JudikaturJustiz15Os116/21d

15Os116/21d – OGH Entscheidung

Entscheidung
19. Januar 2022

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 19. Jänner 2022 durch den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Mag. Lendl als Vorsitzenden sowie die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Michel Kwapinski, Mag. Fürnkranz und Dr. Mann und den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Haslwanter LL.M. in Gegenwart des Mag. Jäger, BA, als Schriftführer in der Strafsache gegen D* M* wegen des Verbrechens des schweren sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach §§ 15, 206 Abs 1 StGB und weiterer strafbarer Handlungen über die Nichtigkeitsbeschwerde und die Berufung des Angeklagten gegen das Urteil des Landesgerichts Wiener Neustadt als Schöffengericht vom 29. Juni 2021, GZ 37 Hv 36/21g 29, nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit der Vertreterin der Generalprokuratur, Oberstaatsanwältin Mag. Ramusch LL.M., LL.M., und des Verteidigers Mag. Errath zu Recht erkannt:

Spruch

In teilweiser Stattgebung der Nichtigkeitsbeschwerde wird das angefochtene Urteil, das im Übrigen unberührt bleibt, im Schuldspruch zu II./, demzufolge auch im Strafausspruch und im Ausspruch über die privatrechtlichen Ansprüche der V* Mi* aufgehoben und im Umfang der Aufhebung in der Sache selbst erkannt:

D* M* hat von Ende 2018 bis Frühjahr 2020 Handlungen, die geeignet sind, die sittliche, seelische oder gesundheitliche Entwicklung von Personen unter 16 Jahren zu gefährden, vor einer unmündigen Person vorgenommen, um sich dadurch geschlechtlich zu erregen oder zu befriedigen, indem er der am * geborenen V* Mi* mehrmals (jeweils) ein Video vorspielte, welches ihn und S* M* nackt bei geschlechtlichen Handlungen, ua beim vaginalen Geschlechtsverkehr zeigte (II./).

Er hat hiedurch zu II./ die Vergehen der sittlichen Gefährdung von Personen unter 16 Jahren nach § 208 Abs 1 StGB begangen und wird hiefür sowie für die ihm (weiterhin) zur Last liegenden Verbrechen des sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 207 Abs 1 StGB (I./), das Verbrechen des schweren sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach §§ 15, 206 Abs 1 StGB (III./) und die Vergehen des Missbrauchs eines Autoritätsverhältnisses einmal nach §§ 15,  212 Abs 1 Z 1 StGB und mehrfach nach § 212 Abs 1 Z 1 StGB (IV./) unter Anwendung des § 28 StGB nach § 206 Abs 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt.

D* M* ist schuldig, V* Mi* binnen 14 Tagen 7.000 Euro zu bezahlen.

Im Übrigen wird die Nichtigkeitsbeschwerde verworfen.

Mit seiner Berufung gegen die Aussprüche über die Strafe und die privatrechtlichen Ansprüche der V* Mi* wird der Angeklagte auf diese Entscheidung verwiesen.

Der Berufung gegen den Zuspruch an die Privatbeteiligte T* Mi* wird nicht Folge gegeben, jene wegen des Ausspruchs über die Schuld wird zurückgewiesen.

Dem Angeklagten fallen auch die Kosten des Rechtsmittelverfahrens zur Last.

Text

Gründe:

[1] Mit dem angefochtenen Urteil wurde D* M* mehrerer Verbrechen des sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 207 Abs 1 StGB (Ⅰ./), mehrerer Vergehen der sittlichen Gefährdung von Personen unter 16 Jahren nach § 208 Abs 2 StGB (ⅠⅠ./), des Verbrechens des schweren sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach §§ 15, 206 Abs 1 StGB (ⅠⅠⅠ./) sowie mehrerer Vergehen des Missbrauchs eines Autoritätsverhältnisses „nach §§ 212 Abs 1 Z 2, 15“ StGB (IV./; richtig: einmal nach §§ 15, 212 Abs 1 Z 1 StGB und mehrfach nach § 212 Abs 1 Z 1 StGB [zum Verhältnis Stiefvater/Stiefkinder vgl US 5 f; zur materiellen Subsidiarität der Z 2 des § 212 Abs 1 StGB vgl RIS Justiz RS0129723; zu Klarstellungen durch den Obersten Gerichtshof siehe Ratz , WK-StPO, § 281 Rz 622 ff) schuldig erkannt.

[2] Danach hat er in *

Ⅰ./ außer dem Fall des § 206 StGB geschlechtliche Handlungen an unmündigen Personen vorgenommen oder von unmündigen Personen an sich vornehmen lassen, und zwar

A./ zum Nachteil der am * geborenen T* Mi*, indem er zwischen September 2019 und September 2020 mit der Hand in ihre Unterhose griff und ihre Scheide betastete;

B./ zum Nachteil der am * geborenen V* Mi*, indem er

1./ von Februar 2019 bis zum Frühjahr 2020 in mehreren Angriffen ihre Hand auf sein Glied legte, diese mit seiner eigenen Hand umschloss, die Unmündige aufforderte, ihn zu befriedigen, und seine Hand vorwärts und rückwärts bewegte;

2./ von Ende 2018 bis Frühjahr 2020 seine Genitalien auf das Gesäß der mit dem Rücken zu ihm stehenden Unmündigen legte und penetrationsähnliche Vor- und Zurückbewegungen durchführte;

3./ von Ende 2018 bis zum Frühjahr 2020 mit der Hand ihre Scheide betastete;

ⅠⅠ./ in mehreren Angriffen von Ende 2018 bis Frühjahr 2020, „außer dem Fall des § 208 Abs 1 StGB“, um sich geschlechtlich zu erregen, bewirkt, dass die unmündige V* Mi* eine geschlechtliche Handlung wahrnimmt, indem er ihr mehrmals (erkennbar gemeint: jeweils) „ein“ ihn und S* M* „bei sexuellen Handlungen“ (US 4: ua beim vaginalen Geschlechtsverkehr) zeigendes Video vorspielte;

ⅠⅠⅠ./ zwischen Ende 2018 und Frühjahr 2020 mit der unmündigen V* Mi* eine dem Beischlaf gleichzusetzende geschlechtliche Handlung zu unternehmen versucht, indem er sie sinngemäß fragte, ob sie ihn oral befriedigen wolle, und sie dazu anleitete, wobei die Genannte die Handlung nicht vornahm;

IV./ durch die zu Ⅰ./ und ⅠⅠⅠ./ beschriebenen Handlungen mit „minderjährigen Personen“ (US 5 f: seinen minderjährigen Stiefkindern), nämlich der am * geborenen T* Mi* und der am * geborenen V* Mi*, „die seiner Erziehung und Aufsicht unterstanden,“ geschlechtliche Handlungen vorgenommen oder versucht, von ihnen an sich vornehmen zu lassen.

Rechtliche Beurteilung

[3] Dagegen richtet sich die auf § 281 Abs 1 Z 5 und 9 lit a StPO gestützte Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten, der teilweise Berechtigung zukommt.

[4] Entgegen dem Einwand von Unvollständigkeit der Begründung (Z 5 zweiter Fall) wurde der Umstand, dass die Zeugin T* Mi* in der Vergangenheit eine falsche Anschuldigung gegen ihren Stiefgroßvater erhoben hatte, ausdrücklich gewürdigt, die Glaubwürdigkeit der Zeugin mit eingehender Begründung aber dennoch bejaht (US 9). Dass aus diesem Beweisergebnis nicht die vom Beschwerdeführer gewünschten Schlussfolgerungen gezogen wurden, stellt den geltend gemachten Nichtigkeitsgrund nicht her (vgl RIS Justiz RS0099599).

[5] Zu ⅠⅠ./ moniert der Angeklagte (nominell Z 9 lit a) hingegen zutreffend, dass die Urteilskonstatierungen eine rechtliche Beurteilung als Vergehen der sittlichen Gefährdung von Personen unter 16 Jahren nach § 208 Abs 2 StGB nicht tragen.

[6] Die Erfüllung des objektiven Tatbestands des § 208 Abs 2 StGB setzt eine unmittelbare gegenwärtige Wahrnehmbarkeit einer geschlechtlichen Handlung durch das unmündige Opfer voraus. Die geforderte Unmittelbarkeit ist auch dann zu bejahen, wenn das Opfer etwa durch Hilfsmittel oder technische Übertragungsvorgänge in die Lage versetzt wird, das Geschehen wahrzunehmen. Es kommt dabei allerdings darauf an, dass das Geschehen „live“ abläuft. Das Vorführen von Filmen erfüllt den Tatbestand nach § 208 Abs 2 StGB daher nicht (RIS Justiz RS0132177).

[7] Nach den Feststellungen führte der Angeklagte V* Mi* ihn und S* M* (die Mutter des Mädchens) unter anderem nackt bei „geschlechtlichen Handlungen bis zu vaginalem Geschlechtsverkehr zeigende Videos“ vor (US 4); die Handlungen waren demnach aufgezeichnet und für Mi* nicht unmittelbar („live“) wahrnehmbar.

[8] Der Schuldspruch ⅠⅠ./ entbehrt daher – wie der Beschwerdeführer ebenso wie die Generalprokuratur zutreffend aufzeigen – der notwendigen Sachverhaltsgrundlage für eine Subsumtion unter § 208 Abs 2 StGB.

[9] Allerdings sind die zu II./ der Anklage (ON 22) inkriminierten Taten damit – der erkennbaren Beschwerdeauffassung („Z 9 lit a“) zuwider – nicht von vornherein straflos.

[10] Nach ständiger Judikatur kann das Vorspielen oder Vorführen von pornographischen (insbesondere den Beischlaf oder dem Beischlaf gleichzusetzende Handlungen zwischen Erwachsenen zeigenden) Filmen in physischer Gegenwart eines Schutzobjekts des § 208 Abs 1 StGB eine vor diesem vorgenommene Handlung im Sinn des Abs 1 leg cit darstellen, sofern sie geeignet ist, die sittliche, seelische oder gesundheitliche Entwicklung von Personen unter 16 Jahren zu gefährden. Wenn dies in der Absicht des Täters geschieht („um dadurch … zu“), sich oder einen Dritten geschlechtlich zu erregen oder zu befriedigen, und (zumindest) bedingter Vorsatz in Bezug auf das Alter des Schutzobjekts, auf dessen Gegenwart während der Tathandlung (hier: Vorzeigen des Videos) und auf die allgemeine Eignung zur Entwicklungsgefährdung vorliegt, ist der Tatbestand des § 208 Abs 1 StGB erfüllt (vgl etwa [jeweils implizit] 15 Os 115/16z; 14 Os 108/19t; 11 Os 33/20t; 13 Os 81/21z; 11 Os 54/21g; 15 Os 35/21t).

[11] Im vorliegenden Fall tragen die Feststellungen des Erstgerichts – auch in subjektiver Hinsicht – einen Schuldspruch nach § 208 Abs 1 StGB (US 4, 6).

[12] Die Parteien wurden vor dem Gerichtstag im Sinn des § 262 StPO über die Möglichkeit einer Subsumtion nach § 208 Abs 1 StGB informiert (vgl 12 Os 123/09v; 13 Os 163/11m).

[13] Der Entscheidung waren die erstgerichtlichen Feststellungen zugrunde zu legen, nachdem eine amtswegige Prüfung keine Begründungs- oder Verfahrensmängel oder erheblichen Bedenken ergeben hatte (RIS Justiz RS0114638) und den Parteien vor dem Gerichtstag eine Frist für das deutliche und bestimmte Vorbringen solcher Einwände eingeräumt worden war.

[14] Zusammengefasst war somit der Nichtigkeitsbeschwerde teilweise stattzugeben, das angefochtene Urteil, das im Übrigen unberührt zu bleiben hatte, im aus dem Spruch ersichtlichen Umfang aufzuheben und wie dort sogleich in der Sache zu erkennen (vgl 11 Os 37/87). Im Übrigen war die Nichtigkeitsbeschwerde zu verwerfen.

[15] Bei der erforderlichen Strafneubemessung waren als erschwerend zu werten das Zusammentreffen mehrerer Verbrechen und Vergehen (§ 33 Abs 1 Z 1 erster Fall StGB), der lange Tatzeitraum (§ 33 Abs 1 Z 1 zweiter Fall StGB) und das geringe Alter der zu Beginn der Tathandlungen erst höchstens achtjährigen V* Mi* (RIS Justiz RS0090758, RS0090958), als mildernd hingegen der bisher ordentliche Lebenswandel (§ 34 Abs 1 Z 2 StGB) und der Umstand, dass es teilweise beim Versuch blieb (§ 34 Abs 1 Z 13 zweiter Fall StGB).

[16] In Anbetracht des anzuwendenden Strafrahmens von einem bis zu zehn Jahren Freiheitsstrafe (§ 206 Abs 1 StGB) und der angeführten Strafzumessungsgründe war eine dem Unrecht der Tat und der Schuld des Angeklagten angemessene Freiheitsstrafe wie aus dem Spruch ersichtlich zu verhängen.

[17] Eine bedingte Nachsicht eines Teils der Freiheitsstrafe (§ 43a Abs 4 StGB) war im vorliegenden Fall nicht möglich, weil die im Gesetz geforderte hohe Wahrscheinlichkeit spezialpräventiver Wirksamkeit angesichts von mehrfachen Angriffen am schwächeren der beiden Opfer (US 16) im vorliegenden Fall nicht gegeben erscheint.

[18] Wer jemanden durch eine strafbare Handlung zu geschlechtlichen Handlungen missbraucht, hat ihm den erlittenen Schaden und den entgangenen Gewinn zu ersetzen, sowie eine angemessene Entschädigung für die erlittene Beeinträchtigung zu leisten (§ 1328 ABGB). Bereits für verhältnismäßig geringfügige Eingriffe in deren geschlechtliche Sphäre („sexuelle Belästigung“) wäre Erwachsenen im Anwendungsbereich des Gleichbehandlungsrechts immaterieller Schadenersatz von zumindest 1.000 Euro zu gewähren (vgl § 12 Abs 11 GlBG; § 19 Abs 3 B GlBG).

[19] Vor diesem Hintergrund rechtfertigen die mehrfachen Übergriffe (I./B./, II./, III./ und IV./ [iVm mit I./B./, II./ und III./]) auf die zu Beginn der Tathandlungen höchstens achtjährige V* Mi* (US 2, 4) global durchaus den von dieser Privatbeteiligten begehrten Betrag von 7.000 Euro (ON 28 S 3). Der Einholung eines Sachverständigengutachtens, das eine weitere Konfrontation des missbrauchten Kindes mit den Vorfällen zur Folge hätte, bedurfte es nicht (§ 369 StPO; § 273 Abs 1 ZPO).

[20] Nicht im Recht ist die gegen den Ausspruch über privatrechtliche Ansprüche der T* Mi* gerichtete Berufung des Angeklagten:

[21] Das Erstgericht verpflichtete den Angeklagten, der Privatbeteiligten T* Mi* binnen 14 Tagen einen Betrag von 500 Euro zu bezahlen (US 3, 17).

[22] Mit Blick auf den einmaligen Angriff auf die zur Tatzeit höchstens zwölfjährige T* Mi* (US 1, 5, 7, 9; I./A./ und IV./ [iVm I./A./]) ist der vom Erstgericht in freier Überzeugung (§ 273 ZPO) zuerkannte Betrag keineswegs überhöht.

[23] Mit seiner Berufung wegen des Ausspruchs über die Strafe und jener gegen den Zuspruch an die Privatbeteiligte V* Mi* war der Angeklagte auf diese Entscheidung zu verweisen.

[24] Die vom Angeklagten angemeldete (ON 30), im kollegialgerichtlichen Verfahren nicht vorgesehene (§ 283 Abs 1 StPO) Berufung wegen des Ausspruchs über die Schuld, war als unzulässig zurückzuweisen.

[25] Die Kostenentscheidung beruht auf § 390a Abs 1 StPO.

Rechtssätze
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