JudikaturJustiz15Os132/05h

15Os132/05h – OGH Entscheidung

Entscheidung
19. Januar 2006

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 19. Jänner 2006 durch den Hofrat des Obersten Gerichtshofes Dr. Danek als Vorsitzenden sowie durch die Senatspräsidentin des Obersten Gerichtshofes Dr. Schmucker und die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Hon. Prof. Dr. Kirchbacher, Dr. Solé und Mag. Lendl als weitere Richter, in Gegenwart des Richteramtsanwärters Mag. Gomez Reyes als Schriftführer, in der Strafsache gegen Ingolf L***** wegen des Verbrechens des schweren sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 206 Abs 1 StGB und einer weiteren strafbaren Handlung über die Nichtigkeitsbeschwerde und die Berufung des Angeklagten gegen das Urteil des Landesgerichtes Klagenfurt als Schöffengericht vom 19. August 2005, GZ 15 Hv 112/05i-32, nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung den Beschluss

gefasst:

Spruch

Die Nichtigkeitsbeschwerde wird zurückgewiesen.

Zur Entscheidung über die Berufung werden die Akten dem Oberlandesgericht Graz zugeleitet.

Dem Angeklagten fallen auch die Kosten des bisherigen Rechtsmittelverfahrens zur Last.

Text

Gründe:

Ingolf L***** wurde (1) des Verbrechens des schweren sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 206 Abs 1 StGB und (2) des Vergehens des Missbrauchs eines Autoritätsverhältnisses nach § 212 Abs 1 StGB schuldig erkannt, weil er zu einem nicht näher bekannten Zeitpunkt im Sommer 2003 in Weißenstein

(1) mit seinem am 2. August 1992 geborenen, somit unmündigen Sohn Hannes L***** eine dem Beischlaf gleichzusetzende geschlechtliche Handlung unternommen hat, indem er mehrfach mit seinem Penis in den Anus des Buben eindrang;

(2) durch die unter 1 geschilderte Tathandlung seinen Sohn, sohin eine mit ihm in absteigender Linie verwandte minderjährige Person, zur Unzucht missbraucht hat.

Die dagegen vom Angeklagten aus Z 4, 5, 5a und 11 des § 281 Abs 1 StPO erhobene Nichtigkeitsbeschwerde verfehlt ihr Ziel. Die Verfahrensrüge (Z 4) kritisiert die Ablehnung der in der Hauptverhandlung vom 19. August 2005 gestellten Beweisanträge auf

(1) Beischaffung der täglichen Mitschriften des LKH Klagenfurt, Abteilung Neurologie und Psychiatrie des Kindes- und Jugendalters betreffend den minderjährigen Hannes L*****, für den Zeitraum August bis Dezember 2004, welche dem gesamten Krankenakt beigeschlossen sind, zum Beweis dafür, „dass der konkret gegen den Angeklagten erhobene Tatvorwurf aufgrund der Kenntniserlangung des Minderjährigen während des LKH-Aufenthaltes seiner Phantasie entsprungen ist und durch die wiederholte Befragung letztlich vor Behörden und Gerichten in seinem Wesenskern eingelernt wurde";

(2) Einholung eines Gutachtens aus dem Fachgebiet der Proktologie zum Beweis dafür, „dass eine anale Penetration eines Erwachsenen mit einem in ausgestreckter Bauchlage liegenden Buben, insbesondere mit dem minderjährigen Hannes L*****, - ohne Vordehnung des Afterbereiches oder Verwendung einer Gleitcreme - zu solchen dominanten und traumatischen Verletzungen führen hätte müssen, dass einerseits das Schmerzempfinden die zentrale Rolle des Missbrauchten angenommen hätte und andererseits sofort im Zeitpunkt der Penetration eine schwere (Riss )Verletzung im After des 11-jährigen Buben aufgetreten wäre, sodass eine medizinische Behandlung sofort erforderlich gewesen wäre bzw ein normales Einschlafen nicht mehr möglich gewesen wäre."

Rechtliche Beurteilung

Wie das Erstgericht in seinem abweisenden Zwischenerkenntnis (S 207 f) im Ergebnis zutreffend darlegt, konnte die Aufnahme dieser Beweise ohne Verletzung von Verteidigungsrechten unterbleiben. Das Begehren auf Beischaffung der täglichen Mitschriften des LKH Klagenfurt lässt die für eine Beweisaufnahme nötige Spezifizierung vermissen, weil völlig im Dunkeln bleibt, welche daraus zu beweisende Tatsache der Antrag mit dem Verweis, dass der konkret gegen den Angeklagten erhobene Tatvorwurf „aufgrund der Kenntniserlangung des Minderjährigen" während des LKH-Aufenthaltes seiner Phantasie entsprungen ist, anspricht.

Inwieweit der Antrag im Hinblick auf die Bestimmung des § 252 Abs 4 StPO auf eine verbotswidrige Verwendung der Aufzeichnungen (vgl die Entschlagungserklärungen der Oberärztin in der Abteilung für Neurologie und Psychiatrie des Kindes- und Jugendalters des LKH Klagenfurt, Dr. Barbara Sch***** [ON 22] und der klinischen Psychologin an der genannten Abteilung, Mag. Irene V***** [ON 21]) hinausliefe, kann dahinstehen, weil der Antragsteller unter Berücksichtigung der Depositionen der Zeugin Dr. Evelyn S***** in der Hauptverhandlung, wonach sie sich an Anhaltspunkte zu Fantastereien durch den Missbrauchten nicht erinnern könne (S 165), der Zeugin Dr. Margarete W*****, Assistenzärztin am LKH Klagenfurt, wonach sich im Zuge der (längeren) Zusammenarbeit mit dem Missbrauchten nie herausgestellt hätte, dass dieser Sachen erzählt habe, die nicht stimmten (S 203), und des Gutachtens des Sachverständigen Univ. Prof. Dr. Max F*****, wonach er bei Hannes L***** keine Tendenzen zu sexualisiertem Verhalten oder Lügenhaftigkeit feststellen konnte, ohnedies zur Darlegung verhalten gewesen wäre, inwieweit eine Erweiterung der Beweisgrundlage durch Einsicht in die handschriftlichen Aufzeichnungen konkret zu erwarten gewesen wäre. Welche Aufschlüsse die Mitschriften vom August 2004 bis Dezember 2004 darüber geben sollten, dass die - am 9. Dezember 2004 erstmals vor der Sicherheitsbehörde, dann erst im Jahr 2005 vor Gericht erfolgte - Schilderung des Geschehens durch Hannes L***** durch die wiederholte Befragung in ihrem Wesen „eingelernt" worden sei, lässt der Antrag ebenfalls offen, sodass nicht erkennbar ist, weswegen das Beweismittel geeignet sein könnte, das angestrebte Resultat zu erbringen.

Die in der Beschwerde dazu nachgetragenen Erwägungen haben dabei außer Betracht zu bleiben, weil bei Prüfung der Berechtigung eines Antrages stets von der Verfahrenslage zum Zeitpunkt der Entscheidung darüber und den dazu vorgebrachten Gründen auszugehen ist (Mayerhofer/Hollaender StPO5 § 281 Z 4 E 40 und 41). Der Antrag auf Einholung eines (weiteren) medizinischen Gutachtens (aus dem Fachgebiet der Proktologie) hätte substanziiert dartun müssen, weshalb das bisher eingeholte Gutachten des Allgemeinmediziners MR Dr. med. G***** Mängel (§§ 125, 126 StPO) aufweist oder eine besondere Schwierigkeit der Beobachtung oder Begutachtung vorliegt (§ 118 Abs 2 StPO). Dem Beschwerdeführer steht ein durch Z 4 garantiertes Überprüfungsrecht hinsichtlich eines bereits durchgeführten Sachverständigenbeweises nämlich nur dann zu, wenn er in der Lage ist, einen in §§ 125 f StPO angeführten Mangel von Befund oder Gutachten aufzuzeigen und das dort beschriebene Verbesserungsverfahren erfolglos geblieben ist. Weder wurde in der Hauptverhandlung ein Verbesserungsverfahren versucht, noch findet sich eine entsprechende Darlegung im Antrag (RIS-Justiz RS0097380). Die diesbezüglich ergänzenden Ausführungen in der Beschwerde sind auch hier aufgrund des Neuerungsverbotes unbeachtlich. Dem weiteren Einwand der Verfahrensrüge zuwider kann § 119 Abs 1 StPO kein Verbot entnommen werden, von der danach primär vorgesehenen Heranziehung allgemein beeideter und gerichtlich zertifizierter Sachverständiger im Einzelfall abzugehen und einen anderen Sachverständigen zu bestellen. Die Betrauung eines Sachverständigen hängt allein davon ab, ob das Gericht seine dazu erforderliche Sachkunde positiv beurteilt. Erachtet das Gericht den vernommenen Sachverständigen für befähigt, ein einwandfreies Gutachten über den Fall abzugeben und treten keine Bedenken der in den §§ 125 f angeführten Art zutage (vgl obige Ausführungen), so liegt in der Abweisung eines Antrages auf Beiziehung eines zweiten Sachverständigen ein Akt freier Beweiswürdigung, der im Nichtigkeitsverfahren nicht anfechtbar ist (RIS-Justiz RS0117726). Damit lässt sich durch die Nichtaufnahme der begehrten Beweise keine Beeinträchtigung der sich aus den Grundsätzen des Art 6 Abs 1 und Abs 3 lit d EMRK ergebenden Verteidigungsrechte des Angeklagten erkennen. Die Kritik der Mängelrüge (Z 5), die zeitliche Eingrenzung für den Beginn des auffallend aggressiven Verhaltens des Missbrauchten mit Spätsommer 2003 sei ebenso unzureichend begründet wie die nähere Festlegung des Zeitpunktes, ab welchem der Genannte nicht mehr zum Vater habe ziehen wollen, lässt außer Acht, dass dies keine entscheidenden, das heißt für die Frage der Schuld des Angeklagten oder die rechtliche Unterstellung der Tat bedeutsamen Umstände betrifft, sodass diesbezüglich kein Begründungsmangel vorliegt. In Wahrheit wendet sich die Beschwerde mit diesem Vorbringen, ebenso wie mit den unter dem Aspekt der Unvollständigkeit angesprochenen, insbesondere die Glaubwürdigkeit des Missbrauchten in Frage stellenden Einwänden, wie sich schon aus dem Beschwerdehinweis „völlig einseitige Beweiswürdigung" ableiten lässt, unter Anstellen eigenständiger Beweiswerterwägungen und Hinweis auf selektiv hervorgehobene, dem Angeklagten für seinen Standpunkt günstig scheinender Teile des Beweisverfahrens unzulässig gegen die Beweiswürdigung der Tatrichter nach Art einer im kollegialgerichtlichen Verfahren nicht vorgesehenen Schuldberufung. Diese haben - dem Gebot der gedrängten Darstellung der Entscheidungsgründe (§ 270 Abs 2 Z 5 StPO) Rechnung tragend - im Einklang mit den Gesetzen folgerichtigen Denkens und grundlegenden Erfahrungssätzen begründet dargelegt, von welchen Verfahrensergebnissen ausgehend sie die den Aussagen des Missbrauchsopfers widersprechenden Depositionen des Angeklagten als Schutzbehauptung angesehen haben (US 17 ff), wobei sie sich auch sowohl mit der Verletzungsmöglichkeit und der Möglichkeit einer analen Penetration in der Dauer von ca 10 Minuten bei einem 11-jährigen Knaben und dem diesbezüglichen Sachverständigengutachten sowie den Aussagen sämtlicher behandelnder Ärzte, soweit sie sich nicht der Aussage entschlagen haben, ausführlich auseinandergesetzt haben. Dass sie der leugnenden Verantwortung des Angeklagten nicht gefolgt sind und die aus den im Ersturteil angeführten Beweismitteln gezogenen Schlüsse dem Beschwerdeführer nicht überzeugend genug erscheinen, vermag den herangezogenen Nichtigkeitsgrund nicht herzustellen.

Das weitere Beschwerdevorbringen, das Erstgericht hätte nicht die vom Missbrauchten konkret angegebene Uhrzeit als Tatzeit angenommen und damit „offenbar Wiedersprüche zur Tatzeit im Befundbericht in der Erstbefragung saniert", sodass die Annahme des Erstgerichtes zum Tatzeitpunkt aktenwidrig sei, verkennt, dass ein Urteil nur dann aktenwidrig ist, wenn es den eine entscheidende Tatsache betreffenden Inhalt einer Aussage oder Urkunde in seinen wesentlichen Teilen unrichtig oder unvollständig wiedergibt (Ratz, WK-StPO § 281 Rz 467). Der Vorwurf an die Tatrichter, aus der Urkunde oder Aussage statt der vertretbarerweise gezogenen Schlüsse nicht andere abgeleitet zu haben, stellt bloß unzulässige Kritik an deren Beweiswürdigung dar. Im Übrigen gehört die Tatzeit nicht zu den wesentlichen, die Eindeutigkeit bestimmenden Merkmalen der Tat, sofern sich ergibt, dass Anklage und Urteil dasselbe Tun erfassen.

Die Tatsachenrüge (Z 5a) versucht unter pauschalem Verweis auf die Ausführungen zur Mängelrüge mit der Behauptung, das Erstgericht habe die aufgenommenen Beweise einseitig und unvertretbar gewürdigt, sowie Erwägungen genereller Art betreffend den Umgang mit Opfern von Sexualdelikten neuerlich die Glaubwürdigkeit des Missbrauchsopfers in Zweifel zu ziehen. Indem sie zum einen auf die wahren Gründe des Krankenaufenthaltes des Hannes L*****, nämlich das Erziehungsdefizit seitens der Kindesmutter, weiters auf die Unerfahrenheit der behandelnden Zeugin Dr. W***** in Missbrauchsfällen und die Depositionen der Zeugin Dr. L***** verweist, wonach es vor der Schilderung des Missbrauchs durch den Vater keine Auffälligkeiten bezogen auf die Besuche des Angeklagten und Bedenken der Psychologinnen hinsichtlich einer Anzeigeerstattung gab, zum andern auf die vermeintliche „Inkompetenz" des Sachverständigen Dr. med. G***** bei Beurteilung der „Einzelgenauigkeit" der Möglichkeit einer analen Penetration eines in Bauchlage befindlichen 11-jährigen Knaben, vermag sie damit keine sich aus den Akten ergebenden erheblichen Bedenken gegen die Richtigkeit der dem Ausspruch über die Schuld zugrunde gelegten entscheidenden Tatsachen zu wecken. Soweit die Beschwerde behauptet, das Erstgericht habe seine Pflicht zur amtswegigen Wahrheitsforschung insofern vernachlässigt, als es „die ihm zugänglichen Beweismittel", von denen es nach der Aktenlage Kenntnis haben konnte, nicht oder in wesentlichen Punkten unvollständig ausgeschöpft hätte, lässt sie nicht erkennen, welche (außer die in der Rüge nach Z 4 ohnedies angeführten) Beweismittel angesprochen werden, und inwieweit der - anwaltlich vertretene - Angeklagte an der Ausübung seines Rechtes, die Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung sachgemäß zu beantragen, gehindert war und daher hätte belehrt werden müssen (§ 3 StPO), um so die Ermittlung der Wahrheit zu fördern (Ratz, WK-StPO § 285d Rz 10 und § 281 Rz 480). Zu dem einleitend herangezogenen Nichtigkeitsgrund der Z 11 finden sich in der Beschwerde keine sachbezogenen Ausführungen, sodass es ihr in diesem Umfang an der von den Prozessvorschriften geforderten deutlichen und bestimmten Bezeichnung mangelt (§ 285a Z 2 StPO). Die Nichtigkeitsbeschwerde war daher - in Übereinstimmung mit der Stellungnahme der Generalprokuratur, jedoch entgegen der die Argumente der Nichtigkeitsbeschwerde wiederholenden Äußerung der Verteidigung gemäß § 35 Abs 2 StPO - bereits bei nichtöffentlicher Beratung sofort zurückzuweisen (§ 285d Abs 1 StPO), woraus die Kompetenz des Gerichtshofes zweiter Instanz zur Entscheidung über die Berufung folgt (§ 285i StPO).

Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 390a StPO.

Rechtssätze
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