JudikaturJustiz12Os93/16t

12Os93/16t – OGH Entscheidung

Entscheidung
15. Dezember 2016

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 15. Dezember 2016 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon. Prof. Dr. Schroll als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte und die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. T. Solé, Dr. Oshidari, Dr. Michel Kwapinski und Dr. Brenner in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Oeljeschläger als Schriftführerin in der Strafsache gegen Eshref A***** wegen des Verbrechens des sexuellen Missbrauchs einer wehrlosen oder psychisch beeinträchtigten Person nach § 205 Abs 1 StGB über die Nichtigkeitsbeschwerde und die Berufung des Angeklagten gegen das Urteil des Landesgerichts Leoben als Schöffengericht vom 23. Juni 2016, GZ 34 Hv 4/16k 49, sowie über die Beschwerde des Angeklagten gegen den unter einem verkündeten Beschluss gemäß § 494a Abs 1 Z 2 und Abs 6 StPO nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Die Nichtigkeitsbeschwerde und die Berufung wegen Schuld werden zurückgewiesen.

Zur Entscheidung über die Berufung wegen des Ausspruchs über die Strafe sowie über die Beschwerde werden die Akten dem Oberlandesgericht Graz zugeleitet.

Dem Angeklagten fallen auch die Kosten des bisherigen Rechtsmittelverfahrens zur Last.

Text

Gründe:

Mit dem angefochtenen Urteil wurde Eshref A***** des Verbrechens des sexuellen Missbrauchs einer wehrlosen oder psychisch beeinträchtigten Person nach § 205 Abs 1 StGB schuldig erkannt.

Danach hat er am 1. August 2015 in H***** die an einer mittelgradigen bis schweren Intelligenzminderung leidende bzw eine intellektuelle Entwicklungsstörung unklarer Genese aufweisende Glenn P*****, somit eine Person, die wegen einer geistigen Behinderung unfähig ist, die Bedeutung des Vorgangs einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, unter Ausnützung dieses Zustands dadurch missbraucht, dass er an ihr eine geschlechtliche Handlung vornahm, indem er ihr die Strümpfe und (Unter-)Hose auszog, sich auf sie legte und sodann „allenfalls auch bis zum Samenerguss“ den analen Geschlechtsverkehr an ihr vollzog.

Rechtliche Beurteilung

Dagegen richtet sich die auf Z 1a, 3, 4, 5, 5a, 9 lit b und 10 des § 281 Abs 1 StPO gestützte Nichtigkeitsbeschwerde, der keine Berechtigung zukommt.

Die Rüge kritisiert zunächst, dass der Angeklagte bei der kontradiktorischen Vernehmung der Zeugin Glenn P***** im Ermittlungsverfahren nicht durch einen Verteidiger vertreten war, verkennt jedoch, dass diese Vernehmung (§ 165 StPO) – ungeachtet der Verlesung des darüber aufgenommenen Protokolls oder Vorführung der Ton- oder Bildaufnahmen (§ 252 Z 2a StPO) – nicht Teil der ganzen Hauptverhandlung iSd § 281 Abs 1 Z 1a StPO ist (RIS-Justiz RS0097569 [T6]; Ratz , WK StPO § 281 Rz 149 ff).

Mit der Behauptung fehlerhafter Übersetzungstätigkeit durch die nur für Französisch zertifizierte Dolmetscherin bei der kontradiktorischen Vernehmung des Tatopfers und dem Hinweis auf die Notwendigkeit der Beiziehung eines Dolmetsch für die kongolesische Sprache zeigt die Verfahrensrüge (Z 3) keinen Nichtigkeitsgrund auf, weil solcherart ein Befangenheitsgrund gemäß § 47 Abs 1 Z 1 oder Z 2 StPO nicht dargetan wird (vgl dazu Hinterhofer , WK-StPO § 126 Rz 79). Dem Angeklagten (oder seinem Verteidiger) wäre es im Übrigen freigestanden, bei Zweifeln an der Erfüllung der Dolmetscherpflichten (§ 127 Abs 4 StPO) entsprechende Anträge in der Hauptverhandlung zu stellen (vgl Hinterhofer , WK-StPO § 126 Rz 80), womit ihm zur Geltendmachung einer zu Unrecht erfolgten Abweisung derartiger Begehren die Verfahrensrüge nach § 281 Abs 1 Z 4 StPO zur Verfügung gestanden wäre.

Gleiches gilt für das weitere – ebenfalls Nichtigkeit aus § 281 Abs 1 Z 3 StPO (iVm § 126 Abs 4 StPO) relevierende – Vorbringen in Bezug auf die beigezogene kinder- und jugendpsychologische Sachverständige Mag. Ulla R*****, zumal es sich darauf beschränkt, deren Methodik in Zweifel zu ziehen und die Nichtbeiziehung eines Psychiaters zu kritisieren. Damit wird jedoch – wie dargelegt – der genannte Nichtigkeitsgrund nicht zur Darstellung gebracht ( Hinterhofer , WK-StPO § 126 Rz 71 ff).

Dem (ua) in der Vorbereitungsfrist des § 221 Abs 2 erster Satz StPO zum Ausdruck kommenden Schutzzweck, durch einen ausreichend vorbereiteten Verteidiger Fragen an den Belastungszeugen zu stellen oder stellen zu lassen (Art 6 Abs 3 lit d iVm lit b und c EMRK) ist auch dort Genüge zu tun, wo gerichtliche Beweisaufnahmen im Ermittlungsverfahren (ersatzweise) – wie etwa bei der kontradiktorischen Vernehmung eines Tatopfers – vorweggenommen werden (vgl RIS Justiz RS0097570). Entgegen dem Vorbringen der Verfahrensrüge (Z 3), wonach dem Angeklagten und seinem Verteidiger unter Missachtung von § 221 Abs 2 StPO „keine gehörige Vorbereitung […] im Hinblick auf die kontradiktorische Vernehmung“ eingeräumt worden sei, wurde die Ladung an den Angeklagten bereits am 11. August 2015 verfügt (ON 1 S 2 f), wobei das Ladungsformular (LAD 55) des Landesgerichts Leoben standardmäßig die Belehrung an den Beschuldigten enthielt, dass die kontradiktorische Vernehmung voraussichtlich die letzte Gelegenheit darstellen werde, Fragen an die Zeugin zu richten, dass im Anklagefall im Hauptverfahren notwendige Verteidigung vorliegen werde und die Möglichkeit bestehe, die Beigabe eines Verfahrenshilfeverteidigers zu beantragen. In offensichtlicher Kenntnis dieser Umstände bevollmächtigte der Beschuldigte daraufhin einen Wahlverteidiger, der das Vertretungsverhältnis am 19. August 2015 bekannt gab (ON 6). Die Ladung dieses Verteidigers zur kontradiktorischen Vernehmung wurde sodann am 20. August 2015 verfügt und durchgeführt (ON 1 S 4). Am 29. September 2015 – also zwei Tage vor dem Termin der kontradiktorischen Vernehmung – langte die Verständigung von der Vollmachtsauflösung des Wahlverteidigers bei Gericht ein (ON 15). Der Angeklagte war infolge der an ihn ergangenen Ladung (LAD 55) in Kenntnis der darin enthaltenen Rechtsbelehrung und nahm zu Beginn der kontradiktorischen Vernehmung naturgemäß wahr, dass er ohne Verteidiger war. Gleichwohl beantragte er weder die Vertagung der kontradiktorischen Vernehmung noch die Beigabe eines Verfahrenshilfeverteidigers. Von der Nichteinhaltung der in § 221 Abs 2 StPO normierten Vorbereitungsfrist kann daher keine Rede sein.

Die Verfahrensrüge aus § 281 Abs 1 Z 4 StPO entzieht sich zur Gänze einer inhaltlichen Erwiderung, weil sie sich nicht konkret auf einen in der Hauptverhandlung gestellten Antrag des Beschwerdeführers oder einen gegen seinen Antrag oder Widerspruch gefassten Beschluss bezieht ( Ratz , WK StPO § 281 Rz 302).

Mit inhaltlicher – unter Bezugnahme auf ein anderes, aktenfremdes und in der Hauptverhandlung auch nicht vorgekommenes Verfahren (das keinen Zusammenhang mit der aktuellen Strafsache aufweist) erstatteter – Kritik am Gutachten der beigezogenen Sachverständigen Mag. Ulla R***** zeigt die Rüge kein Begründungsdefizit im Sinn einer der Anfechtungskategorien des § 281 Abs 1 Z 5 StPO auf.

Dem Einwand offenbar unzureichender Begründung (Z 5 vierter Fall) zuwider wurde die subjektive Tatseite sehr wohl – logisch und empirisch einwandfrei –begründet (US 5 f). Mit Spekulationen über das Bestehen der Möglichkeit, „dass der Angeklagte eine besonders unwiderstehliche Wirkung auf Frauen ausgeübt“ hätte und er daher durchaus der Ansicht hätte „sein können und müssen, dass er in die Kategorie des 'Womanizers' fällt“, verfehlt die Rüge ebenfalls ihren gesetzlichen Bezugspunkt. Vielmehr wendet sie sich nach Art einer im kollegialgerichtlichen Verfahren nicht vorgesehenen Schuldberufung und damit unzulässig gegen die tatrichterliche Beweiswürdigung.

Im Übrigen kommt einem allfälligen Einverständnis des Tatopfers infolge der vorausgesetzten Unfähigkeit zur Selbstbestimmung grundsätzlich (zu den Ausnahmen vgl 12 Os 47/16b; Philipp in WK 2 § 205 Rz 11; Kienapfel/Schmoller StudB BTII 2 § 205) keine Bedeutung zu.

Die Tatsachenrüge (Z 5a) vermag mit eigenständigen Schlussfolgerungen aus isoliert hervorgehobenen Verfahrensergebnissen (so insbesondere diversen [zum Teil vom Erstgericht ohnehin miterwogenen] Details aus der Aussage der Glenn P***** und dem Umstand des Vorliegens einer relativ kurzen und „eingeschränkten“ Konversation zwischen dem Angeklagten und dem Opfer [bevor es zum inkriminierten Analverkehr kam]), dem Hinweis auf die „Einschätzung des Angeklagten, wonach er eine überaus provozierende Wirkung auf Frauen haben muss“, sowie der Behauptung, dass „die bloße Raschheit der Bereitschaft zum Geschlechtsverkehr keinesfalls ein Indiz für Verstandesschwäche“ sei, keine erheblichen Bedenken gegen die Richtigkeit des Ausspruchs über entscheidende Tatsachen zu wecken.

Mit Hinweisen auf bereits vor der Hauptverhandlung gestellte Anträge auf Einholung sowohl eines anthropologischen als auch eines gynäkologischen Gutachtens (einerseits zum Alter der Glenn P*****, andererseits zum Beweis dafür, dass diese bereits ein Kind gebar) und das Unterbleiben der Beiziehung eines Dolmetsch für die „kongolesisch-französische Sprache“, wodurch hervorgekommen wäre, dass das Opfer keineswegs an einer Verstandesschwäche leidet, hält die Rechtsrüge (nominell Z 9 lit b) nicht am festgestellten Urteilssachverhalt fest (US 3) und verfehlt damit den

gerade darin gelegenen Bezugspunkt materieller Nichtigkeit (RIS-Justiz RS0099810).

Eben dies gilt auch für die Subsumtionsrüge (Z 10), die unter Hinweis auf das ihrer Ansicht nach nicht verwendbare psychologische Gutachten lapidar behauptet, das Opfer leide gerade nicht an Verstandesschwäche und sei nicht wehrlos iSd § 205 Abs 1 StGB gewesen.

Die Nichtigkeitsbeschwerde war daher bereits bei nichtöffentlicher Beratung ebenso sofort zurückzuweisen (§ 285d Abs 1 StPO) wie die angemeldete (ON 50), im Verfahren vor Kollegialgerichten jedoch nicht vorgesehene Berufung wegen des Ausspruchs über die Schuld (§§ 280, 283 Abs 1 StPO). Daraus folgt die Zuständigkeit des Oberlandesgerichts zur Entscheidung über die Berufung wegen des Ausspruchs über die Strafe sowie über die (implizierte) Beschwerde (§§ 285i, 498 Abs 3 StPO).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 390a Abs 1 StPO.