JudikaturJustiz1Ob263/07v

1Ob263/07v – OGH Entscheidung

Entscheidung
10. Juni 2008

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Vizepräsidenten Dr. Gerstenecker als Vorsitzenden sowie die Hofräte Univ.-Prof. Dr. Bydlinski, Dr. Fichtenau, Dr. E. Solé und Dr. Schwarzenbacher als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Abraham A*****, vertreten durch Solicitor Edward W. Daigneault, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei Republik Österreich, vertreten durch die Finanzprokuratur, Wien 1., Singerstraße 17-19, wegen 7.400 EUR sA, infolge Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht vom 19. September 2007, GZ 14 R 147/07a-18, womit das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien vom 24. Mai 2007, GZ 32 Cg 16/06t-12, in der Hauptsache bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei binnen 14 Tagen deren mit 665,66 EUR (darin enthalten 110,94 EUR USt) bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Gegen den Kläger war beim Landesgericht für Strafsachen Wien ein Strafverfahren wegen des Verdachts des Verbrechens der Vergewaltigung nach § 201 StGB anhängig. Der Kläger war verdächtig, am 29. 3. 2005 in Wien eine Frau mit Gewalt zur Vornahme bzw Duldung des Beischlafs genötigt zu haben. Im Zuge der polizeilichen Erhebungen wurde insbesondere mit Hilfe der gefundenen DNA-Spuren der Kläger als mutmaßlicher Täter ausgeforscht. Das Landesgericht für Strafsachen Wien erließ am 6. 5. 2005 einen Haftbefehl gemäß § 175 Abs 1 Z 2 und Z 4 StPO (Flucht- und Tatbegehungsgefahr). Der Kläger gab zu, mit dem vermeintlichen Opfer Geschlechtsverkehr gehabt zu haben, dieser sei jedoch einverständlich „geschehen". Er habe ihr für ihre „Dienste" immer 20 bis 30 EUR gezahlt. Am fraglichen Tag habe er nicht genug Geld dabei gehabt, weshalb ihn das vermeintliche Opfer angezeigt habe. Mit Beschluss vom 8. 5. 2005 wurde über den Kläger die Untersuchungshaft wegen Flucht- und Tatbegehungsgefahr gemäß § 180 Abs 2 Z 1 und Z 3b StPO iVm § 35 JGG verhängt. Am 20. 5. 2005 fand eine Haftverhandlung statt. In dieser beantragte der Kläger zwar seine Enthaftung, die Untersuchungshaft wurde allerdings bis zum 20. 6. 2005 fortgesetzt. Er verzichtete dagegen auf Rechtsmittel. Am 20. 6. 2005 fand eine neuerliche Haftverhandlung statt, in welcher die Untersuchungshaft bis zum 22. 8. 2005 verlängert wurde. Auch hier verzichtete der Kläger auf Rechtsmittel. In der Hauptverhandlung wurde der Kläger schließlich vom Vorwurf des Verbrechens der Vergewaltigung gemäß § 259 Z 3 StPO freigesprochen. Das Strafgericht begründete den Freispruch insbesondere mit der Widersprüchlichkeit der Aussagen des vermeintlichen Opfers. Mit Beschluss vom 30. 9. 2005 wurde der Kläger enthaftet. Er forderte sodann von der Beklagten für die 148 Tage, welche er ungerechtfertigt in Verwahrungs- und Untersuchungshaft verbracht habe, 14.800 EUR an Haftentschädigung. Die Beklagte anerkannte und leistete rund die Hälfte der Forderung. Der Kläger machte letztlich 7.400 EUR an restlicher Haftentschädigung klageweise geltend. Ein Betrag von 100 EUR pro Tag sei angemessen, zumal der Kläger 23 Stunden täglich in einer Zelle habe verbringen müssen, für ihn keine Arbeitsmöglichkeit bestanden habe und die Besuchsmöglichkeiten durch Überwachung eingeschränkt gewesen seien. Er sei Immigrant, was zu Verständigungsproblemen geführt habe, und außerdem habe er eine ihm nicht vertraute Kost zu sich nehmen müssen. Die Beklagte wendete ein, dass zum Zeitpunkt der Verhängung der Verwahrungs- bzw Untersuchungshaft die belastenden Umstände gegenüber den entlastenden in der Überzahl gewesen seien und deshalb der Tatverdacht zu Recht als dringend angenommen worden sei. Die Haftgründe der Flucht- und Tatbegehungsgefahr seien zufolge der mangelnden Inlandsintegration und einer einschlägigen Vorstrafe bejaht worden, weshalb die Untersuchungshaft zu verhängen und fortzusetzen gewesen sei. Die über den Kläger verhängte Haft sei aufgrund der Strafdrohung für das ihm angelastete Delikt auch nicht unverhältnismäßig gewesen, sodass das richterliche Mäßigungsrecht gemäß § 3 Abs 2 StEG 2005 zur Anwendung gelange. Bei der Bemessung der Haftentschädigung sei auch zu berücksichtigen, dass der Kläger zum damaligen Zeitpunkt Asylwerber gewesen sei und über kein Einkommen oder Vermögen verfügt habe. Deswegen sei durch die Haft keine bedeutsame Änderung in seinen Lebensverhältnissen eingetreten. Das Erstgericht gab der Klage statt. Es erachtete die Tatbestandsvoraussetzungen des § 2 Abs 1 Z 2 StEG 2005 für gegeben, fand keinen Anlass für eine richterliche Mäßigung nach § 3 Abs 2 StEG und verneinte das Vorliegen der Voraussetzungen des § 4 leg cit (Mitverschulden). Hinsichtlich der Höhe des Ersatzanspruchs sei die bisherige Rechtsprechung zu Art 5 Abs 5 EMRK, die einen Betrag von 100 EUR pro Tag konventionswidriger Haft vorsehe, heranzuziehen. Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung in der Hauptsache und sprach aus, dass die ordentliche Revision zulässig sei. Es liege ein Fall der gesetzmäßigen, aber ungerechtfertigten Haft nach § 2 Abs 1 Z 2 StEG vor. Grundvoraussetzung für das Bestehen eines Ersatzanspruchs sei allein die Außer-Verfolgung-Setzung des Geschädigten. Bei der Prüfung, ob eine Minderung oder ein Ausschluss der Haftung der Beklagten gemäß § 3 Abs 2 StEG in Betracht komme, sei zu beachten, dass bei einem Freispruch nach § 259 Z 3 StPO die Berücksichtigung der Verdachtslage ausgeschlossen sei. Im Fall der ungerechtfertigten Haft sei eine Minderung bzw ein Ausschluss des Entschädigungsanspruchs nur bei Verhängung der Untersuchungshaft wegen Tatbegehungsgefahr nach § 180 Abs 2 Z 3 lit d StPO (Tatausführungsgefahr) vom Gesetzgeber beabsichtigt gewesen, nicht dagegen - wie im vorliegenden Fall - bei Verhängung der Untersuchungshaft wegen Tatbegehungsgefahr nach § 180 Abs 2 Z 3 lit b StPO. Was die Bemessung der Haftentschädigung betrifft, könne die Argumentation der Beklagten, dass die Beeinträchtigungen durch die Freiheitsentziehung geringer zu werten seien, wenn der Anspruchsberechtigte das Haftübel bereits einmal kennen gelernt habe, nicht ernsthaft aufrecht erhalten werden.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision der Beklagten ist zulässig, aber nicht berechtigt.

1. Das Strafrechtliche Entschädigungsgesetz 2005 unterscheidet Ersatzansprüche aufgrund gesetzwidriger und ungerechtfertigter Haft sowie nach Wiederaufnahme. In den Fällen der ungerechtfertigten Haft - also wenn jemand wegen des Verdachts einer strafbaren Handlung festgenommen oder in Haft gehalten, in der Folge aber freigesprochen oder sonst außer Verfolgung gesetzt wurde - und der Wiederaufnahme kann gemäß § 3 Abs 2 StEG der Ersatz unter Bedachtnahme auf die Verdachtslage zur Zeit der Festnahme oder Anhaltung, auf die Haftgründe und die Gründe, die zum Freispruch oder zur Einstellung des Verfahrens geführt haben, gemindert oder auch ganz ausgeschlossen werden. Ist allerdings ein Freispruch nach § 259 Z 3 StPO erfolgt, kann nach § 3 Abs 2 Satz 2 StEG dabei die Verdachtslage nicht berücksichtigt werden. Die letztgenannte Regelung wurde eingeführt, um die Grundrechtskonformität des StEG im Lichte der Judikatur des EGMR zu gewährleisten, nach der es nach einem rechtskräftigen Freispruch mit der Unschuldsvermutung des Art 6 Abs 2 EMRK unvereinbar ist, den Fortbestand der Verdachtslage zu prüfen (1 Ob 169/07w mwN).

Nach den Gesetzesmaterialien zum StEG (618 BlgNR 22. GP, 9) wäre es verfehlt, wenn jede einem Freispruch oder einer Verfahrenseinstellung vorausgegangene Festnahme oder Anhaltung „automatisch" zu einer Haftung des Bundes führte. Sei ein Freispruch etwa darauf zurückzuführen, dass der Verwertung einer Aussage ein nachträgliches „Verwertungsverbot" entgegenstehe, dass ursprünglich vorhandene Beweismittel verloren gingen oder der Freispruch allein aus formalen Gründen erfolge, könne eine Entschädigung unangemessen sein. Ebenso sei eine (volle) Haftung des Bundes fragwürdig, wenn der Freiheitsentzug zur Verhinderung weiterer Schäden, etwa der Gefahr der Ausführung einer angedrohten Tat, notwendig gewesen sei und der Bund andernfalls - wie zB im Fall SZ 62/73 - Amtshaftungsansprüchen späterhin geschädigter Dritter ausgesetzt werde. Für solche und andere Fälle solle dem Richter eine Mäßigungs- oder Ausschlussbefugnis eingeräumt werden. Bei der Ermessensentscheidung dürfe freilich nach einem Freispruch nach § 259 Z 3 StPO nicht auf den „bestandenen oder noch bestehenden" Tatverdacht eingegangen werden. In einem solchen Fall könnten aber die Haftgründe und die Gründe für den Freispruch oder die Verfahrenseinstellung gewertet und die Haftpflicht des Bundes gemindert oder ausgeschlossen werden. Diese Ausführungen vermeiden eine klare Trennung zwischen den entschädigungsrechtlichen Rechtsfolgen bei „qualifizierten" Freisprüchen nach § 259 Z 3 StPO und anderen Freisprüchen bzw Verfahrenseinstellungen und berücksichtigen daher unzureichend, dass der Gesetzestext selbst bei Freisprüchen nach § 259 Z 3 StPO jegliche Berücksichtigung der Verdachtslage verbietet. Die in § 3 Abs 2 StEG gesondert angeführten gesetzlichen Haftgründe reichen aber für sich alleine nie für die Anhaltung aus, sondern müssen immer zusätzlich zu einem bestehenden dringenden Tatverdacht vorliegen (Kirchbacher/Rami, WK-StPO § 180 Rz 1 und 6). Wenn eben dieser Tatverdacht nach einem Freispruch nach § 259 Z 3 StPO aber nicht berücksichtigt werden darf, können die Haftgründe für sich genommen nicht zur Mäßigung der Entschädigung nach einem iSd § 3 Abs 2 StEG „qualifizierten" Freispruch führen, ohne mit dem Verbot der Berücksichtigung der in nicht trennbarem Zusammenhang stehenden Verdachtslage in Konflikt zu geraten. Sämtliche Varianten des Haftgrundes der Tatbegehungsgefahr sind nur dann taugliche Gründe für die Verhängung der Untersuchungshaft, wenn überhaupt ein dringender Tatverdacht vorliegt. Ohne diesen können sie eine Untersuchungshaft weder zur Gänze noch zum Teil rechtfertigen und daher auch nicht eine Minderung der Entschädigung für ungerechtfertigte Haft.

Die Ausführungen in der Revision, dass die Haftgründe zufolge mangelnder Inlandsintegration und einer einschlägigen Vorstrafe des Klägers zu Recht angenommen worden seien, sind darüber hinaus auch deshalb nicht geeignet, zu einer Mäßigung zu gelangen, weil damit lediglich dargetan wird, dass „nur" ein Fall der ungerechtfertigten - und nicht der gesetzwidrigen - Haft iSd StEG vorliegt. Im von der Beklagten betonten Schutz der Allgemeinheit durch die im vorliegenden Fall verhängte Untersuchungshaft ist ein von der Verdachtslage unabhängiger Grund, der zu einer Minderung der Haftung der beklagten Partei nach § 3 Abs 2 StEG führen könnte, nicht zu erblicken (so auch jüngst 1 Ob 257/07m).

2. Gemäß § 5 Abs 2 StEG 2005 umfasst der Ersatzanspruch wegen des Entzugs der persönlichen Freiheit auch eine angemessene Entschädigung für die durch die Festnahme oder die Anhaltung erlittene Beeinträchtigung. Bei der Beurteilung der Angemessenheit sind die Dauer der Anhaltung sowie die persönlichen Verhältnisse der geschädigten Person und deren Änderung durch die Festnahme oder Anhaltung zu berücksichtigen.

Der Rechtsmeinung der Beklagten, wonach der Kläger „das Haftübel" bereits durch eine Vorhaft kennen gelernt habe und die gegenständliche Haft deshalb für ihn keine wesentliche Änderung seiner Lebensumstände bedeute, sodass seine Ansprüche zu mindern seien, ist nicht beizupflichten. Der Umstand, dass ein nach den Bestimmungen des StEG Ersatzberechtigter bereits in der Vergangenheit das Haftübel kennen gelernt hat, führt - ohne Hinzukommen weiterer, hier jedenfalls nicht aufgezeigter Umstände - grundsätzlich nicht dazu, die neu erlittene Haft geringer zu bewerten als jene von bislang von Haft bzw Vorstrafen verschonten Personen. Die wesentliche Änderung der Lebensumstände findet im Allgemeinen schon durch den Entzug der Freiheit statt. Die von den Vorinstanzen mit 100 EUR/Tag bemessene Entschädigung ist demgemäß nicht zu beanstanden. Die Kostenentscheidung gründet auf den §§ 50 und 41 ZPO.