JudikaturJustiz15Os143/00

15Os143/00 – OGH Entscheidung

Entscheidung
19. Oktober 2000

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 19. Oktober 2000 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Markel als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Mag. Strieder und Dr. Zehetner als weitere Richter, in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Schwahofer als Schriftführerin, in der beim Landesgericht für Strafsachen Wien zum AZ 9a Vr 6108/00, Hv 9103/00 anhängigen Strafsache gegen Rainer K***** wegen des Verbrechens nach §§ 127, 128 Abs 1 Z 4, 129 Z 1, 130 StGB über die Grundrechtsbeschwerden des Angeklagten gegen die Beschlüsse des Oberlandesgerichtes Wien vom 28. August 2000, AZ 18 BS 232/00 (= ON 81), und vom 18. September 2000, AZ 18 BS 257/00 (= ON 99), nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Rainer K***** wurde im Grundrecht auf persönliche Freiheit verletzt, die angefochtenen Beschlüsse werden aufgehoben.

Gemäß § 8 GRBG wird dem Bund der Ersatz der Beschwerdekosten von je 8.000 S zuzüglich der darauf entfallenden Umsatzsteuer auferlegt.

Text

Gründe :

Rechtliche Beurteilung

Über Rainer K***** wurde am 31. Jänner 2000 im Verfahren AZ 25d Vr 10821/99 des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom Journalrichter die Untersuchungshaft aus den Haftgründen des § 180 Abs 1 Z 1 und Z 3 lit b und c StPO rechtskräftig verhängt, nachdem er sein vor der Sicherheitsbehörde abgelegtes Geständnis über achtzehn in Wiener Kindergärten verübte Einbruchsdiebstähle (S 459 bis 493/I) als richtig bekräftigt und zu seiner Beschuldigtenverantwortung erhoben hatte (S 17 iVm ON 16/II). Bei einer ergänzenden Vernehmung am 1. März 2000 durch die Untersuchungsrichterin wiederholte er dieses Geständnis, bestritt aber den Vorwurf, noch andere Einbruchsdiebstähle begangen zu haben (S 19 f/II). Den Beschluss auf Fortsetzung der Haft bis 13. März 2000 nahm er in der Haftverhandlung ebenfalls beschwerdelos zur Kenntnis (ON 22, 23). Am 17. Februar 2000 wurde die Voruntersuchung gemäß § 112 StPO geschlossen (S 3 w/I).

Am 1. März 2000 langte beim Erstgericht die (achtzehn Einbruchsdiebstähle inkriminierende) Anklageschrift der Staatsanwaltschaft ein (S 3 v/I und ON 32/II), gegen welche die gemäß § 41 Abs 2 StPO beigegebene Verteidigerin am 14. März 2000 Einspruch erhob (ON 38). Tags zuvor hatte die Untersuchungsrichterin (nach Durchführung einer Haftverhandlung) die Fortsetzung der Untersuchungshaft mit Wirksamkeit bis 13. Mai 2000 rechtskräftig beschlossen (ON 35, 36). In der Einspruchsentscheidung des Oberlandesgerichtes vom 28. März 2000 (ON 42) wurden acht Anklagefakten gemäß § 213 Abs 1 Z 3 StPO eingestellt, hinsichtlich vier weiterer Anklagepunkte erfolgte die vorläufige Zurückweisung der Anklageschrift gemäß § 211 Abs 1 StPO, weil der Beschuldigte mit diesen Vorwürfen bisher nie konfrontiert worden war, und bezüglich der (vom Geständnis umfassten) Anklagepunkte 10., 11., 12., 16., 17. und 18. wurde der Anklage Folge gegeben. Gleichzeitig verlängerte das Beschwerdegericht die Haftfrist bis 28. Mai 2000 und wies auf die Möglichkeit der Einbringung einer Nachtragsanklage zu den Fakten der vorläufigen Anklagezurückweisung hin. Dessen ungeachtet beantragte die Staatsanwaltschaft am 6. April 2000 nach Einsicht in die Einspruchsentscheidung nur die ergänzende verantwortliche Abhörung des Rainer K***** zu drei (mangelhaft aufgeklärten) Anklagevorwürfen und die Beischaffung mehrerer Anzeigen gegen unbekannte Täter.

Nachdem die Untersuchungsrichterin die beantragte Anzeigenbeischaffung am 10. April 2000 verfügt hatte, legte sie den Akt vorerst auf Kalender 30. 4. und verlängerte ihn später auf 10. 5. (S 3 a2 und 3 b2/1). Inzwischen erfolgte u.a. am 26. April 2000 die ergänzende Vernehmung des Angeklagten (S 21 bis 25/1), bei der er neuerlich auf sein Geständnis zu den rechtswirksamen Anklagepunkten hinwies, der Auftrag zur Erstellung eines DNA Gutachtens (im Zusammenhang mit Nachtragsfakten Nr. 19 bis Nr. 28, ON 41/II und S 3 b2/1), welches bereits am 15. Mai 2000 beim Erstgericht einlangte (ON 47), und am 9. Mai die Anordnung einer Haftverhandlung für den 29. Mai 2000 (S 3 c2/I). In dieser wurde (mit bloß kursorischer Begründung) die Fortsetzung der Haft bis 29. Juli 2000 (2 Tage vor Ablauf der Sechsmonatefrist des § 194 Abs 3 StPO) beschlossen (ON 52, 53), wogegen der Angeklagte eine schriftliche Beschwerde ausführte (ON 62). Dieser gab der Gerichtshof zweiter Instanz mit Beschluss vom 29. Juni 2000 nicht Folge, ordnete die Fortsetzung der Untersuchungshaft aus den bisherigen Haftgründen bis 29. August 2000 (also über die Sechsmonatefrist des § 194 Abs 3 StPO hinaus) an, ohne die Unzuständigkeit der Untersuchungsrichterin zu beanstanden, oder zum Vorliegen der im § 194 Abs 3 StPO normierten Voraussetzungen Stellung zu nehmen und auf eine (längst fällige) Ausscheidung gemäß § 57 Abs 1 StPO zu dringen (ON 66).

Zwischenzeitig wurde am 31. Mai 2000 eine Aktenkopie gemäß § 112 StPO an die Staatsanwaltschaft übermittelt, welche neuerlich die Ergänzung der Voruntersuchung durch Beischaffung von fehlenden Bezugsanzeigen und verantwortliche Abhörung des Angeklagten hiezu beantragte (S 3 g2/I), was nach der vorliegenden Aktenlage bisher jedoch unterblieben ist. Nach Anordnung der Aktenbeischaffung setzte die Richterin am 7. Juni 2000 den Kalender mit 30. 6. fest, verlängerte diesen am 26. Juni auf 20. 7. und verkürzte ihn am 6. Juli 2000 auf 15. 7., ohne während dieser Zeit relevante Verfahrensschritte durchgeführt zu haben (S 3 i2 bis 3 j2/I). Am 12. Juli 2000 wurde in einem Aktenvermerk festgehalten, dass die beizuschaffenden Bezugsanzeigen beim Bezirkspolizeikommissariat Favoriten in Bearbeitung seien und ein Ende der Ermittlungen nicht absehbar wäre (S 3 j2 bis 3 k2/I). Am selben Tag ordnete die Untersuchungsrichterin gemäß § 112 StPO die Aktenübermittlung an die Anklagebehörde unter Hinweis auf den Aktenvermerk und mit dem Bemerken an, "da die Haft bereits fast 6 Monate dauert kann nicht länger darauf gewartet werden, allenfalls Faktenausscheidung" (S 3 k2/I). Nach Rücklangen des Aktes am 19. Juli 2000 wurde dem Antrag des öffentlichen Anklägers "auf Ausscheidung des Verfahrens gegen Rainer K***** im Umfang der im Akt erliegenden rechtskräftigen Anklageschrift gem. § 57 StPO" in der Zeit vom 21. bis 26. Juli 2000 entsprochen (S 3 l2 bis 3 m2/I).

Da aber inzwischen ein weiterer Antrag des Angeklagten auf "Enthaftung gem. § 194 Abs 2 StPO" eingelangt war (ON 71), beraumte die Untersuchungsrichterin nach eingeholter Stellungnahme des Staatsanwaltes eine Haftverhandlung für 4. August 2000 an (S 3 o2 verso bis 3 p2/I). Obwohl die Verteidigerin nachdrücklich auf den Ablauf der Sechsmonatefrist des § 194 Abs 3 StPO und das Fehlen der Voraussetzungen des § 194 Abs 3 StPO hinwies (ON 72), wurde die Fortsetzung der Untersuchungshaft bis 4. Oktober 2000 beschlossen, ohne auf die erhobenen Einwände der Verteidigung sachbezogen zu erwidern (ON 73).

Aus Anlass einer dagegen erhobenen Beschwerde, in der abermals die gesetzwidrige Überschreitung der sechs Monate Frist kritisiert wurde (ON 75), hob das Oberlandesgericht Wien mit Entscheidung vom 28. August 2000, AZ 18 BS 232/00 (= ON 81), den angefochtenen Beschluss ersatzlos auf und trug der Untersuchungsrichterin die sofortige Vorlage des Aktes an den Vorsitzenden des Schöffensenates zur Entscheidung über die Haft auf. Zum zentralen Beschwerdevorwurf (Überschreitung der Sechsmonatefrist des § 194 Abs 3 StPO) bezog es nicht Stellung.

Am 28. August 2000 wurden die Akten dem Vorsitzenden gemäß § 210 StPO vorgelegt (S 3 r2/I), der in der Haftverhandlung am 29. August 2000 beschloss, die Untersuchungshaft aus den Haftgründen der Flucht und Tatbegehungsgefahr bis 29. Oktober 2000 fortzusetzen (ON 85). Darin vertritt er die Ansicht, dass angesichts des dem Angeklagten zur Last gelegten Verbrechens die Haft bis zu einem Jahr dauern darf und auch die Voraussetzungen des § 194 Abs 3 StPO gegeben sind, weil der Inhalt der vorliegenden Akten tatsächlich einen besonderen Umfang mit den daraus ersichtlichen Schwierigkeiten der Untersuchung aufweist.

Die dagegen erhobene Beschwerde bestreitet abermals schwerpunktmäßig das Vorliegen der Voraussetzungen für die Anwendung der Ausnahmeregelung des § 194 Abs 3 StPO (ON 88).

Mit Beschluss vom 18. September 2000, AZ 18 BS 257/00 (= ON 99), gab der Gerichtshof zweiter Instanz dieser Beschwerde nicht Folge, setzte das Ende der Haftfrist mit 18. November 2000 fest und führte aus, dass die Faktenvielzahl und die erforderliche Einholung von DNA Gutachten in zahlreichen Anzeigen gegen unbekannte Täter jene erheblichen Schwierigkeiten darstellten, die eine Überschreitung der im § 194 Abs 3 StPO genannten Sechsmonatefrist jedenfalls zulässig erscheinen lassen. Weitere Verfahrensverzögerungen seien nicht zu erwarten, weil die Hauptverhandlung über die am 21. Juli 2000 ausgeschiedenen rechtskräftigen Anklagefakten bereits für 4. Oktober 2000 anberaumt sei. Im Übrigen bestehe bis zum Ablauf der normierten Haftobergrenze in der Dauer eines Jahres noch ein erheblicher Spielraum.

Gegen die Beschlüsse des Oberlandesgerichtes, AZ 18 BS 232/00 (= ON 81), und 18 BS 257/00 (= ON 99), erhob der Angeklagte jeweils fristgerecht getrennte Grundrechtsbeschwerden (ON 94 und 102), denen schon in Bezug auf den (vorweg zu prüfenden) Einwand, wonach die Bedingungen des § 194 Abs 2 und 3 StPO vorliegend nicht gegeben seien, Berechtigung zukommt.

Zufolge der in § 194 Abs 1 und Abs 2 StPO normierten nur unter bestimmten Voraussetzungen erstreckbaren Höchstfristen ist der Beschuldigte auf den konkreten Fall bezogen jedenfalls zu enthaften, wenn er schon mehr als sechs Monate, handelt es sich wie hier um ein Verbrechen, schon ein Jahr in Untersuchungshaft befindet, ohne dass die Hauptverhandlung begonnen hat (Abs 2). Über sechs Monate hinaus darf die Untersuchungshaft nur dann aufrecht erhalten werden, wenn die wegen besonderer Schwierigkeiten oder besonderen Umfangs der Untersuchung im Hinblick auf das Gewicht des Haftgrundes unvermeidbar ist (Abs 3). Eine Überschreitung der Grenze von sechs Monaten darf aber auch bei Verbrechen nur unter den vorgenannten Bedingungen des Abs 3 erfolgen, wobei es nicht auf deren formelle Feststellung, sondern nur auf deren tatsächliches Vorliegen ankommt (Foregger/Fabrizy StPO8 Rz 3 zu § 394; AB 15, abgedruckt in Pleischl/Soyer StPO S 149).

Die (das wirkliche Verfahrensgeschehen nur unzureichend berücksichtigende) Meinung des Vorsitzenden (ON 85) und jene des Oberlandesgerichtes (ON 99), die Fortsetzung der Untersuchungshaft über die sechs Monate Frist hinaus sei wegen besonderer bzw erheblicher Schwierigkeiten und wegen des besonderen Umfangs der Untersuchung gerechtfertigt, vermag der Oberste Gerichtshof angesichts des an Hand der Aktenlage dargestellten Verfahrensganges nicht zu teilen. Bewirkte doch schon die erste, der Sachlage nicht Rechnung tragende Verfügung der Untersuchungsrichterin nach Rücklangen der Akten von der Staatsanwaltschaft Anfang April 2000 (vgl. S 3 a2/I) eine fallbezogen unvertretbare Verlängerung der Untersuchungshaft zunächst bis 21. Juli 2000 (vgl. S 3 l2 bis 3 m2/I). Anstatt nämlich einerseits in Befolgung des für Haftsachen ausdrücklich statuierten Beschleunigungsgebotes nach § 193 Abs 1 (vgl. auch § 57 Abs 1 letzter Halbsatz) StPO das Verfahren betreffend den rechtswirksamen Teil der Anklageschrift sogleich von Amts wegen gemäß § 57 Abs 1 StPO auszuscheiden und das ausgeschiedene Verfahren dem Gerichtshof erster Instanz vorzulegen, um ihm die Möglichkeit zu eröffnen, hierüber die Hauptverhandlung sofort oder zumindest noch vor Ablauf der sechsmonatigen Haftfrist anzuordnen, und andererseits die Voruntersuchung davon getrennt zu führen, wartete sie aus nicht nachvollziehbaren Gründen bis 12. Juli 2000 das Einlangen der (für die rechtskräftigen Anklagefakten nicht relevanten) Bezugsanzeigen ab. Wäre demgegenüber das Verfahren entsprechend, zielgerichtet und straff geführt sowie stets auf die Abkürzung der Haft Bedacht genommen worden, hätte die Hauptverhandlung über den rechtskräftigen Teil der Anklage noch vor dem 31. Juli 2000 und nicht erst am 4. Oktober 2000 - durchgeführt werden können. Weder die "Faktenvielzahl" noch das "Erfordernis der Einholung von DNA Gutachten in zahlreichen Anzeigen" oder "die wechselnde Verantwortung des Angeklagten" gestatten auch bei einer ex nunc Betrachtung für sich allein oder in ihrem Zusammenwirken die Annahme, dass die (streng und objektiv verfahrensspezifisch auszulegenden) Ausnahmebedingungen des § 194 Abs 3 StPO hier gegeben sind.

Der Gerichtshof zweiter Instanz hat entgegen der Verpflichtungen gemäß § 214 Abs 2 StPO in seinen beiden für die Fortsetzung der Untersuchungshaft kausalen Beschwerdeentscheidungen (ebenso wie im unangefochten gebliebenen Beschluss vom 29. Juni 2000, ON 66) einerseits in der Sache bloß eine Formalentscheidung gefällt (18 BS 232/00 = ON 81), andererseits (18 BS 257/00 = ON 99) die damals bereits erfolgte, grundrechtsrelevante Gesetzesverletzung nicht aufgegriffen, sondern deren weitere Vertiefung (wegen eines offenkundigen Rechtsirrtums über die Bestimmungen des § 194 Abs 2 und 3 StPO) nicht verhindert.

Rainer K***** wurde deshalb durch die angefochtenen Beschlüsse des Oberlandesgerichtes, soweit sie für die Fortsetzung der Untersuchungshaft über die Sechsmonatefrist hinaus ursächlich sind, in seinem Grundrecht auf persönliche Freiheit verletzt. Damit sind alle formal noch aufrechten, dieser Grundrechtsbeschwerdeentscheidung entgegenstehenden Beschlüsse unbeachtlich (Hager/Holzweber GRBG § 7 E 2). Daran ändert auch nichts, dass der mehrfach einschlägig vorbestrafte Beschwerdeführer mittlerweile mit Urteil vom 4. Oktober 2000 wegen der sechs genannten Einbruchsdiebstähle unter Anrechnung der Vorhaft zu zwei Jahren Freiheitsstrafe (nicht rechtskräftig) verurteilt wurde. Auf die weiteren Einwände der Grundrechtsbeschwerden ist daher nicht näher einzugehen. Bemerkt sei nur, dass der Beschluss auf Verhängung der Untersuchungshaft (ON 16/I) sogleich in Rechtskraft erwachsen ist und demnach nicht mehr zum Gegenstand von Grundrechtsbeschwerdeausführungen gemacht werden darf (vgl. S 390 unten ON 94).

Die Kostenersatzpflicht des Bundes gründet sich auf § 8 GRBG.

Gemäß § 7 Abs 2 GRBG sind die Gerichte verpflichtet, mit den ihnen zu Gebote stehenden Mitteln unverzüglich einen der Rechtsauffassung des Obersten Gerichtshofes entsprechenden Zustand herzustellen, der Beschwerdeführer ist daher aus der Untersuchungshaft zu entlassen.