JudikaturJustiz13Os44/21a

13Os44/21a – OGH Entscheidung

Entscheidung
14. Juli 2021

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 14. Juli 2021 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Prof. Dr. Lässig als Vorsitzenden sowie die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Mag. Michel, den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Oberressl und die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Brenner und Dr. Setz Hummel LL.M. in Gegenwart des Schriftführers Mag. Pentz in der Auslieferungssache der Liliya S*****, AZ 315 HR 65/20a des Landesgerichts für Strafsachen Wien, über den Antrag der Betroffenen auf Erneuerung des Verfahrens nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Der Antrag wird zurückgewiesen.

Text

Gründe:

[1] Mit Beschluss vom 24. November 2020 (ON 23) erklärte die Einzelrichterin des Landesgerichts für Strafsachen Wien die Auslieferung der russischen Staatsangehörigen Liliya S***** an die Russische Föderation zur Strafverfolgung wegen der im Auslieferungsersuchen vom 6. Juli 2020 beschriebenen Tatvorwürfe für zulässig.

[2] Der dagegen erhobenen Beschwerde der Betroffenen gab das Oberlandesgericht Wien mit Beschluss vom 23. Februar 2021, AZ 22 Bs 2/21m, (ON 32) nicht Folge.

Rechtliche Beurteilung

[3] Mit dem auf die letztgenannte Entscheidung bezogenen Antrag auf Erneuerung des Strafverfahrens wendet die Betroffene Verletzungen der Art 2, 3, 5, 6 und 8 MRK ein.

[4] Der Antrag ist unzulässig:

[5] Zum behaupteten Verstoß gegen Art 2 und Art 3 MRK ist vorweg festzuhalten , dass der EGMR in jenen Fällen, in denen hinsichtlich einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme sowohl eine Verletzung des Art 3 MRK als auch eine solche des Art 2 MRK gerügt wird, regelmäßig nur Art 3 MRK prüft, weil sich der jeweilige Lebenssachverhalt und die zugrunde liegenden Gefährdungen nicht voneinander trennen lassen (vgl 13 Os 150/07v mwN).

[6] Eine Auslieferung kann für den Aufenthaltsstaat eine Konventionsverletzung bedeuten, wenn die betroffene Person im Zielstaat einer Strafe oder Behandlung ausgesetzt wird, die unmenschlich oder erniedrigend und daher mit Art 3 MRK unvereinbar ist. Der Betroffene hat dabei die erhebliche Wahrscheinlichkeit einer aktuellen, ernsthaften (gewichtigen) Gefahr schlüssig nachzuweisen, wobei der Nachweis hinreichend konkret sein muss. Die bloße Möglichkeit drohender unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung reicht nicht aus. Vielmehr muss unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls ein reales, anhand stichhaltiger Gründe belegbares Risiko bestehen, die betroffene Person würde im Empfangsstaat der tatsächlichen Gefahr einer Art 3 MRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt sein (RIS-Justiz RS0123229; Göth Flemmich in WK 2 ARHG § 19 Rz 8 mwN). Die bloße Möglichkeit von Übergriffen, die in jedem Rechtsstaat vorkommen können, macht die Auslieferung hingegen nicht unzulässig (RIS Justiz RS0118200 ).

[7] Die von der Betroffenen relevierten Haftbedingungen in russischen Gefängnissen, aus welchen sie eine ihr – zufolge ihres schlechten Gesundheitszustands (dazu BS 9) – drohende gravierende Menschenrechtsverletzung ableitet, erachtete das Oberlandesgericht mit Blick auf die von der Generalstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation erteilten (ON 14 S 5 f [nicht journalisiert]), als zuverlässig eingestuften Garantien für nicht geeignet, die individuelle Gefahr einer Art 3 MRK widersprechenden Behandlung in der Russischen Föderation hinreichend konkret und schlüssig nachzuweisen, zumal eine der Erneuerungswerberin (konkret auf sie bezogene) drohende Gefahr der Misshandlung gar nicht behauptet wurde (BS 6 ff; vgl Grabenwarter/Pabel , EMRK 7 § 20 Rz 80 f).

[8] Dem hält der Antrag den – auf der Basis einer verkürzten Wiedergabe des Inhalts der Staatendokumentation des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl (vgl ON 26 S 31 f) sowie aktenfremder Prämissen zur „jüngsten menschenrechtlichen Entwicklung in der Russischen Föderation im Zusammenhang mit dem Oppositionellen Nawalny“ entwickelten – eigenen Standpunkt der Betroffenen entgegen, im Zielstaat herrsche eine Situation systematischer Menschenrechtsverletzungen, die diplomatische Zu sicherungen generell wertlos erscheinen lasse. Damit stellt er bloß die (gegenteiligen) Sachverhaltsannahmen der Beschwerdeentscheidung infrage, ohne diesbezügliche Begründungs- oder Tatsachenmängel deutlich und bestimmt aufzuzeigen (siehe aber RIS Justiz RS0125393 [T1]). Die mit dem Antrag vorgelegten (weiteren) ärztlichen Unterlagen sind als Neuerungen unbeachtlich.

[9] Die Verfahrensgarantien des Art 6 MRK können für die Entscheidung über die Zulässigkeit der Auslieferung nur dann (ausnahmsweise) Relevanz erlangen, wenn die betroffene Person nachweist, dass ihr im ersuchenden Staat eine offenkundige Verweigerung eines fairen Verfahrens („a flagrant denial of justice“) droht (RIS Justiz RS0123200 ; Göth Flemmich in WK 2 ARHG § 19 Rz 14 mwN).

[10] Eine solche Befürchtung versucht die Betroffene aus der Behauptung abzuleiten, durch eine am 6. Februar 2020 in ihrer Abwesenheit ergangene Entscheidung über die „Vorbeugungsmaßnahme als Inhaftierung“ (BS 4; ON 14 S 119 ff) sei im ersuchenden Staat bereits gegen Art 6 MRK verstoßen worden. Sie übersieht jedoch, dass Verfahren, innerhalb derer Maßnahmen im Rahmen eines Strafprozesses – wie die Verhängung oder die Fortsetzung der Untersuchungshaft – überprüft werden, nicht in den Anwendungsbereich der angesprochenen Konventionsnorm fallen. Bezieht sich diese doch unter dem strafrechtlichen Aspekt nur auf die Entscheidung über eine strafrechtliche Anklage, also über Schuld oder Nichtschuld des Angeklagten (14 Os 55/09h, 65/09d, 66/09a; RIS Justiz RS0120049 und RS0121601; Grabenwarter/Pabel , EMRK 7 § 24 Rz 27 mwN).

[11] Zum behaupteten Verstoß gegen Art 5 MRK ist darauf zu verweisen, dass – zufolge Subsidiarität des hier zu behandelnden Rechtsbehelfs (RIS Justiz RS0123350 [T1]) – insoweit ausschließlich die Bestimmungen des GRBG zur Anwendung gelangen (RIS Justiz RS0122737 [T26]).

[12] Die auf den mehrjährigen Aufenthalt der Betroffenen in Österreich und ihre hier bestehenden familiären Beziehungen zu zwei bereits volljährigen und berufstätigen Kindern (BS 8 f; vgl ON 22 S 3 f) gegründete Behauptung eines Verstoßes gegen Art 8 MRK legt nicht dar, weshalb das Beschwerdegericht die Verhältnismäßigkeit des Grundrechtseingriffs (Art 8 Abs 2 MRK; RIS Justiz RS0123230 [insbesondere T5, T8]) auf dieser Sachverhaltsbasis zu Unrecht bejaht haben sollte.

[13] Durch das nicht schon (in Übereinstimmung mit den innerstaatlichen Verfahrensvorschriften) im Instanzenzug erstattete Vorbringen, ein minderjähriges Enkelkind betreuen zu müssen, wird eine Konventionswidrigkeit der angefochtenen Entscheidung ebenso wenig aufgezeigt: Neuerungen zum Sachverhalt sind Sache der Wiederaufnahme, nicht der Erneuerung des Verfahrens (13 Os 80/16p, 92/16b; Ratz , ÖJZ 2016, 467 [Entscheidungsanmerkung]).

[14] Der Antrag auf Erneuerung des Verfahrens war daher – im Einklang mit der Stellungnahme der Generalprokuratur – schon bei der nichtöffentlichen Beratung als unzulässig zurückzuweisen (§ 363b Abs 1 und 2 StPO).

Rechtssätze
6
  • RS0122737OGH Rechtssatz

    18. März 2024·3 Entscheidungen

    Bei einem nicht auf ein Urteil des EGMR gestützten Erneuerungsantrag handelt es sich um einen subsidiären Rechtsbehelf. Demgemäß gelten alle gegenüber dem EGMR normierten Zulässigkeitsvoraussetzungen der Art 34 und 35 Abs 1 und 2 MRK sinngemäß auch für derartige Anträge. So kann der Oberste Gerichtshof unter anderem erst nach Rechtswegausschöpfung angerufen werden. Hieraus folgt für die Fälle, in denen die verfassungskonforme Auslegung von Tatbeständen des materiellen Strafrechts in Rede steht, dass diese Problematik vor einem Erneuerungsantrag mit Rechts- oder Subsumtionsrüge (§ 281 Abs 1 Z 9 oder Z 10, § 468 Abs 1 Z 4, § 489 Abs 1 zweiter Satz StPO) geltend gemacht worden sein muss. Steht die Verfassungskonformität einer Norm als solche in Frage, hat der Angeklagte unter dem Aspekt der Rechtswegausschöpfung anlässlich der Urteilsanfechtung auf die Verfassungswidrigkeit des angewendeten Strafgesetzes hinzuweisen, um so das Rechtsmittelgericht zu einem Vorgehen nach Art 89 Abs 2 B-VG zu veranlassen. Wird der Rechtsweg im Sinn der dargelegten Kriterien ausgeschöpft, hat dies zur Folge, dass in Strafsachen, in denen der Oberste Gerichtshof in zweiter Instanz entschieden hat, dessen unmittelbarer (nicht auf eine Entscheidung des EGMR gegründeter) Anrufung mittels Erneuerungsantrags die Zulässigkeitsbeschränkung des Art 35 Abs 2 lit b erster Fall MRK entgegensteht, weil der Antrag solcherart „im wesentlichen" mit einer schon vorher vom Obersten Gerichtshof geprüften „Beschwerde" übereinstimmt.