JudikaturJustiz12Os51/17t

12Os51/17t – OGH Entscheidung

Entscheidung
22. Juni 2017

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 22. Juni 2017 durch den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. T. Solé als Vorsitzenden, den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Oshidari, und die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Michel-Kwapinski, Dr. Mann und Dr. Brenner in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Melounek als Schriftführerin in den Strafsachen gegen Karim M***** wegen des Verbrechens des Diebstahls durch Einbruch nach §§ 127, 129 Z 1 StGB (aF) und weiterer strafbarer Handlungen, AZ 520 Hv 85/15b und AZ 520 Hv 11/16x des Landesgerichts Korneuburg, über die von der Generalprokuratur gegen die Beschlüsse des Oberlandesgerichts Wien vom 7. September 2016, AZ 21 Bs 130/16w und AZ 21 Bs 131/16t, erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit der Vertreterin der Generalprokuratur, Generalanwältin Mag. Gföller, zu Recht erkannt:

Spruch

Die Beschlüsse des Oberlandesgerichts Wien vom 7. September 2016, AZ 21 Bs 130/16w und AZ 21 Bs 131/16t, verletzen § 263 Abs 1 StPO.

Text

Gründe:

Mit Strafanträgen vom 27. November 2015 und vom 11. Februar 2016 (ON 5 und ON 3 in ON 19) legte die Staatsanwaltschaft Korneuburg im Verfahren AZ 520 Hv 85/15b des Landesgerichts Korneuburg Karim M***** als Verbrechen des Diebstahls durch Einbruch nach §§ 127, 129 Z 1 StGB (aF) und als Vergehen der gefährlichen Drohung nach § 107 Abs 1 StGB beurteilte Verhaltensweisen zur Last. In der Hauptverhandlung am 24. Februar 2016 machte die Verteidigerin das Gericht darauf aufmerksam, dass Karim M***** wegen einer weiteren (von den Strafanträgen nicht umfassten) Straftat am 14. Februar 2016 von der Polizei als Beschuldigter vernommen worden sei (vgl ON 3 S 15 in AZ 520 Hv 11/16x des Landesgerichts Korneuburg). Dazu gab der Angeklagte an, im November 2015 in K***** einen Zigarettenautomaten aufgebrochen und daraus rund 400 Euro gestohlen zu haben (ON 27 S 17).

Anlässlich der Erörterung diversioneller Maßnahmen erklärten sich der Angeklagte und seine gesetzliche Vertreterin mit der Erbringung von gemeinnützigen Leistungen einverstanden. Die Staatsanwaltschaft sprach sich gegen die vorgeschlagene Vorgehensweise (unter anderem) mit dem Hinweis auf den nunmehr hervorgekommenen Einbruchsdiebstahl aus, äußerte sich dazu sonst jedoch nicht weiter (ON 27 S 18).

Daraufhin beschloss das Gericht die (richtig:) vorläufige Einstellung des Verfahrens gemäß §§ 198 Abs 1 Z 2, 199, 201 Abs 1 StPO gegen Erbringung gemeinnütziger Leistungen im Ausmaß von 60 Stunden.

Im Verfahren AZ 520 Hv 11/16x des Landesgerichts Korneuburg lastete die Staatsanwaltschaft Karim M***** an, am 17. November 2015 in K***** einen Zigarettenautomaten aufgebrochen und daraus Bargeld entnommen zu haben (§§ 127, 129 Abs 1 Z 2 StGB). In der darüber durchgeführten Hauptverhandlung bekannte sich der Genannte schuldig, woraufhin das Gericht den Beschluss „auf Einstellung des Verfahrens gegen Erbringung der schon beim letzten Mal bestimmten gemeinnützigen Leistungen im Ausmaß von 60 Stunden binnen sechs Monaten“ fasste (ON 9 S 5).

Mit jeweils am 7. September 2016 gefassten Beschlüssen (AZ 21 Bs 130/16w und AZ 21 Bs 131/16t) gab das Oberlandesgericht Wien den Beschwerden der Staatsanwaltschaft Korneuburg gegen die erwähnten (Diversions )Beschlüsse des Landesgerichts Korneuburg vom 24. Februar 2016, GZ 520 Hv 85/15b 26, sowie vom 7. April 2016, GZ 520 Hv 11/16x 10, nicht Folge. Den letzterwähnten Beschluss hob es aus Anlass der Beschwerde ersatzlos auf, wies den Strafantrag der Staatsanwaltschaft Korneuburg „in analoger Anwendung der §§ 212 Z 1, 485 Abs 1 Z 3 StPO“ zurück und stellte das Verfahren gegen Karim M***** hinsichtlich des Einbruchsdiebstahls vom 17. November 2015 in K***** ein. Das Beschwerdegericht ging – in beiden Beschlüssen im Wesentlichen übereinstimmend – davon aus, dass die Staatsanwaltschaft Korneuburg ihr Verfolgungsrecht im Umfang der in der Hauptverhandlung vom 24. Februar 2016 im Verfahren AZ 520 Hv 85/15b des Landesgerichts Korneuburg neu hervorgekommenen Tat aufgrund „Verschweigung“ verloren habe, weil zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung – obwohl die Kriminalpolizei bereits Ermittlungen aus Eigenem durchgeführt habe – bei der Staatsanwaltschaft noch kein Ermittlungsverfahren, das einer Verschweigung hätte entgegenstehen können, anhängig gewesen sei.

In ihrer zur Wahrung des Gesetzes erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde führt die Generalprokuratur aus:

Nicht unmittelbar aus dem Gesetzeswortlaut, wohl aber aus dem in der Information des Angeklagten darüber, ob er wegen einer ihm erst in der Hauptverhandlung vorgeworfenen, von der Anklage nicht erfassten Tat noch verfolgt werden soll, gelegenen Schutzzweck des § 263 StPO (RIS-Justiz RS0119381) erhellt, dass die in dieser Bestimmung aufgestellten Verfahrensregeln bei Beschuldigungen, die bereits Gegenstand eines anderen – gegen ihn gesondert geführten – Strafverfahrens sind, nicht zum Tragen kommen (RIS-Justiz RS0098759; vgl Lewisch , WK-StPO § 263 Rz 26). Demzufolge ist – mangels „Gerichtsanhängigkeit“ (auf diese gemäß der Rechtslage vor Inkrafttreten des Strafprozessreformgesetzes am 1. Jänner 2008 abstellend: EvBl 1966/393; RZ 1969, 101; SSt 40/13; EvBl 1974/217) des Ermittlungsverfahrens (ErläutRV 231 BlgNR 23. GP 25 [zu § 58 StGB]) – die Frage, ob der Verlust des Verfolgungsrechtes bei unterlassener Ausdehnung der Anklage auf die neu hinzugekommene Tat ungeachtet diesbezüglich sonst durch die Strafverfolgungsbehörden geführter Ermittlungen eintreten kann, unter strikter Beachtung des verfahrensrechtlichen Einheitsprinzipes (§ 1 Abs 2 StPO; vgl Markel , WK-StPO § 1 Rz 23) mit Blick auf den materiellen Beschuldigtenbegriff (§ 48 Abs 1 Z 2 StPO; vgl ErläutRV 181 BlgNR 25. GP 2 f) zu klären (vgl auch Jerabek in WK² StGB § 56 Rz 4 und RIS Justiz RS0125502 zu § 56 StGB).

Solcherart liegt eine die „Verschweigung“ in der Hauptverhandlung hindernde anderwärtige „Beschuldigung“ des Angeklagten vor, wenn zur Aufklärung eines auf Grund bestimmter Tatsachen gegen ihn bestehenden konkreten Verdachtes, diese strafbare Handlung begangen zu haben, nach dem 8. oder 9. Hauptstück der StPO Beweise schon aufgenommen oder Ermittlungsmaßnahmen angeordnet oder durchgeführt werden, gleich ob durch die Kriminalpolizei, die Staatsanwaltschaft oder das Gericht.

Für die vom Oberlandesgericht Wien – ohne inhaltliche Begründung – getroffene Unterscheidung zwischen kriminalpolizeilicher und staatsanwaltschaftlicher Ermittlungstätigkeit bleibt nach der Strafprozessordnung kein Raum. Da Karim M***** nach dem Vorbringen seiner Verteidigerin in der Hauptverhandlung zu AZ 520 Hv 85/15b des Landesgerichtes Korneuburg am 24. Februar 2016 bereits am 14. Februar 2016 von der Polizei als Beschuldigter zum Einbruchsdiebstahl in K***** einvernommen und somit diese Tat bereits in einem gesondert geführten Ermittlungsverfahren (§§ 1 Abs 2, 91 StPO) untersucht worden war, bestand für die Anklagevertreterin – entgegen der Ansicht des Oberlandesgerichtes Wien – keine Notwendigkeit zur Ausdehnung der Anklage gemäß § 263 Abs 1 erster Satz StPO.

Diese dem Angeklagten nicht zum Nachteil gereichende (§ 292 letzter Satz StPO) Gesetzesverletzung wäre festzustellen ( Ratz , WK StPO § 292 Rz 43).

Rechtliche Beurteilung

Der Oberste Gerichtshof hat erwogen:

§ 263 Abs 1 StPO bezweckt (neben verfahrensökonomischen Aspekten) die Information des Angeklagten darüber, ob und wegen welcher Taten er noch verfolgt wird (vgl RIS-Justiz RS0119381; Lewisch , WK StPO § 263 Rz 4). Aus dieser Teleologie folgt, dass sich § 263 StPO nur auf diejenigen Taten bezieht, hinsichtlich derer gegen den Angeklagten nicht schon anderwärtig ein Strafverfahren anhängig ist (vgl RIS Justiz RS0098759; Lewisch , WK StPO § 263 Rz 26; Fabrizy , StPO 12 § 263 Rz 2). Ob dieses Strafverfahren bei der Staatsanwaltschaft oder (vorerst noch) der Kriminalpolizei behängt, spielt – lege non distinguente (vgl § 1 Abs 2 erster Satz StPO) – keine Rolle.

Da vorliegend die Kriminalpolizei wegen der anderen Tat bereits Ermittlungen gegen den Angeklagten geführt hat (und diesen bereits als Beschuldigten vernommen hat; siehe ON 3 S 15 in AZ 520 Hv 11/16x des Landesgerichts Korneuburg), bedurfte es demnach keiner Anklageausdehnung nach § 263 Abs 1 StPO, sodass – in Übereinstimmung mit der Beschwerdeargumentation, aber entgegen der Auffassung des Oberlandesgerichts – auch die Rechtsfolge des § 263 Abs 2 StPO nicht eintreten konnte.

Bleibt anzumerken, dass von einer (einen Verlust des Verfolgungsrechts im Sinn des § 263 Abs 2 StPO jedenfalls hindernden) Verfahrensanhängigkeit der anderen Tat schon dann auszugehen ist, wenn insoweit gegen den (dort) Verdächtigen wegen eines Anfangsverdachts (§ 1 Abs 3 StPO) nach den Bestimmungen des 2. Teils der Strafprozessordnung ermittelt wird (§ 1 Abs 2 erster Satz StPO). Da bereits in diesem Verfahrensstadium die Informationsrechte gewährleistet sind (vgl § 48 Abs 2 iVm §§ 49 Z 1, 50 StPO), ist ein (zusätzliches) Bedürfnis des Angeklagten, in der wegen anderer Taten geführten Hauptverhandlung von weiteren, ihn betreffenden Strafverfahren unterrichtet zu werden, nicht zu ersehen.

Diese (dem Angeklagten nicht zum Nachteil gereichende) Gesetzesverletzung war gemäß § 292 StPO festzustellen.