JudikaturJustiz15Os67/21y

15Os67/21y – OGH Entscheidung

Entscheidung
15. September 2021

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 15. September 2021 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon. Prof. Dr. Kirchbacher als Vorsitzenden sowie den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Mag. Lendl und die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Michel Kwapinski, Mag. Fürnkranz und Dr. Mann in Gegenwart des Richteramtsanwärters Mag. Lampret als Schriftführer in der Strafsache gegen A***** P***** wegen der Verbrechen des Mordes nach §§ 15, 75 StGB und einer weiteren strafbaren Handlung über die Nichtigkeitsbeschwerde und die Berufung des Angeklagten gegen das Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien als Geschworenengericht vom 25. März 2021, GZ 614 Hv 5/20x 111, nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Die Nichtigkeitsbeschwerde und die Berufung wegen Schuld werden zurückgewiesen.

Zur Entscheidung über die Berufung wegen Strafe werden die Akten dem Oberlandesgericht Wien zugeleitet.

Dem Angeklagten fallen auch die Kosten des bisherigen Rechtsmittelverfahrens zur Last.

Text

Gründe:

[1] Mit dem angefochtenen, auf dem Wahrspruch der Geschworenen beruhenden Urteil, wurde A***** P***** zweier Verbrechen des Mordes nach §§ 15, 75 StGB (I./ und II./) sowie des Verbrechens der absichtlichen schweren Körperverletzung nach § 87 Abs 1 StGB (III./) schuldig erkannt, zu einer Freiheitsstrafe verurteilt und gemäß § 21 Abs 2 StGB in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher eingewiesen.

[2] Danach hat er am 1. Juni 2020 in W*****

I./ „I***** C***** zu töten versucht (§ 15 StGB), indem er zu ihr sagte, dass er eine Überraschung für sie habe und sie aufforderte sich umzudrehen und die Augen zu schließen, ein Karambitmesser mit sieben cm langer und spitz zulaufender Klinge zückte und damit auf sie einstechen wollte, wobei es lediglich deshalb beim Versuch blieb, weil I***** C***** im Spiegel sah, wie er das Messer herausnahm, woraufhin sie sofort zur Seite sprang, die Eingangstür öffnete und ihm androhte, umgehend die Polizei zu rufen, weshalb A***** P***** von seinem weiteren Vorhaben Abstand nahm und die Wohnung verließ;

II./ N***** L***** zu töten versucht (§ 15 StGB), indem er ihr mit einem Karambitmesser mit sieben cm langer und spitz zulaufender Klinge zahlreiche Schnitte im Gesicht, am Kopf, im Halsbereich, am Rücken, am linken Oberarm sowie an der rechten Hand zufügte, wodurch diese unter anderem eine rund zehn cm lange klaffende, bis zum Schädelknochen reichende Schnittwunde im rechten Hinterhauptscheitelbereich mit Eröffnung eines kleinen Schlagaderastes und starker Blutung, eine neun cm lange tiefe Schnittwunde an der rechten Wange, vom rechten Nasenflügel zum rechten Unterkiefer mit Durchtrennung mehrerer Nervenäste, eine quer verlaufende fünf cm lange Schnittwunde an der vorderen Halsregion, eine rund 20 cm lange klaffende und bis in die tiefe Rückenmuskulatur verlaufende Schnittwunde in Höhe der unteren Brustwirbelsäule sowie zahlreiche weitere schwere Schnittverletzungen im Bereich des Oberkörpers und der rechten Hand erlitt, wobei es nur deswegen beim Versuch blieb, weil D***** O***** der N***** L***** rechtzeitig zur Hilfe kam;

III./ D***** O***** absichtlich schwer am Körper verletzt, indem er ihn mit einem Karambitmesser mit sieben cm langer und spitz zulaufender Klinge attackierte, wodurch dieser eine 15 cm lange Schnittwunde an der Streck- und Außenseite des linken Oberarmes mit einem sieben cm langen, die Oberarmmuskulatur zum Teil durchtrennenden Schnitt und nach unten auslaufenden Schnittverlauf, sohin eine an sich schwere Körperverletzung erlitt“.

Rechtliche Beurteilung

[3] Dagegen richtet sich die auf Z 3 , 5 und 6 des § 345 Abs 1 StPO gestützte Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten, der keine Berechtigung zukommt.

[4] D ie Verfahrensrüge (Z 3), die die trotz Widerspruchs des Beschwerdeführers erfolgte Verlesung (ON 110 S 5) der Aussage der Zeugin I***** C***** vor der Kriminalpolizei in der Hauptverhandlung kritisiert, verfehlt ihr Ziel, weil sie keine nichtige Erkundigung oder Beweisaufnahme im Ermittlungsverfahren aufzeigt.

[5] Aber auch unter dem Aspekt der – inhaltlich angesprochenen – Zulässigkeit der Verlesung liegt keine Gesetzesverletzung (Z 4 des § 345 Abs 1 StPO iVm § 252 StPO) vor .

[6] Gemäß § 252 Abs 1 Z 1 StPO ist die Verlesung des Protokolls über die Vernehmung einer Zeugin unter anderem dann zulässig, wenn das persönliche Erscheinen der Vernommenen wegen entfernten Aufenthalts oder aus anderen erheblichen Gründen füg lich nicht bewerkstelligt werden konnte. Ein unbekannter Aufenthalt iSd § 252 Abs 1 Z 1 StPO ist im Hinblick darauf, dass bei bloßer Verlesung einer Aussage das grundrechtlich geschützte Fragerecht des Angeklagten (Art 6 Abs 3 lit d EMRK) nicht ausgeübt werden kann, erst dann anzunehmen, wenn die aus dem Akt nachvollziehbaren Möglichkeiten der Ausforschung des Zeugen ausgeschöpft wurden. Dies kann immer nur nach Lage des konkreten Einzelfalls beurteilt werden ( Kirchbacher , WK StPO § 252 Rz 61; RIS Justiz RS0108361).

[7] Vorliegend hat das Gericht – nachdem die Zeugin zur Hauptverhandlung am 10. Dezember 2020 nicht erschienen war (ON 84 S 28) – zunächst eine Zentralmeldeauskunft eingeholt und eine Kontaktaufnahme per E Mail versucht (ON 89 und 91). Die am 16 . Dezember 2020 erfolgte Ausschreibung zur Aufenthaltsermittlung (ON 93, 96) blieb ebenso erfolglos (ON 110 S 3) wie ein Nachforschungsversuch der Polizei (ON 95, 97).

[8] In Anbetracht der – über einen Zeitraum von über drei Monaten – gesetzten Maßnahmen konnte das Gericht daher zu Recht von einer Unerreichbarkeit der Zeugin ausgehen und deren Aussage aus dem Ermittlungsverfahren verlesen (vgl RIS Justiz RS0108361).

[9] Entgegen der Beschwerdekritik (Z 5) wurden durch die Abweisung der in der Hauptverhandlung am 10. Dezember 2020 gestellten Anträge (ON 84 S 28 f), P***** T*****, F***** H***** und F***** M***** als Zeugen zu vernehmen, Verteidigungsrechte nicht verletzt. Denn die dazu angeführten Beweisthemen, nämlich dass der Angeklagte als Tischler stets ein Messer als „Alltagsgegenstand“ bei sich führe und (zu II./ und III./) dass aus seinen Taekwondo-Kenntnissen nicht abgeleitet werden könne, er sei seinem Gegenüber jedenfalls überlegen, ließen nicht erkennen, inwiefern sie geeignet sein sollten, eine erhebliche Tatsache zu beweisen (§ 55 Abs 2 Z 2 StPO).

[10] Der Antrag auf Einholung eines „neuerlichen psychiatrischen Gutachtens durch einen anderen unabhängigen Sachverständigen“ zum Beweis dafür, dass „der Angeklagte nicht gefährlich ist, die Voraussetzungen des § 21 Abs 2 StGB nicht vorliegen und in Hinkunft von diesem keine Gefahr mehr ausgeht“ (ON 110 S 6), war lediglich auf die Überprüfung der Gefährlichkeitsprognose gerichtet, die als Ermessensentscheidung nur mit Berufung bekämpfbar ist (RIS-Justiz RS0090341, RS0090200; Ratz in WK 2 StGB Vor §§ 21–25 Rz 11).

[11] Die Fragenrüge (Z 6) vermisst zu I./ unter Hinweis auf die Angaben der I***** C*****, der Angeklagte habe ein Messer mit spitzer Klinge gezogen, und sie habe sich „sehr erschreckt“ (ON 15 S 22), die Stellung einer Eventualfrage nach gefährlicher Drohung nach § 107 Abs 1, „allenfalls“ Abs 2 StGB.

[12] Beruft sich der Angeklagte auf ein in der Hauptverhandlung vorgekommenes Beweisergebnis, so darf er den Nachweis der geltend gemachten Nichtigkeit nicht bloß auf der Grundlage einzelner, isoliert aus dem Kontext der Aussage gelöster Teile davon führen, sondern hat vielmehr die Beweisergebnisse in ihrer Gesamtheit zu berücksichtigen (RIS-Justiz RS0120766).

[13] Ausgehend davon, dass sich der Angeklagte gar nicht in Richtung des Vergehens der gefährlichen Drohung verantwortet hat (ON 84 S 3, 8 ff), und mit Blick auf die weiteren Angaben der Zeugin, wonach P***** sie aufgefordert habe, die Augen zu schließen (ON 15 S 22) und – so der Angeklagte (ON 84 S 9) – sich umzudrehen, bringt die Rüge kein Tatsachensubstrat vor, das nach gesicherter allgemeiner Lebenserfahrung als ernst zu nehmendes Indiz für das Vorliegen einer gefährlichen Drohung in Frage käme (RIS Justiz RS0100860, RS0123012).

[14] Gleiches gilt für die Kritik (Z 6), es wäre zu II./ die Stellung einer Eventualfrage nach schwerer Körperverletzung (§ 84 StGB) und/oder absichtlicher schwerer Körperverletzung (§ 87 StGB) erforderlich gewesen . Denn die Einlassung des Angeklagten, er habe L***** nicht töten wollen, sich jedoch (anlässlich geübter Selbstverteidigung) nicht anders zu helfen gewusst (ON 84 S 8), er habe sich der Verletzung zweier Personen schuldig gemacht (ON 84 S 3), ist angesichts seiner weiteren Angaben, er habe das Tatopfer nicht verletzen wollen (ON 84 S 3, ON 110 S 4) sowie der Art, der Zahl und der Intensität der Messerstiche (vgl ON 44, ON 84 S 25 ff) nicht geeignet, einen „bloßen“ Verletzungsvorsatz zu indizieren.

[15] Die Nichtigkeitsbeschwerde und die im kollegialgerichtlichen Verfahren nicht vorgesehene, nur angemeldete (ON 110 S 12) Berufung wegen Schuld waren daher – in Übereinstimmung mit der Stellungnahme der Generalprokuratur, jedoch entgegen der dazu erstatteten Äußerung der Verteidigung – bereits bei nichtöffentlicher Beratung sofort zurückzuweisen (§§ 285d Abs 1, 344 StPO). Daraus ergibt sich die Zuständigkeit des Oberlandesgerichts zur Entscheidung über die Berufung wegen Strafe (§§ 285i, 344 StPO).

[16] Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 390a Abs 1 StPO.

Rechtssätze
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