JudikaturJustiz15Os70/92

15Os70/92 – OGH Entscheidung

Entscheidung
02. Juli 1992

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 2.Juli 1992 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Hon.Prof.Dr.Steininger als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Reisenleitner, Dr.Lachner, Dr.Kuch und Dr.Hager als weitere Richter, in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag.Liener als Schriftführerin, in der Strafsache gegen Helmut M***** und einen anderen wegen des Vergehens der fahrlässigen Krida nach § 159 Abs. 1 Z 1 StGB, AZ 12 e E Vr 8260/89 des Landesgerichtes für Strafsachen Wien, über die von der Generalprokuratur erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes gegen die Beschlüsse des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 15.November 1991 und vom 9. Jänner 1992 sowie gegen den Vorgang, daß die Hauptverhandlung gegen Helmut M***** am 15.November 1991 nach "Enthebung" seines Verteidigers unverzüglich fortgesetzt wurde, nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters des Generalprokurators, Generalanwalt Dr.Weiss, und des Verteidigers Dr.Rieß, jedoch in Abwesenheit des Angeklagten, zu Recht erkannt:

Spruch

In der Strafsache gegen Helmut M***** und einen anderen wegen § 159 Abs. 1 Z 1 StGB, AZ 12 e E Vr 8260/89 des Landesgerichtes für Strafsachen Wien, ist das Gesetz verletzt worden

1. durch den in der Hauptverhandlung vom 15.November 1991 verkündeten Beschluß des Einzelrichters auf "Enthebung des Verteidigers Dr.Manfred V***** von der Verteidigung", ohne daß der Beschuldigte M***** zur Wahl eines anderen Verteidigers aufgefordert wurde, in den Bestimmungen der §§ 236 Abs. 2 erster Satz und 236 a StPO;

2. durch den Vorgang, wonach trotz mangelnder Verzichtserklärung des Beschuldigten M***** auf Wahl eines anderen Verteidigers nach der beschlußmäßigen Enthebung seines Wahlverteidigers die Hauptverhandlung sogleich fortgesetzt wurde, in der Bestimmung des § 274 erster Satz StPO sowie

3. durch jenen Teil des Beschlusses des Einzelrichters vom 8.Jänner 1992 (S 3 f), mit welchem die Anmeldung der Nichtigkeitsbeschwerde sowie der Berufung wegen Schuld und Strafe und die Ausführung der Berufung wegen Nichtigkeit, Schuld und Strafe, jeweils durch Rechtsanwalt Dr.V*****, zurückgewiesen wurde, in der Bestimmung des § 467 Abs. 5 StPO iVm § 489 Abs. 1 StPO.

Die zu den Punkten 1. und 3. genannten Beschlüsse sowie das am 15. November 1991 gefällte Urteil, soweit es den Beschuldigten Helmut M***** betrifft, werden aufgehoben und es wird dem Landesgericht für Strafsachen Wien die gesetzmäßige Erneuerung des den Beschuldigten Helmut M***** betreffenden Verfahrens aufgetragen.

Text

Gründe:

Im Strafverfahren AZ 12 e E Vr 8260/89 des Landesgerichtes für Strafsachen Wien wurde in der Hauptverhandlung vom 15.November 1991 der gewählte Verteidiger des Beschuldigten Helmut M*****, Rechtsanwalt Dr.Manfred V*****, vom Einzelrichter mit unanfechtbarem (§ 237 Abs. 1 StPO) Beschluß von der Verteidigung enthoben, weil er trotz vorangegangener Verwarnung (richtig: Abmahnung - vgl. § 236 a StPO), Wortentzug und Androhung der Rechtsfolge des § 236 Abs. 2 StPO weiter durch "Dazwischenreden" die Einvernahme des Beschuldigten durch den Einzelrichter gehindert hatte (S. 427). Obgleich der Beschuldigte M***** durch seine anschließende Erklärung: "Wenn ich keinen Anwalt mehr habe, werde ich hier nichts mehr weiter sagen" (S. 428), deutlich zum Ausdruck brachte, auf die Beiziehung eines Verteidigers nicht verzichten zu wollen, setzte der Einzelrichter die Hauptverhandlung ohne Einschreiten eines Verteidigers für M***** fort, eröffnete sodann das Beweisverfahren und fällte schließlich am gleichen Tage, nachdem M***** auch im Schlußwort wörtlich vorgebracht hatte: "Ich weiß nicht, was ich nach dem Ausschluß meines Verteidigers machen soll" (S. 439), einen Schuldspruch. Während der Mitbeschuldigte das (auch) gegen ihn ergangene Urteil in Rechtskraft erwachsen ließ, meldete M***** sofort Berufung wegen Schuld an.

Vom bereits enthobenen Verteidiger Dr.V***** wurde am 19.November 1991 (somit einen Tag nach Ablauf der Frist zur Anmeldung von Rechtsmitteln) ein an das Landesgericht für Strafsachen Wien gerichteter Schriftsatz zur Post gegeben, in dem unter Punkt I gegen das Urteil des Einzelrichters "Nichtigkeitsbeschwerde" sowie "Berufung wegen Schuld und Strafe" angemeldet und unter Punkt II eine Abschrift des Verhandlungsprotokolls begehrt und unter Punkt III der Einzelrichter wegen Befangenheit abgelehnt wurde (ON 30). Nach der am 19. Dezember 1991 erfolgten Zustellung einer Urteilsausfertigung an M***** (S. 449) wurde - wiederum von Dr.V***** - eine Ausführung der Berufung wegen Nichtigkeit, Schuld und Strafe bei Gericht eingebracht (ON 35). Der erwähnte Ablehnungsantrag wurde vom Präsidenten des Landesgerichtes für Strafsachen Wien mit Beschluß vom 30.Dezember 1991 zurückgewiesen (ON 34).

Die Punkte I und II der Eingabe ON 30 sowie die Ausführung der Berufung wegen Nichtigkeit, Schuld und Strafe (ON 35) wies der Einzelrichter mit Beschluß vom 8.Jänner 1992 zurück, weil Dr.V***** als Verteidiger enthoben und daher nicht mehr berechtigt sei, im erwähnten Verfahren Anträge zu stellen. Über die mündlich angemeldete Schuldberufung des Beschuldigten M***** ist bis jetzt noch nicht entschieden worden.

Rechtliche Beurteilung

Das Vorgehen des Einzelrichters steht, wie die Generalprokuratur zutreffend aufzeigt, in mehrfacher Weise mit dem Gesetz nicht im Einklang:

Gemäß § 236 a StPO kann der Vorsitzende und gemäß § 488 StPO der Einzelrichter in der Hauptverhandlung gegenüber einem Parteienvertreter, welcher der Disziplinargewalt einer Standesbehörde - wie im vorliegenden Fall ein Rechtsanwalt - unterliegt, der (sich des im § 235 StPO umschriebenen Verhaltens schuldig macht oder) die dem Gericht gebührende Achtung verletzt, nach Abmahnung die im § 236 Abs. 2 StPO vorgesehenen Maßnahmen treffen. Eine fortgesetzte Hinderung des Einzelrichters an der Vernehmung eines Beschuldigten durch wiederholtes Dazwischenreden des Verteidigers (vgl. S. 465) stellt eine Verletzung der dem Gericht gebührenden Achtung dar, zumal dieses Verhalten über eine bloß unbefugte, weil ohne Bewilligung des Richters vorgenommene Fragestellung eines Verteidigers an den Beschuldigten oder an einen Zeugen (worin noch keine derartige Achtungsverletzung zu erblicken wäre - vgl. Mayerhofer-Rieder StPO3, ENr. 6 zu § 236) doch erheblich hinausgeht. Somit lagen im gegenständlichen Verfahren die Voraussetzungen des § 236 Abs. 2 StPO iVm § 236 a StPO vor.

Da der Parteienvertreter sein ungebührliches Benehmen fortgesetzt hat, war der Einzelrichter demnach befugt, nach Abmahnung dem Verteidiger das Wort zu entziehen. Gemäß § 236 Abs. 2 erster Satz StPO wäre der Einzelrichter aber verpflichtet gewesen, unter einem (arg. "und") den Beschuldigten M***** zur Wahl eines anderen Verteidigers aufzufordern. Mit dieser Aufforderung an die Partei ist der bisherige Verteidiger von der weiteren Ausübung der Verteidigung in diesem Verfahren ausgeschlossen; eines gesonderten Beschlusses auf "Enthebung" bedarf es hiebei nicht. Kann der Beschuldigte nicht sofort einen (anderen) Verteidiger mit seiner Vertretung betrauen und verzichtet er im (hier gegebenen) Fall nicht notwendiger Verteidigung nicht auf einen Verteidiger, so hat das Gericht die Hauptverhandlung gemäß seiner Aufforderung an den Beschuldigten zu vertagen.

Indem der Einzelrichter es unterlassen hat, den Beschuldigten M*****, nachdem sein Verteidiger abgemahnt und diesem das Wort entzogen worden war - vgl. "zum Schweigen aufgefordert" in ON 33 -, zur Wahl eines anderen Verteidigers aufzufordern, sondern die Hauptverhandlung fortsetzte und in ihr ein Urteil fällte, hat er gegen § 236 Abs. 2 StPO verstoßen. Zugleich ist darin auch ein Verstoß gegen § 274 StPO zu erblicken (vgl. SSt. 43/7), weil Helmut M***** mit Deutlichkeit zu verstehen gegeben hat, daß er mit der Durchführung der Hauptverhandlung ohne Verteidiger nicht einverstanden ist.

Letztlich verstößt auch die Zurückweisung der Anmeldung der Nichtigkeitsbeschwerde und der Berufung wegen Schuld und Strafe sowie der Ausführung der Berufung wegen Nichtigkeit, Schuld und Strafe durch den Beschluß des Einzelrichters vom 8.Jänner 1992 gegen das Gesetz. Denn gemäß §§ 467 Abs. 5, 489 Abs. 1 StPO hat der Einzelrichter unzulässige oder verspätete Berufungen dem Rechtsmittelgericht vorzulegen; keineswegs ist er befugt, derartige Rechtsmittel selbst zurückzuweisen (SSt. 35/58, Mayerhofer-Rieder aaO ENr. 27 zu § 467).

Der von der Generalprokuratur zur Wahrung des Gesetzes erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde war daher Folge zu gheben und spruchgemäß zu erkennen.

Da - wie bereits dargetan - der Einzelrichter dadurch, daß er Rechtsanwalt Dr.V***** in der Hauptverhandlung am 15.November 1991 "zum Schweigen aufgefordert" hatte, diesem der Sache nach ohnedies das Wort entzogen hat, lag die von der Generalprokuratur reklamierte weitere Gesetzesverletzung, der Einzelrichter habe es auch unterlassen, dem Verteidiger das Wort zu entziehen, nicht vor.

Rechtssätze
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