JudikaturJustiz15Os162/11d

15Os162/11d – OGH Entscheidung

Entscheidung
25. Januar 2012

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 25. Jänner 2012 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Danek als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. T. Solé und Mag. Lendl sowie die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Bachner Foregger und Dr. Michel Kwapinski als weitere Richter in Gegenwart des Richteramtsanwärters Mag. Brandstetter als Schriftführer in der Strafvollzugssache der Radmila M*****, AZ 188 BE 302/10x des Landesgerichts für Strafsachen Wien, über den von der Generalprokuratur gegen den Vorgang, dass vor Beschlussfassung über die bedingte Entlassung die Einsichtnahme in den Urteilsakt AZ 75 Hv 151/06h des Landesgerichts für Strafsachen Wien unterblieb, erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters der Generalprokuratur, Generalanwalt Dr. Eisenmenger, zu Recht erkannt:

Spruch

In der Strafvollzugssache der Radmila M*****, AZ 188 BE 302/10x des Landesgerichts für Strafsachen Wien (vormals AZ 44 BE 397/10a des Landesgerichts Wiener Neustadt), verletzt der ohne vorangehende Einsichtnahme in den Akt AZ 75 Hv 151/06h des Landesgerichts für Strafsachen Wien gefasste Beschluss des Landesgerichts Wiener Neustadt als Vollzugsgericht vom 24. August 2010, GZ 44 BE 397/10a 5, über die bedingte Entlassung der Verurteilten § 152 Abs 2 erster Satz StVG.

Text

Gründe:

Radmila M*****, wurde durch Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 8. November 2006, GZ 75 Hv 151/06h 72, zu einer Freiheitsstrafe von 18 Monaten verurteilt, wobei ein Teil von zwölf Monaten unter Bestimmung einer dreijährigen Probezeit bedingt nachgesehen wurde. Der unbedingte Strafteil war am 8. Dezember 2006 vollzogen.

Aufgrund neuerlicher Delinquenz wurde sie in der Folge durch Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 12. August 2009, GZ 81 Hv 85/09a 104, zu einer Freiheitsstrafe von 27 Monaten verurteilt. Unter einem wurde die bedingte Nachsicht hinsichtlich des zur erstgenannten Verurteilung ausgesprochenen zwölfmonatigen Strafteils gemäß §§ 53 Abs 1 StGB, 494a Abs 1 Z 4 StPO beschlussmäßig widerrufen.

Die Strafe und der vom Widerruf betroffene Strafteil wurden unmittelbar nacheinander in der Justizanstalt Schwarzau vollzogen.

Am 10. Februar 2010 erging im Verfahren AZ 75 Hv 151/06h des Landesgerichts für Strafsachen Wien (ON 91) ein Beschluss auf nachträgliche Milderung der Strafe gemäß § 31a StGB in der Form, dass „die ursprünglich verhängte Freiheitsstrafe in der Höhe von 18 Monaten, wobei ein Strafteil von zwölf Monaten bedingt nachgesehen wurde, auf eine Freiheitsstrafe in der Höhe von 15 Monaten“ reduziert werde, wovon „ein Strafteil von zehn Monaten unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen“ sei.

Mit Beschluss des Landesgerichts Wiener Neustadt als Vollzugsgericht vom 24. August 2010, GZ 44 BE 397/10a 5, wurde Radmila M***** am 5. November 2010 aus dem Vollzug der mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 12. August 2009, AZ 81 Hv 85/09a, verhängten unbedingten Freiheitsstrafe von 27 Monaten und der mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 8. November 2006, AZ 75 Hv 151/06h, ausgesprochenen zehnmonatigen Freiheitsstrafe nach Verbüßung eines Teils von 25 Monaten gemäß § 46 StGB bedingt entlassen. Das Vollzugsgericht bestimmte die Probezeit mit drei Jahren, ordnete Bewährungshilfe an und erteilte der Entlassenen Weisungen. Nach der Aktenlage nahm der Vollzugsrichter vor seiner Entscheidung lediglich in das zu AZ 81 Hv 85/09a des Landesgerichts für Strafsachen Wien ergangene Urteil und eine aktuelle Strafregisterauskunft Einsicht, verabsäumte aber die Beischaffung und Einsichtnahme in den Akt oder das Urteil zu AZ 75 Hv 151/06h des Landesgerichts für Strafsachen Wien.

Rechtliche Beurteilung

Wie die Generalprokuratur in ihrer zur Wahrung des Gesetzes erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde im Ergebnis zutreffend aufzeigt, steht die Beschlussfassung über die bedingte Entlassung ohne vorangehende Einsichtnahme in den zuvor bezeichneten Akt (oder zumindest das Urteil) mit dem Gesetz nicht im Einklang.

Gemäß § 152 Abs 2 erster Satz StVG hat das Gericht vor jeder Entscheidung über die bedingte Entlassung ua in die Akten über das Strafverfahren Einsicht zu nehmen. Dabei sind alle Strafakten beizuschaffen, die Grundlage des Strafvollzugs sind, bei widerrufenen Strafnachsichten und widerrufenen bedingten Entlassungen daher auch die Akten jener Verfahren, in denen die bedingten Strafnachsichten gewährt und die Freiheitsstrafen verhängt worden sind. In analoger Anwendung des § 494a Abs 3 letzter Satz StPO kann sich das Gericht jedoch dem Sinn und Zweck der Bestimmung entsprechend mit der Einsichtnahme in eine Abschrift des Urteils begnügen, wenn sie eine ausreichende Entscheidungsgrundlage darzustellen vermag ( Pieber in WK 2 StVG § 152 Rz 14 [in Druck]).

Im vorliegenden Fall wurde hinsichtlich der zu AZ 81 Hv 85/09a des Landesgerichts für Strafsachen Wien verhängten Strafe die (bloße) Einsicht in das Urteil den genannten Kriterien gerecht. Bezüglich der zu AZ 75 Hv 151/06h des Landesgerichts für Strafsachen Wien ausgesprochenen Sanktion fehlte jedoch jedenfalls eine taugliche Entscheidungsgrundlage, zumal weder in den Akt noch in das Urteil eingesehen wurde, sodass die dennoch erfolgte Beschlussfassung gegen § 152 Abs 1 StVG verstieß.

Die Generalprokuratur beantragte, der Gesetzesverletzung konkrete Wirkung zuzuerkennen, dies mit folgender Begründung:

„Im Verfahren AZ 75 Hv 151/06h des Landesgerichts für Strafsachen Wien wurde die ursprünglich verhängte Strafe von 18 Monaten (davon ein Strafteil von zwölf Monaten bedingt) mit rechtskräftigem Beschluss vom 10. Februar 2010 (ON 91) gemäß § 31a Abs 1 StGB nachträglich auf eine Freiheitsstrafe von 15 Monaten unter bedingter Nachsicht eines Strafteils von zehn Monaten gemildert. Dem Vollzugsrichter blieb die bereits in der eingeholten Strafregisterauskunft vermerkte (ON 4 in AZ 188 BE 302/10x des Landesgerichts für Strafsachen Wien) nachträgliche Strafmilderung nur deshalb verborgen, weil er die nach § 152 Abs 2 erster Satz StVG zwingend gebotene Einsichtnahme in den in Rede stehenden Vorstrafakt unterließ. Infolge dieses Versäumnisses wurde dieser bedingt nachgesehene Strafteil von zehn Monaten zu Unrecht bei der Entscheidung über die bedingte Entlassung mit eingerechnet. Mit der zu AZ 75 Hv 151/06h am 10. Februar 2010 getroffenen Entscheidung wurde aber gemäß § 31a Abs 1 StGB die Strafe neu festgesetzt, womit dem vorangegangenen Widerruf der Boden entzogen war.

Wenngleich eine Vorverlegung des Zeitpunktes der bedingten Entlassung nicht mehr in Betracht kommt, wäre der Beschluss über die bedingte Entlassung zur Vermeidung nachteiliger Auswirkungen aufzuheben (§ 292 letzter Satz StPO) und zufolge rechtslogischer Beseitigung der zwischenzeitigen Verfahrensabtretung nach '§ 179 StVG' (vgl RIS Justiz RS0100444) dem Landesgericht Wiener Neustadt die Entscheidung über den Antrag der Radmila M***** auf bedingte Entlassung aufzutragen.“

Der Oberste Gerichtshof hat dazu erwogen:

Eine nachträgliche Milderung der Strafe gemäß § 31a StGB kann nicht nur in deren Herabsetzung, sondern auch in deren bedingter Nachsicht bestehen. Letzteres gilt auch in dem Fall, in dem die Strafe ursprünglich (zum Teil) bedingt nachgesehen, die bedingte Nachsicht jedoch in der Folge widerrufen worden ist ( Ratz in WK 2 § 31a Rz 6; Fabrizy , StGB 10 § 31a Rz 3). Die Sachlage stellt sich dann so dar, als wäre sogleich im Urteil eine unbedingte Strafe verhängt worden (EvBl 1977/189). Demgemäß ist es auch zulässig, eine solche Strafe nur zu reduzieren, ohne sie erneut (zum Teil) bedingt nachzusehen.

Im vorliegenden Fall mag zwar der Tenor des dargestellten Beschlusses vom 10. Februar 2010 über die nachträgliche Strafmilderung unklar und missverständlich formuliert sein, aus der expliziten Verwendung des Wortes „ursprünglich“ in Zusammenhang mit der (unter Erwähnung des erfolgten Widerrufs bloß eine geringfügige Reduktion der Höhe der Sanktion, nicht aber deren [neuerliche] bedingte Nachsicht als gerechtfertigt ansprechenden) Beschlussbegründung (BS 3, 5) ist jedoch für den Obersten Gerichtshof der Wille der Richterin unzweifelhaft erkennbar, nur eine Strafreduktion vorzunehmen und darüber hinaus bloß den ursprünglichen Aufteilungsschlüssel gemäß § 43a Abs 3 StGB der nunmehrigen Strafhöhe angepasst zum Ausdruck zu bringen, den erfolgten Widerruf der bedingten Strafnachsicht jedoch unangetastet zu lassen. Dafür spricht auch ihre Verfügung S 242 in AZ 75 Hv 151/06h des Landesgerichts für Strafsachen Wien, nach der sie von einem nach wie vor zu vollziehenden widerrufenen Strafteil ausging.

Die bedingte Entlassung erfolgte daher zu Recht auch aus dem zu AZ 75 Hv 151/06h des Landesgerichts für Strafsachen Wien ausgesprochenen zehnmonatigen Strafteil, sodass ein zu einem Vorgehen nach § 292 letzter Satz StPO veranlassender Nachteil der Verurteilten durch die konstatierte Gesetzesverletzung nicht gegeben ist.