, T14]; RS0086455 [T6]). Das Verfahren kann also selbst dann mangelhaft sein, wenn kein beantragter Beweis übergangen wurde; das Gericht darf sich nämlich nicht auf die Aufnahme der beantragten Beweise beschränken, wenn sich aus den Akten und - bei wie der Beklagten qualifiziert vertretenen Verfahrensparteien - dem Sachvorbringen der Partei(en) relevante Anhaltspunkte für weitere Beweisaufnahmen ergeben ( Neumayr in ZellKomm³ II [2018] § 87 ASGG Rz 2; OLG Innsbruck zB 23 Rs 28/23y Rz 21).

3.: Hier hat das Erstgericht nicht ausreichend gewürdigt, wie es zur Grundlage der vergleichsweise befristeten Annahme der Invalidität und Rehabilitationsgeldleistung kam:

3.1.: Im vorliegenden Fall wurde die nunmehr durch den bekämpften Bescheid widerrufene vergleichsweise Zusage der zumindest sechsmonatigen Arbeitsunfähigkeit der Klägerin und daraus resultierend der Leistung von Rehabilitationsgeld aufgrund eines neurologisch-psychiatrischen und über besondere Anforderung des neurologisch-psychiatrischen Sachverständigen auch eines berufspsychologischen Gutachtens und damit ein vergleichbarer Verfahrensstand geschaffen. Dies wäre ausgehend von der Rechtslage - und vorbehaltlich des Beurteilungsspielraums medizinischer Sachverständiger bei der Anregung von Hilfsbefunden/ gutachten oder weiterer Gutachten (vgl etwa 10 ObS 141/04i; OLG Innsbruck 23 Rs 27/23a ErwGr A.2. in anderem Zusammenhang veröffentlicht in RIS Justiz RI0100181) - nicht unbedingt zwingend gewesen: Die im vorliegenden Fall relevanten Ärzte-Ausbildungsordnungen (ÄAO) umfassten (auch) die Vermittlung von Fähigkeit zur Durchführung psychiatrisch-psychologischer Testuntersuchungen und im Bereich Psychosomatik. So waren in der Ärzte-Ausbildungsordnung 1974, BGBl Nr 36/1974, in Anlage 18, die den „Umfang der im Rahmen der praktischen Ausbildung zum Facharzt für Neurologie und Psychiatrie und im Hauptfach zu vermittelnden praktischen Kenntnisse und Erfahrungen“ regelte, als Ausbildungsinhalt ausdrücklich die Bereiche „Methodik und Technik der klinisch-neurologischen Untersuchung“ (Z 2) und „allgemeine Psychologie und psychologische Testverfahren“ (Z 9) genannt. Nach der Ärzte-Ausbildungsordnung 1994, BGBl Nr 152/1994, welche die Ärzte-Ausbildungsordnung 1974 ablöste (§ 41 leg cit), umfassten die für das Hauptfach Neurologie erforderlichen Kenntnisse und Fertigkeiten auch solche im Bereich „spezieller neuropsychologische Techniken sowie Testverfahren deren Indikation und Bewertung“ (Anlage 26 lit C Z 18) und im Bereich „Psychosomatik“ (Anlage 26 lit C Z 21). Im Hauptfach Psychiatrie wurden nach dieser Ausbildungsordnung ua Kenntnisse und Fertigkeiten im Bereich „Psychosomatik“ und „über psychotherapeutische Verfahren und bio-psychosoziale Behandlungsstrategien“ (§ 14 Z 3 leg cit) „somatoforme Störungen“ (Anlage 36 lit C Z 1) „psychiatrische Untersuchung (Exploration, Anamnese- und Fremdanamneseerhebung) unter Berücksichtigung des Lebensalters, aller fachspezifischen biologisch-somatischen, psychologischen, psychodynamischen und sozialen Gesichtspunkte“ (Anlage 36 lit C Z 4), „Kenntnisse der Grundlagen klinischer Psychologie (Anlage 36 lit C Z 8)“ und im Bereich „spezielle psychiatrisch-psychologische Testverfahren und Beurteilung psychologischer Befunde“ (Anlage 36 lit C Z 9) vermittelt (vgl zB OLG Linz 7.9.2023, 1 R 90/23w ErwGr II. 4.2.2.). Insoweit betrachtet stellte das berufspsychologische Gutachten (trotz seiner äußeren Form) im Vorprozess konkret einen Hilfs- oder Ergänzungsbefund zum neurologisch-psychologischen Hauptgutachten dar (vgl zB OLG Wien 19.7.2023, 9 Rs 1/23t ErwGr 1.1. und 1.3.). Ein arbeitspsychologisches oder klinisch-psychologisches Gutachten stellt im Regelfall kein selbstständiges Beweismittel dar, sondern gibt lediglich einen Hilfsbefund für das neurologisch-psychiatrische Gutachten ab (OLG Wien 20.4.2023, 8 Rs 28/23f; 28.3.2023, 7 Rs 97/22v ErwGr 1.4.; 22.6.1988, 34 Rs 90/88, SVSlg 33.888 ua). Demzufolge fällt dessen Beurteilung in aller Regel in den Aufgaben- und Verantwortungsbereich des neurologisch-psychiatrischen Sachverständigen (in diesem Sinn auch OLG Wien wie vor je mwH). Die Befundaufnahme, zu der auch die Veranlassung von Hilfsbefunden oder Hilfsgutachten gehört (wie etwa Röntgenbefunde, Laborbefunde, aber auch psychologische Tests ua), erfolgte regelmäßig unter der Verantwortung des das Gutachten abschließend erstattenden Sachverständigen (OLG Wien wie vor und 26.1.2023, 10 Rs 88/22t ErwGr II. 1.3., SVSlg 30.285; 27.5.2010, 7 Rs 29/10, SVSlg 59.477). Dies zeigt sich auch darin, dass der bestellte Sachverständige die von ihm zur Erstellung seines Gutachtens erforderlichen Hilfsbefunde oder Hilfsgutachten in der Regel selbst veranlasst oder anregt. Die Beurteilung des Hilfsbefunds obliegt dem gerichtlich bestellten Sachverständigen; damit kommt dem Sachverständigen für Psychiatrie und Neurologie auch die Beurteilung zu, ob aus psychischen Ursachen eine Einschränkung besteht, und wenn ja, welche Einschränkungen der Arbeitsfähigkeit bestehen (OLG Wien 20.4.2023, 8 Rs 28/23f; 28.3.2023, 7 Rs 97/22v ErwGr 1.4.). Dieser Hilfs-/Ergänzungsbefund wäre üblicherweise auch noch - zB durch dessen mündliche Erörterung - mit dem neurologisch-psychiatrischen Gutachten - abgestimmt worden (zB OLG Wien 19.7.2023, 9 Rs 1/23t ERwGr 1.1.; 20.4.2023, 8 Rs 28/23f). Diese Maßnahme unterblieb offenbar wegen des Vergleichsabschlusses. Schon daraus resultierend ergab sich im vorliegenden Verfahren für das Erstgericht die - durch einen entsprechenden Antrag der Klägerin (ON 11) - untermauerte Notwendigkeit, eine vergleichbare Sachverhaltsgrundlage eben unter anderem durch Einholung eines neurologisch-psychiatrischen (Haupt-)Gutachtens zu ermitteln. Das Prozessvorbringen der Beklagten zielte einerseits ausdrücklich auf eine erhebliche Verbesserung des gesamtmedizinischen Leistungskalküls der Klägerin seit (zumindest) dem Vergleichszeitpunkt (allenfalls sogar seit dem seinerzeitigen Antragszeitpunkt 21.1.2021) und andererseits auf die Einholung eines (aus der klaren Bezugnahme auf das Gutachten im Vorverfahren 79 Cgs 81/20f LG Innsbruck als ASG und das vorgelegte Ergänzungsgutachten vom 16.5.2023 Beilage 5 erkennbar gemeint:) neurologisch-psychiatrischen Gutachtens ab. Dieses Vorbringen der Beklagten löste daher im konkreten Fall die amtswegige Beweisaufnahmepflicht des Erstgerichts nach § 87 Abs 1 ASGG aus und verpflichtete das Erstgericht dazu, auch ein neurologisch-psychiatrisches Gutachten einzuholen.

3.2.: Daran ändert hier die - soweit in begrenztem Maß gegebene - Ersetzbarkeit neurologisch-psychiatrischer durch klinisch-psychologische Gutachten nichts: Die klinische Psychologie ist diejenige Teildisziplin der Psychologie, die biologische, soziale, entwicklungs- und verhaltensbezogene sowie kognitive und emotionale Grundlagen psychischer Störungen sowie Auswirkungen dieser Störungen und anderer Erkrankungen auf das Erleben und Verhalten wissenschaftlich untersucht. Ein Teilgebiet der klinischen Psychologie ist die Beschäftigung mit psychischen Störungen. Die klinische Psychologie umfasst in diesem Umfang auch theoretische Grundlagen, Methoden und Systeme für die Diagnose und Klassifikation (ICD 10; DSM-IV) psychischer Störungen, für ihre psychologische bzw psychotherapeutische Behandlung, für Prävention und Rehabilitation (OLG Innsbruck 23 Rs 44/17t; 23 Rs 23/16b; 23 Rs 55/14f; 25 Rs 26/12f). Die Ausübung des Berufs eines klinischen Psychologen (einer klinischen Psychologin) umfasst nach § 22 Abs 2 und Abs 3 Z 1 sowie Abs 4 PsychologenG 2013 BGBl I 182/2013 idgF BGBl I 105/2019 ua einerseits die klinisch-psychologische Diagnostik in Bezug auf Krankheitsbilder und deren Einfluss auf das menschliche Erleben und Verhalten, andererseits darauf aufbauend die Erstellung von klinisch-psychologischen Befunden und Gutachten hinsichtlich der Leistungsfähigkeit, Persönlichkeitsmerkmale oder Verhaltensformen in Bezug auf psychische Störungen sowie in Bezug auf Krankheitsbilder, die das menschliche Erleben und Verhalten beeinflussen sowie in Bezug auf Krankheitsbilder, die durch menschliches Erleben und Verhalten beeinflusst werden und schließlich die Anwendung klinischpsychologischer Behandlungsmethoden bei Personen aller Altersstufen. Ein klinischer Psychologe hat jedenfalls die in den §§ 4, 7, 8, 22 24 PsychologenG über die Führung der Berufsbezeichnung „Psychologe“/„Psychologin“ und über die Ausübung des psychologischen Berufs im Bereich des Gesundheitswesens beschriebene und geforderte Ausbildung absolviert und übt daher einen vollwertigen Beruf im Gesundheitswesen aus (OLG Innsbruck 23 Rs 36/14m; 25 Rs 25/12f). Wenn also - anders als hier nur - dem Bereich der Neurologie, des Intellekts und der Psyche zuzuzählende Erscheinungen zu erheben und zu beurteilen sind, kommt die Begutachtung solcher Zustände und Verhaltensweisen jedenfalls einem Sachverständigen aus dem Gebiet der Neurologie/Psychiatrie oder Psychiatrie zu, ab dem Geltungsbereich des PsychologenG 1990 (BGBl I 360/1990) und 2013 allenfalls auch einem Psychologen, soweit er zur Beurteilung derartiger Sachverhalte im konkreten Einzelfall in der Lage ist (OLG Innsbruck wie vor oder 23 Rs 43/22b ErwGr 4.3.4.). Hat ein erkennendes Gericht in solchen Fällen bereits ein neurologisches/psychiatrisches (oder ein psychiatrisches) Gutachten eingeholt und ist dieses schlüssig, bedarf es im Allgemeinen nicht zusätzlich der Einholung eines klinisch/psychologischen Gutachtens (OLG Innsbruck 23 Rs 27/20x ErwGr 1.2.; 23 Rs 44/17g; 23 Rs 55/14f; 25 Rs 25/12f) und umgekehrt (OLG Innsbruck 23 Rs 43/22b ErwGr 4.3.4.; 23 Rs 23/16b; 23 Rs 36/14m). Wie erwähnt hat der neurologisch-psychiatrische Sachverständige im Vorverfahren jedoch nur zu einzelnen Teilaspekten einen zusätzlichen Hilfsbefund (Testung) zB durch einen berufspsychologischen Sachverständigen angeregt. Dies änderte also nichts daran, dass das vom Erstgericht im Vorverfahren (etwas überschießend zum Vorschlag des Neurologen/Psychiaters) eingeholte berufspsychologische Gutachten noch mit dem Neurologen/Psychiater (der die Testung vorschlug) im Sinn eines Haupt- allenfalls Gesamtgutachtens erörtert werden hätte müssen, was nur wegen des Vergleichsabschlusses unterblieb. Auch diese besondere Konstellation im Vorverfahren verwehrt es, das Verfahren hier nur mehr mit einem berufspsychologischen Gutachten bewenden zu lassen.

3.3.: Die Notwendigkeit der Einholung eines neurologisch-psychiatrischen Gutachtens ergibt sich überdies schon aus der Tatsache, dass die Beklagte ein extern eingeholtes neurologisch-psychiatrisches Gutachten vom 16.5.2023 Beilage 5 vorgelegt hatte (zB ON 12 S 1), welches das Erstgericht im konkreten Fall wie sonst üblich an einen vergleichbare medizinische Kompetenz aufweisenden medizinischen Sachverständigen zur Kontrolle vorlegen musste (OLG Linz 7.11.2018, 12 Rs 105/18z, SVSlg 67.406; OLG Graz 23.9.2019 7 Rs 40/19k ErwGr 2.; OLG Wien 26.2.2018, 9 Rs 3/18d; 20.12.2017, 7 Rs 103/17v, SVSlg 65.711; vgl 10 ObS 25/23h Rn 64). Ein berufspsychologisches Gutachten reichte zur Beurteilung dieses Privatgutachtens hier jedenfalls nicht aus.

4.: Dazu kommt noch, dass das Erstgericht letztlich § 75 Abs 2 ASGG nicht ausreichend Rechnung getragen hat:

4.1.: Da in einem sozialgerichtlichen Verfahren dem Sachverständigenbeweis besondere Bedeutung zukommt, sieht § 75 Abs 2 ASGG - in Ergänzung zu den allgemeinen zivilprozessualen Regeln - für Sozialrechtssachen im Sinn des § 65 ASGG wie dem vorliegenden Verfahren vor, dass eine Erörterung eines schriftlich erstatteten Gutachtens nur dann entbehrlich ist, wenn dieses offenkundig keiner Erörterung mehr bedarf. Diese Anordnung verfolgt den Zweck, dem Gericht und den Parteien die Möglichkeit zur Überprüfung der Gutachten in allen Belangen zu bieten und die Expertise in allen verfahrensrelevanten Fragen einer Vervollständigung zuzuführen ( Sonntag in Köck/Sonntag ASGG [2020] § 25 Rz 2). Sinn der Anordnung der Anwesenheit des Sachverständigen bei der Verhandlung nach der Bestimmung des § 75 ASGG ist es, dem Gericht und den Parteien die Möglichkeit zur Erörterung des Gutachtens in allen Belangen zu bieten (10 ObS 370/02p; 10 ObS 349/91, SSV NF 6/7; OLG Innsbruck 27.7.2021, 23 Rs 19/21x ErwGr A. 3.2.1.; 26.5.2009, 25 Rs 38/09, SVSlg 59.518) und durch entsprechende Fragestellung die Schlüssigkeit und Nachvollziehbarkeit des Gutachtens zu überprüfen (OLG Linz 23.9.2010, 11 Rs 99/10, SVSlg 59.536; OLG Innsbruck 24.3.2017, 23 Rs 67/16y ErwGr A. 6.1.). Daher besteht die Verpflichtung zur Ladung des Sachverständigen ausnahmsweise dann nicht, wenn eine Erörterung des schriftlichen Gutachtens, insbesondere Fragen des Gerichts und der Parteien an den Sachverständigen offenkundig nicht notwendig sind (OLG Linz 25.5.2011, 12 Rs 59/11z, SVSlg 62.305; OLG Wien 29.10.2009, 10 Rs 124/09, SVSlg 59.685; OLG Innsbruck zB 23 Rs 19/21x ErwGr A. 3.2.1.; 23 Rs 67/16y ErwGr A. 6.1.; 25 Rs 38/09 wie vor). Denn auch § 75 Abs 2 ASGG führt nicht dazu, dass jede Ablehnung eines Antrags auf Gutachtenserörterung bzw auf Gutachtensergänzung automatisch eine Mangelhaftigkeit des Verfahrens bewirkt, die notwendigerweise zur Aufhebung der bekämpften Entscheidung führt. Abzustellen ist vielmehr in jedem Einzelfall auf die Frage, in welchem Umfang sich die Erörterung/Ergänzung des Sachverständigengutachtens bewegen soll und ob diese offenkundig entbehrlich ist oder nicht (OLG Innsbruck 23 Rs 19/21x ErwGr A. 3.2.1.; 23 Rs 67/16y ErwGr A. 6.1.; 23 Rs 36/14m; 23 Rs 1/09g; 15.12.1992, 5 Rs 141/92, SVSlg 39.446). Daher entspricht es ständiger Judikatur, dass nicht jeder unberücksichtigt gebliebene - insbesondere inhaltsleere - Gutachtenserörterungsantrag eine Mangelhaftigkeit des erstinstanzlichen Verfahrens begründet, wenn dem zugrunde liegenden Sachverständigengutachten im Sinn der §§ 2 Abs 1 ASGG, 362 Abs 2 ZPO kein Verstoß gegen die Denkgesetze oder die Grundlagen des Fachgebiets, in dem der Sachverständige beeidet und zertifiziert ist, anhaftet und der Sachverständige keinen erheblichen Verfahrensstoff außer Acht gelassen hat. Nur wenn diese Voraussetzungen zutreffen, kann das erkennende Gericht den Darstellungen des ihm verlässlich erscheinenden Sachverständigen folgen (vgl OLG Innsbruck wie vor und allgemein zur Richtigkeit und Vollständigkeit in diesem Sinn: RIS Justiz RS0040588; RS0040592; OLG Innsbruck zB 23 Rs 51/23f ErwGr 4.9.; 23 Rs 27/23a ErwGr A.1. in anderem Zusammenhang veröffentlicht in RIS Justiz RI0100181; 23 Rs 26/23d ErwGr 3.; 23 Rs 47/20p ErwGr A.2. bestätigt durch 10 ObS 49/21k [ao Revision zurückgewiesen]). Da das Gericht auf das Fachwissen des gerichtlich beeideten Sachverständigen angewiesen ist, muss es sich darauf beschränken, ein eingeholtes Gutachten nach allgemeinen Erfahrungssätzen und seinem besonderen, im Zug der Zivilgerichtsbarkeit erworbenen Kenntnissen auf seine Nachvollziehbarkeit zu überprüfen (OLG Wien 17.12.2013, 8 Rs 115/13i, SVSlg 64.748; 21.9.2009, 10 Rs 94/09, SVSlg 59.453; OLG Linz 16.9.2014, 11 Rs 27/14s, SVSlg 63.537; OLG Innsbruck 23 Rs 27/23a ErwGr A.2., RIS Justiz RI0100181; 23 Rs 51/23f ErwGr 4.9.; 23 Rs 47/20p ErwGr A.3. bestätigt durch 10 ObS 49/21k [ao Revision zurückgewiesen]). Dieser Plausibilitätsprüfung hält das vorliegende berufspsychologische Gutachten wie erwähnt jedoch aus zwei Gründen nicht Stand: Einerseits, weil es - anders als im Vorverfahren - nicht auf einem neurologisch-psychiatrischen (zusammenfassenden oder Haupt-)Gutachten und der dort ausgesprochenen Notwendigkeit der Beiziehung eines berufspsychologischen ergänzenden Gutachtens beruhte und andererseits nicht dazu geeignet ist, das von der Klägerin als Beilage 5 vorgelegte neurologisch-psychiatrische Ergänzungsgutachten zu überprüfen und damit als ausreichende Sachverhaltsgrundlage für die Entscheidung über das Klagebegehren herzustellen. Der im Sinn der §§ 2 Abs 1 ASGG, 272 ZPO im gebundenen Ermessensbereich frei zu würdigende Beweiswert des berufspsychologischen Gutachtens (2 Ob 208/20g Rz 23; 10 ObS 69/02y) reicht daher nicht aus, um den Sachverhalt im vorliegenden Verfahren entscheidungsreif zu machen. Es hätte - aus der Sicht des Erstgerichts - zumindest der mündlichen Erörterung des berufspsychologischen Gutachtens unter Beiziehung eines Neurologen/Psychiaters (oder wie dem Erstgericht hier überbunden wird [unten ErwGr 5.] der Einholung eines neurologisch-psychiatrischen Gutachtens unter Diskussion des bereits vorliegenden berufspsychologischen Gutachtens) bedurft.

5.: Die bekämpfte Entscheidung war daher aufzuheben und - weil es nicht nur der Einholung eines neurologisch-psychiatrischen Gutachtens als Haupt-/Gesamtgutachten (wie im Vorverfahren 79 Cgs 81/20f LG Innsbruck als ASG), sondern möglicherweise auch noch der Ergänzung des bereits vorliegenden berufspsychologischen Gutachtens und gegebenenfalls auch der mündlichen Gutachtenserörterung allenfalls beider Gutachten (§ 75 Abs 2 ASGG) bedarf - die Sozialrechtssache an das Erstgericht zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung zurückzuverweisen (§§ 90 Abs 2 ASGG, 496 Abs 3 ZPO).

6.: Da noch nicht absehbar ist, welche Beweisergebnisse die erforderliche Verfahrensergänzung erbringen, wie das Erstgericht diese würdigen, in welche Sachverhaltsfeststellungen sie überführen und wie es diese rechtlich würdigen wird, ist im gegebenen Verfahrensstadium auf die Beweis- und Rechtsrügen der Berufung aus verfahrensökonomischen Gründen nicht einzugehen.

7.: Eine Kostenentscheidung konnte entfallen, weil bezüglicher Aufwand im Rechtsmittelverfahren nicht verzeichnet wurde.